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Mitt Romneys wichtigste Rede – erste Eindrücke und Fakten

Viel Kitsch, viele Emotionen und viel Entertainment – das war in den letzten Tagen in Tampa, Florida, auf dem Parteitag der Republikaner geboten. Ihr Präsidentschaftskandidat Mitt Romney ist bei seiner Rede zweifelsohne weniger hölzern aufgetreten als zuvor. Emotional und patriotisch; nach den geltenden Regeln amerikanischer Parteitage ein solider Auftritt. Doch wie ist die Krönungsmesse des Mitt Romney nüchtern betrachtet zu bewerten?

Die reinen Fakten sprechen auf den ersten Blick nicht für ihn: Seit 1900 haben nur fünf Herausforderer gegen amtierende Präsidenten gewonnen, 14-mal siegte der Amtsinhaber. Die Wirtschaftsdaten, der entscheidende Indikator für die Leistung der Regierung, erfüllen zwar die Hoffnungen nicht, die Obama im letzten Wahlkampf geweckt hat – aber noch kann Romney dies nicht nutzen. Die schleppende Wirtschaft wird zumindest momentan noch eher Obamas Vorgänger, George W. Bush, angekreidet und nicht dem derzeitigen Präsidenten.

Auch Romneys innerparteiliche Unterstützung war bislang wenig solide. Dies lässt sich unter anderem an den „Endorsements“ ablesen, an den verbalen Unterstützungen, die aus den eigenen Parteireihen kommen Die aufgeführte Graphik zeigt vergleichend auf, dass es Romney hier vor dem Parteitag sehr deutlich an Unterstützung aus den eigenen Reihen mangelte.

Dies war somit eine der wichtigsten Funktionen des Parteitages überhaupt: Die eigenen Parteifreunde überzeugen. Und immerhin: Nicht nur Vize-Kandidat Paul Ryan als Hardliner und Liebling der Tea-Party, sondern auch Hoffnungsträger des moderaten Flügels wie Chris Christie oder Marco Rubio hatten symbolträchtige Auftritte. Dass derart exponierte Rolle zugleich Risiken bergen können, zeigt Vizepräsidentschaftskandidat Ryan. Mit steigendem Bekanntheitsgrad ging ein sinkender Beliebtheitsgrad einher:

Nichtsdestotrotz versammelte sich in Tampa ein breites Feld an Unterstützern für Mitt Romney, das neben jungen und arrivierten Stars der Partei auch einige der ehemaligen Konkurrenten um die Nominierung umfasste. Romney ist so seinem Ziel näher gekommen: Er wird aus allen Teilen der Partei sichtbar unterstützt – auch wenn es zugleich noch immer kaum übersehbare Skepsis geben mag.

Das zeigt: Mitt Romney ist nicht zu unterschätzen, obwohl (oder gerade weil?) er die Herzen nicht im Sturm erobert, aber beharrlich daran arbeitet, diese Schwäche auszugleichen. Er hat sich im Vorwahlkampf um die Nominierung gegen ein Feld an Mitkonkurrenten durchgesetzt, das man beachtlich nennen muss (u.a. fünf ehemalige Gouverneure, zwei Abgeordnete des Repräsentantenhauses, ein ehemaliger Senator), auch wenn einige profilierte Republikaner wie die oben genannten nicht antraten, sondern bereits auf 2016 blicken.

Durch seine Kandidatur im Jahre 2008 genoss er schon früh im Wahlkampf einen hohen Bekanntsheitsgrad, der zwar auch zwiespältig sein kann, aber vor allem für das Einwerbung von Spenden von enorm hoher Bedeutung ist. Daraus, ebenso wie aus dem Vorwahlkampf, hat er viel gelernt. Er musste bereits auf viele kritische Äußerungen zu seiner Person, seine Karriere als Hedge-Funds-Manager, seine Religion, sein Elternhaus, seine Bilanz als Gouverneur von Massachusetts und vieles mehr reagieren und ist dadurch bestens vorbereitet auf das, was im Herbst auf ihn zukommen wird.

