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Zeitsprung: Filmreif

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Es ist schwer zu sagen, was meinem Urgroßvater Wilhelm Nagel bei der Eröffnung seines ersten Kinos in Ludwigsburg durch den Kopf ging. Vermutlich war er sehr nervös durch die Anwesenheit des Königs Wilhelm II. von Württemberg. Urgroßvater war ein Filmpionier der ersten Stunde, begann mit einem Wanderkino, die Zuschauer zu begeistern. 1945 beschlagnahmte die US-Armee das Kino für ihre Soldaten. Aber auch hier half mein Vater Hasso Wollenschläger mit und durfte bei der einen oder anderen Vorstellung durch das Projektionsfenster sehen. Noch heute befindet sich das Unternehmen fest in Familienhand und wird mittlerweile von der vierten Generation betrieben. Es hat nicht nur zwei Weltkriege und die Besatzungszeit überstanden, sondern auch das Kinosterben Anfang der Achtziger Jahre sowie den Verdrängungswettbewerb durch die Multiplexwelle. Der Eingangsbereich hat sich stark verändert – auch durch den Bau eines neuen Bürogebäudes und eines weiteren Kinosaals. Das Kino ist längst digitalisiert. Doch noch immer gehen die Zuschauer durch den Eingang, den einst seine Majestät eingeweiht hat.

Claus Wollenschläger, Ludwigsburg

 

Was mein Leben reicher macht

Der Geruch nach frischem Johannisbeerkuchen und mein Mitbewohner, der neugierig in die Küche linst! Jeden Freitag ziehe ich einen anderen Obstkuchen nach dem Rezept meiner Mutter aus dem Ofen – und bin dankbar, dass sie mich schon ganz früh mit ihrer Backleidenschaft angesteckt hat!

Janne Irmisch, Hamburg

 

Was mein Leben reicher macht

Mit einem lieben Freund habe ich das Sommerhaus von Bertolt Brecht und Helene Weigel in Buckow in der Märkischen Schweiz besucht. Keinerlei Luxus im heutigen Sinn. Aber ein traumhaftes Grundstück am See und am Wald! Seitdem ist mein Leben um einen Traum reicher: So ein Zuhause zu haben. Es wird ein Traum bleiben, aber ein sehr, sehr schöner.

Rita Münster-Jacobsen, Berlin

 

Die Kritzelei der Woche

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Vor einigen Wochen saß ich in einem langweiligen Seminar. Draußen schien die Sonne. Ich flüsterte meiner Sitznachbarin zu, dass es viel zu schön sei, um hier drinnen zu hocken. Sie nickte: »Und das an meinem Geburtstag!« Schnell kritzelte ich einen kleinen Geburtstagskuchen in meine Schreibkladde. Den linken Arm nutzte ich dabei als Sichtschutz. Unauffällig ließ ich den fertigen Kuchen durch die Reihen gehen. Viele Kommilitonen kritzelten ihre Glückwünsche auf die Rückseite. Nach dem Seminar überreichte ich das »Esspapier« an meine Sitznachbarin. Sie grinste und versuchte, die Kerze auszupusten. Die Flamme brenne noch heute, erzählte sie mir, als ich sie vor ein paar Tagen wiedertraf.

Mareike Thies, Hannover

 

Was mein Leben reicher macht

Mit meiner Mutter – sie ist 62 – eine Woche lang durch die Alpen zu wandern, jeden Tag spielend mehr als tausend Höhenmeter zu machen und von deutlich jüngeren Wanderern mit den Worten vorbeigewinkt zu werden: »Lasst mal die Mädels durch, die sind schneller als wir!«

Judith Kirchner, Hannover

 

Was mein Leben reicher macht

Manchmal eine Zwangspause: Nur weil mich die Fußgängerampel auf der Mittelinsel am Weitergehen hinderte, fand ich die voll erblühte, duftende Rose auf der Straße.

Angelika Krieser, Berlin

 

Der Impfschein

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Die im Jahr 1840 siebeneinhalb Jahre alte Gesche Hansen war wohl meine Ururgroßmutter. Und geimpft wurde sie gegen die »Blattern«, ein alter Ausdruck für Pocken. Edward Jenner hatte in England im Jahre 1796 erstmals erfolgreich eine solche Impfung durchgeführt, aber erst 1980 konnte die WHO die Pocken endgültig für ausgemerzt erklären.

Benno R. Schwartz, Helmstedt

 

Fabelschön: Mein Wort-Schatz

Im Zimmer unserer zweijährigen Tochter ist es ungewöhnlich still. Ein Kontrollblick: Sie steht mit dem Rücken zu mir, vor ihr die ausgeräumte Kommode, hinter ihr auf dem Boden ein Kleiderchaos! Doch darin steckt Ordnung. Fein säuberlich voneinander getrennt auf Stapeln liegen Hosen, Bodys, T-Shirts, Pullis und Socken. Das einzuräumen wird dauern. Da dreht sich Johanna strahlend zu mir um und sagt: »Johanna macht das fabelschön!« Mir bleibt nur ein lachendes: »Ja!« Seither ist unser Wortschatz um dieses wunderschöne Wort reicher, wie fabelhaft!

Christiane Raig, Walchwil, Schweiz

 

Was mein Leben reicher macht

Mit meiner Freundin Christiane verbringe ich heiße und sonnige Tage in Lacanau-Océan an der Atlantikküste. Am vorletzten Morgen, ihrem Geburtstag, weckt sie mich mit Milchkaffee am Bett. Wann hatte ich das zum letzten Mal?

Susanne Lohmann, Bad Salzuflen

 

Aus meinem Garten

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Die Stockrosen blühen! Mit ihren fein geäderten, zartrosafarbenen Blättern öffnen sich die Blüten ganz zur Sonne hin. Ich hatte die samen im garten meiner groß- mutter gesammelt – wohl wissend, wie krank sie ist und dass sie bald vergangen sein würde, zusammen mit ihrem wunderbaren Blumengarten. Im vergangenen Jahr habe ich die samen auf meinem Balkon in die Erde gegeben. Bald wuchsen die kleinen Sprösslinge zu grünen Pflänzchen heran, und einige von ihnen überstanden sogar den langen Winter draußen, um schließlich, in ihrem zweiten Jahr, zu blühen – genau ein halbes Jahr nach dem Tod meiner Großmutter.

Franciska Klein, Freiburg im Breisgau