Der 70. Geburtstag naht – Zeit, in alten Papieren zu kramen. Und plötzlich taucht die ex-enemy card auf, jener Ausweis, auf dem ich aus Versehen ein Jahr älter bin (tatsächlich bin ich 1941 geboren). Auf der Flucht aus Oberschlesien waren meine neunjährige Schwester Irene und ich im Mai 1945 von unserer Mutter getrennt worden. Allein schlugen wir uns durch das Mühlviertel in Österreich bis zur Donau durch, um die amerikanische Besatzungszone zu erreichen. Unvergesslich bleibt mir, wie mich an der Grenze zwischen dem russischen und dem amerikanischen Sektor ein russischer Wachtposten (wohl zum Spaß) festgehalten hat, was meine Schwester zu einem mörderischen Gebrüll veranlasste. Ein amerikanischer Wachtposten eilte herbei und befreite mich aus der „russischen Gefangenschaft“ – vielleicht ein Grund dafür, dass sich im Laufe meines Lebens beständige Freundschaften mit einigen Amerikanern entwickelt haben. Meine Schwester und ich verbrachten die elternlose
Zeit dann in einem österreichischen Fürsorgeheim, und als der Suchdienst des Roten Kreuzes unsere Eltern gefunden hatte, wurden wir mit dem im November 1946 ausgestellten Ausweis über die Grenze bei Passau nach Bayern geschickt, wo uns zu Ostern 1947 unsere Eltern endlich wieder in die Arme schließen konnten.
Die Aufnahme habe ich im Bahnhof von Büchen (Schleswig-Holstein) gemacht. Er soll in Kürze abgerissen werden und sieht entsprechend trostlos aus. Der Spruch ist ein kleiner Lichtblick. Sein Sprachwitz erschließt sich, auch wenn man den Umbau eines Kopfbahnhofs in einen Durchgangsbahnhof anders als die Berliner Mauer als Zukunftsinvestition bewertet. Der Autor hat den Ausspruch Walter Ulbrichts, nur zwei Wochen vor dem Bau der Berliner Mauer, fälschlicherweise Erich Honecker zugeordnet, was mir im Jahr 20 der deutschen Einheit verzeihlich scheint, und den Vornamen Erich auf ironische Art mit dem Nachnamen des Bahn-Chefs verbunden. Als ich die Aufnahme machte, fragte mich ein junger Türke, was ich daran interessant fände. „Ach ja, Stuttgart 21!“, sagte er dann selbst. Ich erzählte ihm von Walter Ulbricht und dem Bau der Berliner Mauer. So kamen wir ins Gespräch.
Christel Happach-Kasan, Bundestagsabgeordnete der FDP, Bäk, Schleswig-Holstein
Demnächst werde ich in eine kleinere Wohnung ziehen, und um zu erkunden, ob es sich lohnt, mein Klavier mit umzuziehen, habe ich nach fast 60 Jahren erneut Klavierstunden genommen. Beim Durchstöbern der alten Noten fand ich das Aufgabenbüchlein für meine ersten Klavierstunden in den Jahren 1948 bis 1950. Es hat sieben Umzüge quer durch Deutschland überstanden und ist eine berührende Erinnerung an meine Eltern: Als ausgebombte Flüchtlinge, deren winzige Untermietwohnung zum Teil noch mit Apfelkisten möbliert war, haben sie doch ein Klavier angeschafft und brachten jeden Monat 25 Mark für den Unterricht auf. Mein Entschluss steht fest: Ich werde das Klavier mitnehmen.
Als ich kürzlich mein Arbeitszimmer aufräumte, ist mir dieser Ausweis wieder in die Hände gefallen. Mein Onkel hatte ihn fünfzehn Jahre zuvor mit den Worten übergeben: „Du interessierst dich doch für Zeitgeschichte! Du bist der richtige Aufbewahrungspartner für dieses Dokument.“ 1946 war mein Onkel nach einjähriger US-Kriegsgefangenschaft nach Zwickau zurückgekehrt und hatte 1947 bei der SDAG (Sowjetisch-deutschen Aktiengesellschaft) „Wismut“ als Radiometrist angefangen. Seine Aufgabe: Uranerzlager für die sowjetischen Atombomben zu suchen. Mit 64 ging er in Rente und ist 1999 qualvoll an den Folgen der jahrelangen Uranstrahlung gestorben.