Ohne Frage: Er ist kein rhetorisches Talent, ihm fehlen Erfahrung und politisches Profil in vielen Bereichen. Aber haben wir das nicht schon einmal gesehen? Mit einer geölten Wahlkampfmaschinerie trat 2000 ein politischer Neuling aus gleichsam gutem und traditionsreichem Hause auf die Bühne und nahm den Kampf gegen ein wahres Schwergewicht der Demokratischen Partei und international anerkannten Umweltschützer auf – der Rest der Geschichte ist bekannt. Diese Erfahrung steckt den Demokraten noch in den Knochen…

 

Die Daten sind entnommen aus der Studie „The Gamble: Choice and Chance in the 2012 Presidential Election“ von John Sides und Lynn Vavreck.

 

 

Wahl des Vizepräsidentschaftskandidaten: Eine vertane Chance für Mitt Romney

Am vergangenen Wochenende hat der republikanische Präsidentschaftskandidat Mitt Romney seinen Vizepräsidentschaftskandidaten bekannt gegeben:  es ist Paul D. Ryan, Abgeordneter aus Wisconsin und Vorsitzender des mächtigen Haushaltsausschusses, Wirtschaftsliberaler und junger Hoffnungsträger der Republikaner. Nur auf den ersten Blick scheint er Romney zu ergänzen: Ryan ist jung, sportlich, Katholik und kommt aus einer Arbeiterfamilie. Ein Blick in die Daten sowie in die Abstimmungshistorie des jungen Politikers zeigt aber, dass diese Wahl nicht klug und wohl auch nicht sehr durchdacht war. Ein Vizepräsidentschaftskandidat soll ausgleichen, soll in Wählergruppen hineinreichen, zu denen der Präsidentschaftsanwärter nur schwer Kontakt und Sympathie aufbauen kann. Und dies ist bei Romney besonders wichtig, weil er kein gemäßigter republikanischer Kandidat ist, sondern selbst im republikanischen Lager als extrem gilt. Doch genau dies lässt sich von Paul D. Ryan auch sagen – seine Standpunkte zu den Themen Abtreibung, Lebensgemeinschaften von homosexuellen Paaren etc. sind ultrakonservativ.

Aber ein so ausgerichtetes Klientel an Wählerinnen und Wählern deckt auch Mitt Romney schon ab. In einer Umfrage zeigt sich klar, dass vor allem die sehr konservativen Republikaner einen großen Enthusiasmus zeigen, wenn es um die Stimmabgabe im November geht. 72% der extrem konservativen Republikaner zeigen im Juli 2012 eine hohe Begeisterung – bei den eher moderateren und liberaleren Republikanern sind es hingegen nur 50%. Wahlen aber werden in der Mitte gewonnen und nicht an den Rändern!

Quelle: YouGov.com, Graphik gefunden in: themonkeycage.org

Einige amerikanische Kommentatoren zieht schon den Vergleich zwischen Sarah Palin und Paul D. Ryan – dieser Vergleich ist sicherlich überzogen, denn Ryan ist ein respektierter Politiker in Washington, ein ganz anderes politisches Kaliber als Sarah Palin. Strategisch gesehen ist seine Nominierung aber ein schlechter Schachzug von Mitt Romney!

 

Wahlbeteiligung an Wochentagen – eine kurze Antwort auf Manfred Güllner

Manfred Güllner hat letzte Woche den Vorschlag gemacht, den Wahltag von einem Sonntag auf einen Wochentag zu legen – hiermit verbunden ist die Hoffnung, dass Bürgerinnen und Bürger wochentags eher zur Wahl gehen und wir eine höhere Wahlbeteiligung verzeichnen.

Ist hiervon aber tatsächlich ein positiver Effekt zu erwarten? Hier hilft ein kurzer Blick über den Tellerrand: In den USA und in Großbritannien beispielsweise, wo traditionell wochentags gewählt wird, ist die Wahlbeteiligung deutlich niedriger als bei uns in Deutschland. Zudem ist sie zumindest in GB, wo traditionell donnerstags gewählt wird, in den letzten 20 Jahren um ca. zehn Prozentpunkte gefallen. In den USA, wo die Wahlen dienstags stattfinden, haben zumindest die letzten beiden Wahlkämpfe die Wahlbeteiligung wieder über 55% gebracht.

