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Wiedergefunden: ein Buch vom Vater

Es ist 63 Jahre her, da schickte mir mein Vater aus der englischen Kriegsgefangenschaft ein ganz besonderes Geschenk zum fünften Geburtstag: ein selbst verfasstes kleines Buch, denn auch Kinderbücher waren damals rar. Im darauffolgenden Jahr wurde er entlassen, die britische Armee hatte in Hamburg eine erste Friedensverwendung für den ehemaligen Berufssoldaten, und so musste sich unsere Mutter, die schon vom Erzgebirge nach München geflohen war, mit drei Kindern (drei, fünf und sieben) ein weiteres Mal auf den Weg machen – zur Familienzusammenführung.

Seither fühle ich mich Hamburg verbunden, lebe den vereinigten europäischen Gedanken inzwischen von Darmstadt aus und möchte mit dieser Erinnerung den jüngeren Generationen ans Herz legen, bei den Themen Konflikte, Krieg, Kampfeinsätze oder Landesverteidigung immer daran zu denken, dass es auch um Kinder und Familien geht.

Wolf-Dieter Zorn, Darmstadt

 

Wiedergefunden: Die Endspielkarte

Nacht in einer deutschen Provinzstadt der siebziger Jahre: Polizisten umstellen eine kleine Ladenpassage von beiden Seiten. Nachbarn haben angerufen und verdächtige Gestalten gemeldet, die sich dort zusammengerottet hätten. Die Polizei bewegt sich vorsichtig, auf den Ernstfall vorbereitet, auf die Verdächtigen zu und verlangt eine
Erklärung. Nach einem Moment ungläubigen Staunens löst sich alles in Gelächter auf: Die Verdächtigen stehen vor der einzigen Verkaufsstelle der Stadt, in der es am nächsten Tag Karten für die bevorstehende Fußballweltmeisterschaft gibt, darunter Endspielkarten, 62 insgesamt, höchstens zwei pro Person. Mit einem Studienfreund war ich unter den Verdächtigen, sah das legendäre Spiel BRD – Niederlande (2 : 1), und bei einer Aufräumaktion ist das gute Stück, rechtzeitig zur WM, jetzt wieder aus der Versenkung aufgetaucht.

Werner Schäfer, Trier

 

Wiedergefunden: ein sehr deutsches Schild

Ein Bild aus den Zeiten der Analogfotografie, entstanden im Jahr 2001 auf meiner ersten Rucksackreise durch Lateinamerika: Ich konnte kaum Spanisch, war sehr jung, voller Erwartungen und ziemlich überfordert von der neuen Welt. Im Nirgendwo zwischen Argentinien und Chile, nahe dem kleinen Bergstädtchen Uspallata, machte ich diese Aufnahme.

Ich dachte ja immer, die Deutschen würden es mit den Regeln etwas übertreiben. Aber hier, am Fuß der Anden, inmitten endloser Abgeschiedenheit und Hunderte Kilometer von der nächstgrößeren Stadt entfernt, stand ein einsames Schild, und auf diesem einsamen Schild stand: „Destruir señales es un delito“ – Schilder zu zerstören ist ein Vergehen. Wie klein schien die Welt, wie widersprüchlich und seltsam. Ich konnte nur noch lachen: Willkommen zu Hause!

Tina Weber, Jena

 

Wiedergefunden: das Kinderjäckchen

Mit unserer sechsjährigen Tocher fuhren wir auf der Route Nationale durch Burgund in Richtung Mittelmeer. Gegen Mit­tag hielten wir irgendwo an der Straße, aßen in einem kleinen Restaurant neben einer Tankstelle und fuhren weiter, unserem Ferienort entgegen. Nach drei Wochen Urlaub ging es auf derselben Route zurück, und als unser Benzinvorrat zur Neige ging, steuerten wir durch Zufall wieder genau dieselbe Tankstelle an. Als wir an der Zapfsäule ausstiegen, kam aus dem daneben liegenden Res­taurant die Patronne, winkte mit einem Kinderjäckchen und rief: „Ich wusste es ja, Sie würden kommen, um Ihr Jäckchen abzuholen. Ich habe es für Sie aufgehoben!“ Wir waren sprachlos. Es war das Jäckchen unserer Tochter. In den heißen Wochen am Meer hatten wir es nicht gebraucht und es noch nicht einmal vermisst.