Rechtzeitig vor Weihnachten habe ich es gefunden: das Rezept aus dem Kochbuch meiner Urgroßmutter, das sie wiederum von ihrer Großmutter hatte, also von meiner Urururgroßmutter. Also muss es ungefähr aus dem Jahr 1870 stammen. Aus Neugier habe ich (20, Studentin) das 140 Jahre alte Rezept einmal ausprobiert. „200 Gramm Butter, ¼ Pfund Zucker, ¾ Pfund Mehl“ – das war ja einfach. Doch an der Angabe „für 10 Pfennig Schokolade“ wäre ich beinahe gescheitert, wenn mir nicht meine Großmutter nach einigem Überlegen geraten hätte, 100 Gramm Raspelschokolade zu verwenden. Also alles mit 1 Ei und etwas Zimt auf einem Nudelbrett abkneten, Brezeln formen, diese mit Eigelb bestreichen und bei mäßiger Hitze backen – es ist tatsächlich gelungen!
Im Herbst 1979 habe ich meinem Sohn Stefan, damals 5 Jahre alt, von der Arbeit aus Basel kommend, ein Stofftier mitgebracht: ein Affe im roten Jäckchen. Von dem Tag an ging er nicht mehr ohne seinen „Affi“, der nie einen anderen Namen hatte, ins Bett. Ja, er konnte nur einschlafen, wenn Affi unter seinem Kopf lag. Das Kuscheltier musste natürlich auch mit in die Ferien und war ein unentbehrlicher Begleiter durch die ganze Kindheit. Im November hat er nun in Berlin geheiratet. Ich durfte ein paar Tage die zwei Kätzchen hüten, die Jungvermählten waren verreist. Man hatte mir das Bett im Schlafzimmer hergerichtet. Und wie ich die Bettdecke aufschlage, liegt da – Affi. Er hat all die Liebkosungen einer Kinderseele, aber auch alle Umzüge danach erstaunlich unbeschadet überstanden (Schweizer Qualität). Und wird offenbar noch immer so geliebt und behütet wie vor 31 Jahren.
Als Zehnjähriger hatte ich mir heimlich Schlittschuhe untergeschnallt, um mit Freunden über die zugefrorene Sieg zu laufen. Dabei riss eine Schuhsohle ab, mitsamt Schlittschuh. Weil der Dorfschuster völlig überlastet war, musste bzw. durfte ich am nächsten Tag zu Hause bleiben. Ein zweites Paar Winterschuhe hatte ich nicht.
In einer Blechdose mit Erinnerungsstücken fand ich einen zusammengefalteten Zettel: einen Aufsatz unseres Sohnes, den er in der zweiten Klasse in der Grundschule Oberwesel schrieb und über den wir uns seinerzeit köstlich amüsierten. Von einem Klassenausflug in den Frankfurter Zoo war ihm ausgerechnet diese Szene in so guter Erinnerung geblieben, dass er sie dann in einem Aufsatz verarbeitete. Heute wohnt unser Sohn mit Frau und zwei Kindern nahe Bonn und arbeitet in Köln. Während häufiger Ausflüge zu Bauernhöfen in der Umgebung mit kleinem Streichelzoo versucht er, Karl (4) und Frieda (1) die Tierwelt nahezubringen. Übrigens: Mein Mann und ich fanden den Verbesserungsvorschlag“ der Lehrerin schon damals nicht überzeugend.
Annelore Perscheid, Urbar (direkt gegenüber der Loreley)
Ich hatte mein Handy im Zug liegen gelassen. Zu dumm! Vier Tage lang wählte ich immer wieder meine eigene Nummer, aber niemand antwortete. Als meine Hoffnung schon schwand, klingelte das Telefon. Ein Mitarbeiter der Bahn sprach von einem „Fundgegenstand“ und fragte mich nach meiner Anschrift. Zwei Tage später hatte ich das Handy wieder. Sogar der Akku hatte noch Strom. „Ich hab mich so erschrocken, bis ich bemerkt habe, dass das Päckchen klingelt“, sagte die Frau vom Blumenladen, die für die ganze Straße die Warensendungen entgegennimmt. Ich umarmte meine Blumenfrau und in Gedanken alle ehrlichen Menschen dieser Welt.
Beim Aufräumen habe ich kürzlich dieses Foto aus den achtziger Jahren gefunden. Die Vorgeschichte: In Marburg gab es ein stadtbekanntes Original, einen Teppichverkäufer. Jeder kannte ihn, weil er immer nur vor seinem Laden in einem eingeschossigen Gebäude saß. Eines Tages starb der Herr, der Laden blieb geschlossen, und ein Kunde, der offenbar nicht Bescheid wusste, malte die Aufforderung an die Tür, doch wieder zu öffnen. „Geht nicht, bin tot“, schrieb ein weiterer Kunde darunter. Als Architekt habe ich derzeit an genau dieser Stelle ein Bauvorhaben: Das alte Gebäude wird durch einen Neubau ersetzt. So spielt die Zeit.