Zu Ostern 1991 kaufte ich meinem Sohn Christian eines von vielen bunten Spielzeugen: Was ich früher nicht hatte, sollten meine Kinder alles haben. Ich verwahre den Plastikbagger noch heute. Christian starb im Dezember vor sechs Jahren an einer Lungenentzündung, noch keine 18 Jahre alt. Hilflose Ärzte in drei Kliniken bemüh ten sich 38 Tage lang um ihn, vergeblich. Zu Weihnachten haben wir Christian damals be stattet, es war mein letzter Gang zusammen mit meiner Familie. »Das Leben geht weiter!«, sagen die Euphe misten und diejenigen, die Ostern noch im ursprünglichen Sinn zu feiern glauben. Das stimmt aber nicht. Christian hinterließ eine Leere, die nichts und niemand füllen kann.
Im Sommer 1979, als wir etwa zehn Jahre alt waren, begannen drei Freunde und ich in Heiligendorf bei Wolfsburg eine Bude zu bauen, die im Laufe der Jahre zu einem kleinen Fort wuchs, mit Schlafraum, Küche, Innenhof und später sogar einem Hühnerstall. Wir waren die »Dorfbande« und verbrachten viel Zeit in unserer Bude mit Lagerfeuer, Übernachten, und diversen Abenteuern. Es war ein Paradies für uns Jungen und über viele Jahre unser »Lebensinhalt«. Als wir aus dem Alter herausgewachsen waren, begann die Bude langsam zu verfallen. Im Sommer 1992 beschlossen wir, ein großes Begräbnisfest zu feiern und zündeten die Reste der Bude an. Als Andenken an »Die Bude« setzten wir ihr einen Gedenkstein mit unseren vier Namen. Im Mai 2009 trafen wir vier uns wieder und gedachten unserer Bude.
Das Bild aus dem Jahr 1953 erinnert mich immer an Gustav Schwabs Gedichtanfang »Urahne, Großmutter, Mutter und Kind in dumpfer Stube versammelt sind«: Es zeigt mich mit meiner Mutter, meiner Großmutter und meiner Urgroßmutter. Entstanden ist es bei einem der seltenen Besuche in der Lausitz, wo Oma und Uroma wohnten, während ich mit meiner Mutter in Stuttgart lebte. Auch heute sind Familien getrennt: In der Mitte des neuen Bildes sind meine Enkelin und meine Tochter zu sehen, deren Beruf sie in den Norden Deutschlands verschlagen hat. Aufgenommen wurde es anlässlich des ersten Besuchs bei Oma (rechts) und Uroma (links).
Diese Bilder zeigen die Ernst Moritz Arndt Sicht auf die Kreideküste der Insel Rügen. Erstaunlicherweise schafft es der einzelne Baum an der Kante seit Jahren immer wieder auf unsere Familienfotos – und jedes Jahr steht er etwas schiefer da. Schon als Kinder fragten wir uns jedes Mal gespannt: »Ob wohl der Baum noch da steht?« Und auch nach 21 Jahren steigt die Spannung mit jedem Grad, um das er sich weiter neigt.
Fünf Jahre lang, von 1990 bis 1995, habe ich mit meinem Kollegen Klaus Dierßen immer wieder die ehemalige DDR besucht und in Hunderten von Bildpaaren und -reihen die Veränderungen dokumentiert. Der Zeitsprung zwischen den Einzelbildern gibt Auskunft über den ästhetischen Wandel, aber auch über die dahinterstehende Befindlichkeit. »Danach und Danach«haben wir unser Projekt genannt. Diese beiden Aufnahmen zeigen einen Metzgerladen in Sangerhausen, SachsenAnhalt.
Das schwarzweiße Foto stammt aus dem Jahr 1976 und zeigt meine Frau Maria mit unserer Tochter Lisa an einem See im Wendland. Dort hatten wir uns mit sieben anderen Leuten damals einen Bauernhofgekauft, damit unsere Kinder auch das Landleben kennenlernen konnten. Nach der Wende erschlossen sich uns neue Naherholungsgebiete, und so zeigt das Farbfoto aus dem Jahr 2010 Lisa mit ihrer Tochter Emilia auf dem Darß an der Ostsee. Auch technisch übrigens ein Zeitsprung: Das Schwarz-Weiß Foto wurde mit der Spiegelreflexkamera aufgenommen, der Film in der eigenen Dunkelkammer – das heißt: in der Speisekammer unserer großen Altbauwohnung entwickelt und abgezogen. Das Farbfoto kommt aus einer Digitalkamera.
Im Mai 1988 haben meine Frau und ich einige Wanderungen in der Toskana unternommen. Unter anderem von Strada nach Greve in Chianti. Im Mai 2007 haben wir diese Tour zum größten Teil wiederholt. Beim Castello di Colognole oberhalb von Greve waren inzwischen Zypressen angepflanzt worden und in weniger als zwanzig Jahren zu beachtlicher Höhe gewachsen. Für uns war das eine Verschönerung der Landschaft. O bella Toscana!
Seit Anfang der siebziger Jahre treibe ich mich mit meiner Kamera im Ruhrgebiet herum und fotografiere, wie es sich verändert. So sind auch diese beiden Aufnahmen der Kokerei Zollverein in Essen-Stoppenberg entstanden. Aufgenommen habe ich sie beide quasi vom selben Standort aus. Auf dem ersten Bild aus dem Jahr 1974 ist die Kokerei noch in vollem Betrieb, aber kulturell total unauffällig. 2010 ist sie Bestandteil des Weltkulturerbes; eine Kultur-Disneyworld sozusagen.
Wenn an dieser Stelle in den letzten Monaten Fotos aus Familienalben veröffentlicht wurden, dann war es meistens so: Jemand hatte ein altes Bild gefunden, denselben Ort wieder aufgesucht und die Situation mit neuen (oder den alten) Akteuren nachgestellt. Bei diesen beiden Bildern war es umgekehrt: Zuerst gab es das Wickeltischfoto von meinem Sohn Luis, der inzwischen fast sechs Monate alt ist.
Mit unserem „Monthly Luis“-Newsletter mailten wir es an Freunde und Verwandtschaft. Da begann Luis‘ Urgroßvater väterlicherseits, der ein großer Hobbyfotograf und ein sehr ordnungsliebender Mensch ist, in seinen alten Alben zu blättern, und fand das alte Foto, das Luis‘ Großmutter vor genau 55 Jahren zeigt. Mendel hatte also recht!
Im August 1961, vor fast 50 Jahren also, hat mein Vater am Potsdamer Platz die nagelneue Berliner Mauer fotografiert. Damals war ich erst elf Jahre alt. Aber 2001 habe ich mich auf die Suche gemacht, genau den Ort gefunden, an dem mein Vater damals stand, und eine Aufnahme aus genau dem gleichen Blickwinkel gemacht. Mehr, glaube ich, kann sich eine Stadt wirklich nicht verändern. Dieter Hoppe, Berlin