Sigrid Yassami, Neunkirchen, Saarland

 

Wiedergefunden: eine Widmung

„Wir müssen das Loslassen lernen.“ Mit diesem Satz aus der Hospizbewegung lebe ich schon länger. Eines Tages vermisste ich ein Buch. Es war mir besonders wichtig. Nicht nur wegen seines bewegenden Inhalts. Ich wollte vor allem die Widmung noch einmal lesen, die mir eine inzwischen verstorbene Hospizfreundin, eine Franziskaner-Ordensschwester, hinein geschrieben hatte. Ich fand das Buch nicht. Doch ich blieb zuversichtlich. Und dieser Tage, als ich dem Bedürfnis folgte, einige Sachbücher neu zu ordnen, hatte ich das Buch plötzlich in der Hand.

Ich schlug den Deckel auf und las: „Zur Erinnerung an unseren gemeinsamen Weg und unser Ziel.“ Ich bin froh, dass das Buch wieder da ist. Als Mutmacher auf dem letzten Weg. Und mit der Erinnerung an das Ziel, auf das wir zugehen.

Heinz Gronewold, Ganderkesee

 

Wiedergefunden: Der Brilliant

Kurz bevor meine Mutter starb, vermachte sie mir ihren Brillantring, den sie selbst von ihrer Mutter geerbt hatte. Nach ihrem Tod trug ich ihn jeden Tag und dachte an meine Mutter. Jeden Morgen freute ich mich über das Leuchten und Funkeln des wunderbar geschliffenen Steines. Doch eines Tag bemerkte ich, dass der Brillant aus der Fassung gefallen war! Traurig musste ich Abschied nehmen von diesem besonderen „Generationen-Ring“. Ich ging davon aus, dass ich den Stein im Garten verloren hatte.

Einige Zeit später wollte ich das Bettchen unseres Enkels neu beziehen und nahm dazu die Bettdecke heraus. Wochenlang hatte ich dieses Bett nicht mehr angerührt. Und da: Wie auf einem Präsentierteller lag auf der rot bezogenen Matratze, in der Morgensonne funkelnd, mein Brillant! Ein Gottesgeschenk! Ich bin klug genug, an Wunder zu glauben. Immer wieder wärmen mich Dankbarkeit und Staunen beim Anblick dieses Ringes. Irgendwann einmal wird er die Hand meiner Tochter schmücken.

Marianne Schwarz, Seelze

 

Wiedergefunden: Ein Blumenbuch-Schatz

Seit August 1961 führte mich mein Weg täglich vom Bahnhof Friedrichstraße zur Landwirtschaftlich-Gärtnerischen, der „Mist-Fakultät“ der Humboldt-Uni in der Invalidenstraße. Und dann eines Tages unterwegs eine Überraschung: im Antiquariat – ein Westbuch! Werkformen der Blumenbinderei von Moritz Evers. Welch überzeugende, schnörkellose Gestaltungsideen für Blumen! Der Funke schlug sofort ein in die Gärtnerseele.

1990 startete ich im überfüllten Zug gen München und sah die erste Ausstellung Weihenstephaner Werkformen der dortigen Fachschule für Blumenkunst, deren Leiter Moritz Evers gewesen war. Daraus entwickelte sich eine fachlich-freundschaftliche Verbindung; die Blumenbinder-Lehrkräfte der neuen Bundesländer wurden in Fortbildungen tatkräftig aus Bayern unterstützt. 2010 feiert Weihenstephan das 60-jährige Jubiläum der Fachschule. Glückwunsch! Und alles hatte 1962 für mich mit diesem Buch begonnen.

