Wir experimentieren bei ZEIT ONLINE sehr gerne mit Darstellungsformen, die über reinen Text hinausgehen, z.B. mit Vuvox oder mit 360-Grad-Panoramabildern. Die Motivation dabei ist nicht so sehr, „Eye Candy“ zu produzieren, also Visualisierungen, die einfach nur nett aussehen oder die Tränendrüse ansprechen, sondern komplexere Themen besser erklären zu können.
Als uns unsere Korrespondentin Silke Tittel von einer geführten Bustour durch das „Gang-Land“ von Los Angeles erzählte, war schnell klar – diese Reportage könnte durch „Google Street View“ sinnvoll ergänzt werden. Die Betonung liegt auf „ergänzt“: Essenz der Berichterstattung bleiben stets der Bericht und die Einschätzung unserer Korrespondentin. Mit „Street View“ kann sich aber jeder einen etwas besseren Eindruck machen, wie es vor Ort aussieht, ggf. sogar auf eigene Faust die Neighborhoods tiefer erkunden. Ersetzt das die reale Erfahrung? Natürlich nicht, noch nicht einmal annähernd. Es ist ein kleiner, interessanter Mosaikstein in einem weit größeren Gesamtbild. Zumal es bei dieser Geschichte um Areale in Los Angeles geht, die man sonst nicht betreten würde.
Für Journalisten ergeben sich durch den Einsatz von „Google Street View“ interessante Fragestellungen. Ist es etwa angemessen, alles zu zeigen, was dort als Bildmaterial vorliegt? Eine Gruppe von Obdachlosen, die am Straßenrand stehen? Ich denke, es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass klassische Fotoreporter seit Jahrzehnten über ganz ähnliche Fragen diskutieren. Was ist ethisch vertretbar als Teil einer möglichst authentischen, um Objektivität bemühten Berichterstattung? Wo beginnt der Voyeurismus? Eine klare Formel zu finden, ist schwierig. Mein Eindruck ist eher, dass man im Einzelfall entscheiden muss, bei Fotoreportagen ebenso wie bei neuen Formen der Visualisierung. Um beim konkreten Beispiel der Obdachlosen zu bleiben: Ja, ich halte es für vertretbar und inhaltlich sogar für naheliegend, sie zu zeigen. Würde ich als Fotoreporter in die Skid Row von Los Angeles gehen, wäre mir der Gedanke fremd, nicht zu zeigen, was den Stadtteil prägt.
Sie merken schon – das Thema beschäftigt uns. Wie sehen Sie „Street View“ als Bestandteil von Online-Reportagen? Ist es Ihrer Einschätzung nach bei bestimmten Themen ein probates Mittel, um Geschichten detaillierter, plastischer zu erzählen? Oder kann/muss man darauf verzichten? Wenn ja, warum? Ich freue mich auf Ihr Feedback.