Von 1929 bis 1931 betrieben meine Großeltern eine Gastwirtschaft im Berliner Bezirk Pankow. Mein Großvater kam aus dem Rheinland und hatte eine wunderschöne Stimme. Eigentlich wollte er Opernsänger werden und hatte auch die Aufnahmeprüfung an der Berliner Musikhochschule bestanden. Aber die Armut zwang ihn, die Ausbildung abzubrechen und Unterhaltungsengagements in diversen Etablissements anzunehmen. Er sang auch Selbstkomponiertes und zog mit meiner Mutter (Jahrgang 1926) singend und Akkordeon spielend um die Häuser. Meine Oma, die aus Riga stammte, als Hutmacherin nach Berlin gekommen war und hervorragend kochen konnte, hatte dann die Idee, ihrer beider Fähigkeiten zu verbinden. Sie pachteten das auf dem Foto abgebildete »Conzert-Restaurant« und nannten es »Zum Rheinischen Sänger«. Auf dem Foto aus dem Jahr 1941 posiert mein Opa mit 41 Jahren vor dem Haus, das es heute noch gibt – allerdings ohne Vorgarten. Auf der Rückseite ist das Foto gestempelt mit Adresse (»Wollankstraße 115«) und der Pankower Telefonnummer 324. Meine Mutter erzählt, wie ihre Mutter bis spät in die Nacht Stammgäste bediente und ihre berühmten Buletten briet. Diese wurden gerne für ein paar Groschen zum Pils verspeist, häufig jedoch nicht bezahlt (sondern angeschrieben), weil meine Oma sehr gutmütig war und mein Opa längst im Bett. Als die Wirtschaftskrise immer drückender wurde, mussten sie die Kneipe verkaufen. Am Fensterstuck ist das Haus gut zu erkennen. Ich stand vor ein paar Wochen davor und ließ mich ablichten.
Seit Jahren beziehe ich hier in Neuseeland die ZEIT und tue mich schwer damit, alte Exemplare einfach ins Altpapier zu geben. In diesem verregneten Sommer, zwischen Weihnachten und Neujahr, habe ich nun angefangen, Pappmaschee-Puppen zu fertigen. Abgesehen von der Versiegelung, bestehen die Köpfe zu hundert Prozent aus ZEIT und die letzte farbige Lage aus ZEITmagazin – weil’s so schön glänzt … Es ist eine kleine Kompanie entstanden, und jede Puppe hat eine Geschichte: Der Philosoph hat einen Traum, und das deutsche Mädel grüßt Hannah Höch (die Flagge auf der Stirn stammt allerdings aus einem Artikel über Havanna). Die Hexe hat es mir besonders angetan, da ihre Zähne noch den Schriftzug des Magazins erkennen lassen (ganz eindeutig: der Zahn der ZEIT). Die Gesichtshaut besteht aus dem Titelblatt der Ausgabe 52/10, einem superschönen Bild von Michael Sowa. Als ich heute den Rest des reichlich zerfledderten Magazins fotografierte, fiel mir die Frage im Inhaltsverzeichnis auf: »Muss ich mich über selbst gebastelte Weihnachtsgeschenke besonders freuen?« Wie passend!
Eine lange Zeit ist vergangen. Aber wir haben es geschafft: Nach 41 Jahren haben wir Schülerinnen der Klasse 10a der Essener Elsa-Brändström-Schule aus den Jahren 1965 bis 1970 uns wiedergesehen. Das heißt, natürlich nicht alle, denn es ist gar nicht so einfach, Ehemalige zu finden. Und wir hatten uns tatsächlich 41 Jahre lang nicht gesehen. Als wir dann alte Fotos anschauten, entdecken wir ein Bild aus dem Jahr 1970. Es zeigt Rita, Marina, Helga und Elke bei unserer Abschlussklassenfahrt nach Tauberbischofsheim. Natürlich hätten wir die vier nicht mehr an demselben Ort aufnehmen können. Aber die Freude über das Miteinander konnten wir wiederaufleben lassen. Nach 41 Jahren also sitzen Rita, Marina, Helga und Elke wieder nebeneinander. Das Foto zeigt unser aller Freude, uns wiederzusehen, über alte Zeiten zu sprechen, Erinnerungen aufleben zu lassen und viel zu lachen – so wie in alten Zeiten. Vielleicht finden wir auf diesem Weg ja weitere »Mädchen « aus der »Elsa« – Abschlussjahrgang 1970!
Hier sehen Sie ein Bild vom Winter 2010 und eines vom Sommer 2011. Direkt gegenüber unserer Wohnung konnten wir ein halbes Jahr lang den sogenannten Rückbau von Halle live miterleben. Die Vibrationen der Presslufthammer holten uns jeden Morgen um sieben unsanft aus dem Schlaf, selbst am Samstag. Doch es war auch interessant zu sehen, wie dieses Monstrum an Platte Stockwerk für Stockwerk abgetragen wurde. Ich habe mir sogar ein Fernglas besorgt, um die Bauarbeiter in schwindelerregender Höhe besser beobachten zu können. Nur manchmal vermisse ich heute die untergehende Sonne, die sich früher in den Kacheln des Plattenbaus spiegelte.
Gerne suche ich die Standorte der Maler auf, von denen ich Bilder habe oder kenne. Meistens gelingt das nicht vollständig. In diesem Fall aber war es umgekehrt und gelang ohne mein Zutun fast perfekt. Im August 2010 nahm ich in Svolvær, dem Hauptort der Lofoten in Norwegen, die Aussicht nach Store Molla auf. Im April 2011 fand ich auf einer Auktion das Bild des Berliner Malers Hermann Eschke, der im August 1887 offenbar an derselben Stelle gestanden hatte.
