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Ein Gedicht!

Österlicher Inspizier-Gang
nach Johann Wolfgang von Goethe »Osterspaziergang«

Vom Unkraut befreit ist unser Garten
durch der fleißigen Hände Geschick.
Rundherum schweift der strenge Blick.
Giersch, Quecke und ähnliche Arten
zogen sich hinter Nachbars Zaun zurück.

All’ unsere Sinne sich wieder beleben,
weil Frühlingsboten ihr Bestes geben:
Für die Ohren sind’s die Vogelstimmen –
und die Motormusik beim Rasentrimmen.
Für die Nase der würzige Jaucheduft,
wenn der Bauer das Feld düngt und schwängert die Luft.

Fürs Auge die blühenden Sträucher und Hecken,
Kahlfraß im Beet – dank fleißiger Schnecken.
Fürs Gefühl die Sonne warm auf der Haut,
auf der eine Wespe die Stimmung versaut.
Ein Radieschen für den guten Geschmack,
besonders, wenn es ein Innenleben hat.
Nicht jedoch in unserem Sinne es liegt,
wenn die Wühlmaus Beet und rasen pflügt,
wenn die Kraft der Natur am Unkraut sich zeigt,
das vielfältig sich aneinanderreiht,
und wenn die Ungezieferwelt
sich den Pflanzen zugesellt,
Dann stimme ich in des Gärtners Lied mit ein:
Hier entscheide ich, was darf gedeih’n.

Ingrid Bosch, Hennstedt, Schleswig-Holstein

 

Was mein Leben reicher macht

Morgens im IC Köln–Leipzig. Ich döse vor mich hin. »Zugestiegene?«, fragt die Kontrolleurin. Ich reiche ihr, etwas unwillig ob der Störung, meinen Fahrausweis. Da erklingt im schönsten singenden Kölner Dialekt: »Hamma onnoch en lecker Bahnkärtsche?« Lächelnde Gesichter im Abteil – beschwingt setze ich die Reise fort.

Günter van Mark, Herford

 

Was mein Leben reicher macht

Meine Schwägerin, die ihre alzheimerkranke Mutter mit großer Fürsorge pflegt. Und diese, die liebste aller Schwiegermütter, die zwar schon lange nicht mehr spricht, aber die Frage, ob der Kaffee schmecke, doch noch mit einem eindeutigen »Ja« beantwortet.

Sabine Schwieder, Ostfildern

 

Was mein Leben reicher macht

Eines Abends ging ich an einer viel befahrenen Straße entlang und hörte eine Amsel singen. Gegen den Verkehrslärm und die Dunkelheit trug sie ihr Lied vor. Es kam mir vor, als wäre ich ihr einziger Zuhörer.

Richard Herrmann, Ludwigsburg

 

Was mein Leben reicher macht

Zwei junge Männer auf der Straße. Der eine schiebt einen Kinderwagen. Sie umarmen sich voller Wiedersehensfreude, beugen sich über das Baby, lachen und strahlen über die (bärtigen) Gesichter. Ich gehe vorbei und denke, dass mich diese moderne Männlichkeit glücklich macht.

Kerstin Palzer, Magdeburg

 

Was mein Leben reicher macht

Das Frühjahr lässt auf sich warten. Ich sitze mürrisch am Küchentisch. In der Was mein Leben reicher macht-Kategorie lese ich von einem gelben Sonnenschirm, der neben einer Berliner Balkontür steht und dessen Einsatz mit Freude erwartet wird. Ich blicke aus dem Küchenfenster und stutze: Auf einem Balkon gegenüber steht ein ebensolcher gelber Sonnenschirm. Ich freue mich mit.

Svenja Post, Berlin

 

Zeitsprung: Krieg und Film

s82-zeitsprung-1915

s82-zeitsprung-2003

Als Arbeitsloser habe ich gelegentlich als Komparse gearbeitet. So etwa 2003 für eine Fernsehproduktion (Der Wunschbaum), die im Ersten Weltkrieg spielt. Bei den Dreharbeiten, bei denen wir uns oft auch gegenseitig fotografierten, entstand die rechte Aufnahme. Mein Erstaunen war groß, als ich einige zeit später alte Familienfotos sortierte und dabei (links) auf eine ganz ähnliche Fotografie meines Vaters aus dem Jahr 1915 stieß. Mein Vater (Jahrgang 1897) diente – ungern – in beiden Weltkriegen. Er überstand sie aber mit geringen Verletzungen, sodass er bis zu seinem Tod 1973 eine Buchhandlung in Hamburg führen konnte. Mein Bruder und ich wurden pazifistisch erzogen. Wir durften nicht einmal mit Plastikwaffen spielen – worauf ich sehr stolz bin. Der Bundeswehr entging ich in Berlin.

Jürgen Wallenstein, Berlin