Almut Staude, Glindow nahe Potsdam

 

Wiedergefunden: ein griechisches Gedicht

Es wird in Deutschland zurzeit viel über Griechenland gesprochen, es wird über die griechische Kultur geurteilt, aber stets aus dem Blick ökonomischer Leistungen. Als Literaturwissenschaftlerin bin ich im Rahmen meiner Doktorarbeit zur visuellen Poesie im griechischen Kulturraum auf folgendes Figurengedicht gestoßen, ein Pyramidengedicht von Ntinos Siotis, in Athen am 22. Juli 1996 geschrieben, 1999 in seiner Gedichtsammlung Mouseion Aeros veröffentlicht und hier zum ersten Mal übersetzt:

Wie uns die Fremden sehen

Wie sehen uns die Fremden?
Sehen uns die Fremden?
Sehen die Fremden?
Die Fremden?
Fremde?

Die Zeilen nehmen jeweils um ein Wort ab, jeder Vers bekommt hierdurch seine eigene Betonung und Bedeutung. „Wie sehen uns die Fremden?“ – nicht nur ein Anstoß zum Nachdenken über das „Wie“, sondern auch ein Nachdenken über den Begriff des „Fremden“ in der so schön als „Europäische Union“ bezeichneten Gemeinschaft.

Lilia Diamantopoulou-Hirner, München

 

Wiedergefunden: eine Liebeserklärung

Unser Nachbar ist ein großer Liebhaber und Sammler von allem Alten. Eines Tages brachte er aus einem Antiquitätenladen in Goslar einen aus Bronze gegossenen Hund mit, ein sehr schönes, dekoratives Stück. Er machte sich an eine gründliche Reinigung, schraubte die Bodenplatte ab, auf der der Hund stand und – fand zu seinem Erstaunen im Hohlraum einen vergilbten Zettel, auf dem etwas in Sütterlinschrift stand. Und weil er es nicht lesen konnte, kam er zu mir. Auf dem Zettel hieß es:

Josephine! Wenn der Zufall einst Dir diese Zeilen zu Gesicht bringt, so wisse, dass ich Dich lieben werde, bis mein Herz hört auf zu schlagen. Du vernichtest mit nur einem Schlage mein Dasein, aber ich kann Dich nicht hassen, der Gedanke an Dich foltert mich Tag und Nacht. Am liebsten möchte ich sterben, dann wär’s mit einmal still.
Berlin, am 2. Mai 1875. Julius Fleischer

Der Inhalt dieses Briefes wird sein Geheimnis wohl nie preisgeben. Aber eines ist sicher: Die Frau, der diese Zeilen galten, hat sie nie gelesen.

Brigitte Becker, Lutherstadt Eisleben

 

Wiedergefunden: Comic gegen Missbrauch

Wir lesen zurzeit viel über Priester, die es mit der Würde des Menschen nicht so genau nehmen. Da fiel mir kürzlich ein Buch wieder in die Hände, in dem dieses schwierige Thema auf gänzlich unorthodoxe Weise verarbeitet wird: das autobiografische Werk Warum ich Pater Pierre getötet habe von Olivier Ka, eine Arbeit aus der Graphic-Novel-Szene. Ka setzt sich mit einer Missbrauchserfahrung in seiner Kindheit auseinander und befreit sich so von dem Trauma, das sein ganzes Leben zu zerstören drohte. Der Zeichner Alfred hat das in eindringliche Bilder übersetzt. In dieser Geschichte ist es der kumpelhafte Pater Pierre, der Olivier verführen will. Déjà vu? Der Tod des Pater Pierre ist dort übrigens nur symbolischer Art und nicht etwa ein Aufruf zur Selbstjustiz. Doch so soll es sein: Lassen wir die Patres sterben und verschwinden, die Anvertrauen mit dem Recht auf Missbrauch verwechseln!

Matthias Burzinski, Bonn

(Das Buch von Olivier Ka ist im Carlsen-Verlag erschienen)