1950 lebte ich als Erstklässlerin mit meinen Eltern in Berlin. Ein großes Ereignis in diesem Jahr war unser Familienurlaub in Oberhof, Thüringen. Als wir fast 60 Jahre später auf einer Fahrt nach Berlin überraschend eine neue Route wählten und das Ortsschild »Oberhof« auftauchte, stand mir sofort wieder das Bild vor Augen, wie ich damals auf einem Bronze-Hirsch in der Ortsmitte reiten durfte. Wir fuhren nach Oberhof hinein und fanden das Denkmal unverändert vor. Ich wagte es nicht mehr, mich auf den Rücken des Tieres zu setzen, aber die Erinnerung an glückliche Kinderferien vor fast sechzig Jahren war sehr schön!
Das erste Bild zeigt meine Mutter vor ihrem Elternhaus im Kreis Grünberg in Schlesien (heute Zielona Góra/Polen). Als mittlere von fünf Töchtern wuchs sie hier auf, musste nach Ende des Zweiten Weltkriegs das Haus jedoch mit der Familie verlassen, da das Gebiet Polen zugeschlagen wurde. Umgekehrt wurde Polen im östlichen Teil verkleinert und einer dort ansässigen Familie dann das Elternhaus meiner Mutter zugewiesen. Ihr ganzes weiteres Leben begleitete meine Mutter der Wunsch, das Elternhaus einmal wiedersehen zu können. Nicht lange nach der Wende wurde dieser Wunsch Wirklichkeit: Von einem Verwandtenbesuch in den neuen Bundesländern war es lediglich ein Tagesausflug. Vor meiner Mutter hatte bereits eine ihrer Schwestern das Haus besuchen wollen, war dabei aber vom Hof gejagt worden. Klar, die Bewohner konnten ja nicht wissen, was sie auf ihrem Anwesen wollte.
Meine Mutter war besser vorbereitet. Sie hatte von Bekannten einen Brief auf polnisch verfassen lassen, aus dem hervorging, dass sie dort früher
gelebt hatte, das Haus gerne einmal wiedersehen würde, es aber nicht zurück haben wolle. Mit einem zusätzlichen kleinen Gastgeschenk war das Eis gebrochen und das polnische Paar ließ sie das komplette Haus anschauen. Zum Abschluss luden die Hausbesitzer meine Mutter (und alle Mitreisenden) noch zum Kaffee ein. Wie man sieht, hat der Baum neben der Haustür mächtig zugelegt, ansonsten ist fast alles beim Alten geblieben. Inzwischen ist das polnische Paar leider verstorben, meine Mutter ist jetzt fast 85 Jahre alt und lebt heute in Paderborn.
Das linke Bild zeigt unseren Vater im Jahre 1991, an seinem sechzigsten Geburtstag umringt von seinen acht Enkelkindern, die zwischen 1980 und 1990 geboren sind. Wie die Orgelpfeifen sind sie platziert worden, und die teilweise skeptischen Blicke verraten, was sie von dieser Inszenierung halten. Welch fröhliche Gesichter zwanzig Jahre später! Das rechte Bild entstand bei Großvaters achtzigstem Geburtstag, und in der gleichen Anordnung wie 1991 sehen wir acht junge Menschen, die offensichtlich auch ihren Platz in der Welt gefunden haben. Was kann man sich als Tochter und Mutter noch mehr wünschen?
1964 bereiste mein Großvater Alfred Hesse die Mongolei und brachte eine Vielzahl von Zeichnungen und Skizzen mit. Seine spannenden Geschichten von wilden Reitern und mystischen Tempeln begeisterten uns Enkelkinder. 41 Jahre später, noch immer seine Worte im Kopf, kam ich selbst in dieses wunderbare Land. Viel hat sich nicht verändert, und an so mancher Stelle entdeckte ich ein mir vertrautes Motiv. Unmittelbar in der Nähe des Gandan-Tempelkomplexes in Ulan Bator befindet sich ein Tempel, der eine Statue des Megdshid Dshanrajsig beherbergt. 1913 eingeweiht, symbolisiert die Skulptur die Unabhängigkeit der Mongolei. 1938 demontierten die Russen den Buddha im Zuge der antilamaistischen Ausschreitungen. Anfang der neunziger Jahre wurde eine Kopie der Statue angefertigt und 1996 am ursprünglichen Ort aufgestellt. Interessanterweise sieht man kleine Unterschiede zwischen dem alten, 1964 gezeichneten, und dem neuen, 2005 fotografierten Dach des Tempels. Auch die Jurten vor dem Gebäude sind verschwunden.
Unser größtes Glück heißt Jakob. Gerne akzeptieren meine Frau und ich dafür unseren durcheinandergebrachten Tagesablauf, die durchwachten Nächte und den nie kleiner werdenden Wäscheberg. Als wir vor Kurzem ein altes Fotoalbum durchblätterten, fiel uns ein Foto in die Hände, das mich als Baby in einem Strampler im Achtziger-Jahre-Stil zeigt. Da erinnerten wir uns, dass uns dieser Strampler kurz zuvor erst begegnet war, als wir alles für Jakobs Ankunft vorbereitet hatten. Meine Mutter hatte uns einen großen Karton voller Klamotten geschenkt, und tatsächlich: Darunter befand sich ebenjener Strampler von damals. Nun passt er Jakob wie angegossen, und wir mussten sofort ein Foto schießen. Wir werden sehen, ob dieser Strampler noch eine weitere Generation (oder sogar noch mehr) durchhält. Schön wäre es! In vielen Familien ist es Tradition, Schmuckstücke wie Uhren von Generation zu Generation weiterzugeben. Wir fangen erst einmal ganz bescheiden mit einem Strampler an …