Lesezeichen
 

Die Wildsau in Suhle

(nach Johann Wolfgang von Goethe »Der König in Thule«)

Die Wildsau in der Kuhle,
Vermutlich bis zum Hals
Lag da in wohl’ger Suhle
Im Wald. Da blitzt’s, da knallt’s!

Und neben ihr ihr Keiler,
Ganz rot färbt sich das Nass,
Die Bein’, die sonst ihm Pfeiler,
Geknickt ob seiner Mass’.

Reicht’ sterbend seiner Sau er,
Vielmehr ihm nicht mehr blieb,
Den rechten großen Hauer
Aus tief empfundner Lieb.

Sie schwor dem Waldesgotte:
Den Zahn geb nie ich fort’,
Und suchte ihre Rotte,
Verließ den Schreckensort.

Im Kreise ihresgleichen
Stand sie in Trauer da,
Ein Anblick wie bei Heine,
Dem Keiler so ganz nah.

Sie kehrt zurück zur Kuhle,
Den Zahn ans Herz gedrückt,
Warf drauf ihn in die Suhle,
Sprang nach total entrückt.

Albrecht Thomas, Siegen

 

Was mein Leben reicher macht

Meine Tochter (vier) liebt es, beim Laufen meine Hand zu halten. Brechen wir auf, führen väterliche Ungeduld und der Größenunterschied schnell zu einem Vorsprung von ein paar Metern. Sofia holt mich hoppelnd ein, und ich schließe kurz die Augen, um den Moment festzuhalten, wenn sich ihre Hand in meine schiebt.

Martin Diesbach, München

 

Was mein Leben reicher macht

Ich (64 Jahre) bin gerade Nanny in New York City. An einem Montagmorgen gehe ich bei traumhaftem Wetter zur Arbeit. Ein Mann auf einem türkisblauen Motorroller hält, während ich die West End Ave überquere. Ich lache ihn an und denke: Das wär’s jetzt, eine Spritztour in die Hamptons bei diesem Wetter! Ich gehe weiter, plötzlich steht er wieder vor mir: »Ich bin noch einmal zurückgefahren, um Ihnen zu sagen, dass ich jetzt gern einen Ausflug mit Ihnen machen würde, wenn ich nicht arbeiten müsste.«

Gisela Schubert, New York

 

Ramenterkasten: Mein Wort-Schatz

In meiner Jugendzeit war Ramenterkasten eine geläufige Bezeichnung für umtriebige Jungen und Mädchen; nichts war vor ihnen sicher, alles wurde untersucht oder kaputt gemacht. Erwachsene rauften sich oft die Haare über die kleinen Rangen. Heute sagt man eher: »Die Kleinen nerven.«

Karl-Josef Mewaldt, Buxheim, Bayern

 

Zeitsprung: Diesmal ohne Blumen

s94-zeitsprung-01 s94-zeitsprung-02

Im Sommer 1960 haben meine Mutter und mein Vater in Bad Marienberg im Westerwald geheiratet. Für unser alljährliches Familienwochenende sind wir (ihre drei Kinder) dieses Frühjahr mit unseren nun schon 85-jährigen Eltern nochmals dorthin gefahren, um mit ihnen in alten Spuren zu wandeln. Als wir uns die Kirche ansahen, kam zufälligerweise das Küsterehepaar vorbei und schloss sie für uns auf. Nach der Besichtigung hatten wir spontan die Idee, das Hochzeitsfoto nachzustellen. Gerade rechtzeitig: Zwei Tage später wurde die Kirche zur Renovierung eingerüstet.

Karin Weber, Kassel

 

Was mein Leben reicher macht

Wenn ich abends von einem Geschäftstermin nach Hause komme und erst mal meine tief schlafenden Kinder aus dem Ehebett in ihre Zimmer verteilen muss, bevor ich meine Liebste finde.

Michael Meyer, Weißenburg, Bayern

 

Selbst gemacht

s94-obstkorb

Im Winter werden die Vitamine ja schon mal knapp. So kam mir – Häkeln ist zufällig mein Hobby – die Idee, meine Freundin und ihre Familie mit ein paar unverderblichen Reserven auszustatten…

Ophelia Posmann, Hamburg

 

Was mein Leben reicher macht

Dass meine Frau nach einem Herzstillstand aus dem künstlichen Koma erwachte und nickte auf meine Frage, ob sie weiß, wer ich bin.

Axel Schröter, Unterschleißheim, Bayern

 

Schellenputzen: Mein Wort-Schatz

Schellenputzen – ein Wort aus fernen Kindertagen. Im Norden wird man es nicht verstehen. Selbst Wikipedia hilft da nicht weiter. »Schellen« sind Klingeln oder Glocken. Aber auch wenn der Begriff »Schellenputzen« wahrscheinlich auf das Putzen der Kuhschellen nach dem Almabtrieb zurückgeht, geht es hier nicht etwa um schwäbische Reinlichkeitsrituale. Schellenputzen ist ein Streich. Der Mutigste klingelt, alle nehmen die Beine in die Hand oder verstecken sich. Es gibt dabei noch zwei Varianten der Steigerung. (Ich schildere sie im Vertrauen darauf, dass die Leser das Know-how nicht missbrauchen.) Für die erste Variante wird die Klingel mit zwei Streichhölzern fixiert und so zum Dauerläuten gebracht. Sie hilft besonders bei Zeitgenossen, die schon ahnen, dass sie Opfer vom »Schellenputzen« geworden sind und daher nicht an die Tür gehen wollen. Bei der zweiten verwendet man ein Stück Pappe, um mehrere Klingeln auf einmal zu erreichen – und kann so ein ganzes Hochhaus auf Trab bringen.

Hans-Peter Oswald, Köln