Samstag, 16 Uhr, in einer Neuköllner Seitenstraße. Seit einer halben Stunde versuchen wir, das schwere Kettenschloss an meinem Rennrad zu öffnen – ohne Erfolg. Regen, Rost und Eisen sind über Tage eine unlösbare Verbindung eingegangen. Kommt eine Frau vorbei und fragt: »Braucht Hilfe? Kann meine Mann holen. Hat Säge.« Zwei Minuten später ist er da, aus dem Erdgeschossfenster gesprungen, mit Verlängerungskabel und Flex. Kosten der Befreiungsaktion: fünf Überraschungseier; drei für die Kinder, zwei für die Frau. Ein Hoch auf gute Nachbarschaft!
Mein Mann, der seit 37 Jahren Abend für Abend – sofern wir zu Hause sind – für uns beide Obst schält und fein säuberlich in Schnitzen auf dem Teller platziert. Das gemeinsame Verspeisen fehlt mir, wenn er auf Reisen ist.
Als Kielerin und überzeugte Wahlberlinerin kann man an Stuttgart nur scheitern – das fängt schon bei der Sprachbarriere an. Dennoch gibt es ein Wort, das sich seinen Weg in mein Herz gebahnt hat: rauslassen. Es kommt so schön unprätentiös und vor allem unschuldig hochdeutsch daher und ist doch so unglaublich vielseitig. Man kann sich ein Word-Dokument rauslassen oder einen Fahrschein am Automaten, man kann sich heute zur Belohnung eine Tafel Schokolade rauslassen, oder man lässt sich etwa einen Professor raus (man angelt sich einen). Und zu guter Letzt habe ich mir jetzt einen neuen Job in Berlin rausgelassen. Für diesen Neuzugang in meinem Wortschatz danke ich Dir, liebes Stuttgart, von ganzem Herzen. Und diese späte Liebeserklärung musste ich einfach rauslassen!
Vor Jahren in Kroatien: Dem Wirt schien die Bedeutung des Wortes »mies« nicht zu gefallen. So offerierte er auf seiner Speisekarte lieber »freundliche Muscheln«.
Wer kennt es nicht, das wütende Gehupe und Geschimpfe, wenn man an einer grünen Apel nicht sofort anfährt? Wie wohl tat mir die freundliche Stimme einer Dame, die den träumenden Busfahrer mit der Frage zur Weiterfahrt ermunterte: »Mögen Sie dieses Grün nicht?«
Das ist der Flugzeugführer-Ausweis für Doppeldecker, den mein Opa Julius Wenger, Jahrgang 1895, im Jahr 1918 gemacht hat. Ich bewahre diesen Ausweis voller Stolz auf. Als mein Opa noch lebte, erzählte er mir immer vom Fliegen. Er konnte es nicht verstehen, wenn man nicht so viel Interesse zeigte, wie er erwartete. Für ihn war das Fliegen das Schönste, obwohl er nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr offiziell flog. Soweit ich mich erinnere, ist er in den siebzigerer Jahren aber noch einige Male mit einem Sportflugzeug in die Lüfte gegangen.
Zwei Jahre lang hatte ich in Madrid gelebt. Als ich 1955 nach Deutschland zurückkehrte, fand ich neue Begriffe und diese und jene Änderung der deutschen Sprache. Mir fiel ein ganz einfaches Wort auf, das mir vorher nicht geläufig gewesen war: hinterfragen. Hatte es an den tausend großdeutschen Jahren gelegen, in denen ich sozialisiert worden war und in denen Befehl und Gehorsam das Leben bestimmt hatten? Wie glücklich war ich, als ich dieses Wort auch in einem der Kernsätze des Aufklärers Kant fand: Man möge das Wesen der Sachen hinterfragen. Jeder Leserin, jedem Leser, mir selbst, allen möchte ich dieses Wort anempfehlen. Nicht mit einem Ausrufungszeichen, sondern mit einem freundlichen Einladungszeichen versehen –, auch wenn es dieses Zeichen derzeit noch nicht gibt.
Den norddeutschen Abendhimmel anschauen. Die Sonne taucht langsam hinter den Horizont. Alle zehn Sekunden ein neues farbiges Wolken-Gemälde. Unbeschreiblich.
In der Essener U-Bahn lese ich die neue Ausgabe von ZEIT Geschichte mit dem Titel Der Islam in Europa. Da lächelt mich überraschend eine muslimische Studentin ganz offenherzig an. Ich gehe davon aus, dass das Lächeln dem Zeitschriftentitel galt und nicht mir. Vielleicht aber auch der Kombination aus beiden.