 

Wahlbeteiligungen in D (grün), GB (rot) und USA (blau)

 

In Deutschland gingen hingegen auch 2009, dem Jahr des bisherigen Negativrekords, noch über 70% der Wahlberechtigten an die Urnen. Die These, dass die Beteiligung an Wochentagen höher ist, kann also empirisch nicht bestätigt werden. Eher sind Themen und die unterschiedlichen politischen Angebote ausschlaggebend. Sie entscheiden darüber, ob die Bürgerinnen und Bürger mobilisiert werden können und und an die Wahlurne gehen.

 

 

Der Wunsch nach einem „einhändigen Ökonomen“ – eine Antwort auf Norbert Lammert

Um es gleich vorweg zu sagen: Ich bin ein großer Fan von Norbert Lammert und mag seinen Witz, seinen Stil, seine Gesprächsführung – nicht zuletzt haben wir dasselbe Fach studiert. Sein aktueller Rundumschlag zur Rolle von Experten in der Politik – festgemacht an der Kritik der Ökonomen am Euro-Krisenmanagement der Bundesregierung – lässt sich im Zusammenhang mit dem aktuellen Anlass nachvollziehen. Jedoch schießt Lammert nicht nur übers Ziel hinaus, sondern setzt auch das Verhältnis von Politik und Beratung in das falsche Licht.

Schon der amerikanische Präsident Harry Truman fragte einst nach einem „one-handed economist“ – von ihm ist der verzweifelte Aufruf überliefert: „Gebt mir einen einhändigen Ökonomen, alle meine ökonomischen Berater sagen: auf der einen Seite, auf der anderen Seite… [Give me a one-handed economist; all my economists say on the one hand, on the other…]“. Dieser one-handed economist soll klare Ratschläge geben, die idealerweise auf Mehrheitsmeinungen beruhen und, wenn sie dann umgesetzt sind, zu einem wunderbaren Resultat führen.

Dies steht allerdings im klaren Wiederspruch zum Grundverständnis von Wissenschaft; hier kann jeder sagen und publizieren, was er möchte: Der öffentliche bzw. medial vermittelte Mainstream sowie vermeintliche „political correctness“ (also die Berücksichtigung von sogenannten politischen Notwendigkeiten in der wissenschaftlichen Analyse) sollten keine Rolle spielen. Nimmt man dieses Credo jedoch ernst, so darf man sich nicht wundern, wenn seitens der Wissenschaft mitunter harte und auch nicht ausschließlich konstruktive Kritik geübt wird. Sie folgt schließlich ihren ganz eigenen Maßstäben und orientiert sich nicht immer an der politischen Realität. Diese Diskrepanz hat der Journalist und Wissenschaftler Thomas Leif in einem Plädoyer folgendermaßen zusammengefasst: „Hier treffen zwei Welten aufeinander, die sich im Kern wenig zu sagen haben, weil sie sich zwei entgegengesetzten verschiedenen Handlungssystemen verpflichtet fühlen.“

In der Politik ist die Währung Macht, in der Wissenschaft ist es die Erkenntnis. In der Politik müssen Ergebnisse schnell erzielt werden und umsetzbar sein; in der Wissenschaft ist Schnelligkeit keine entscheidende Kategorie und die Analyse muss in erster Linie möglichst objektiv sein und alle relevanten Aspekte berücksichtigen, die Frage der Umsetzbarkeit ist zweitrangig.

So viel zu den Idealen, denen Wissenschaft und Politik folgen – und die dazu führen, dass die Kommunikation und die Zusammenarbeit zwischen den beiden oft schwerfallen. Dabei können beide Systeme sehr voneinander profitieren: Politik braucht mehr denn je die (wissenschaftliche) Beratung. In einer Welt, die gekennzeichnet ist von einer rapide zunehmenden Komplexität, von einer rasant fortschreitenden Globalisierung, Internationalisierung und Europäisierung sowie von technischen und technologischen Entwicklungen, die unbekannte Chancen und Risiken mit sich bringen, sind Regierungen oder Parteien oder gar einzelne Politiker kaum in der Lage, alles relevante Wissen zu einem bestimmten Sachverhalt selbst zu erarbeiten. Diese Entwicklung erfordert spezialisierte wissenschaftliche Expertise, die deutlich über das z.B. in Ministerialverwaltungen vorhandene Know-how hinausgeht – insbesondere, wenn man den gleichzeitig stattfindenden und anhaltenden Stellenabbau in den Ministerien berücksichtigt.

Die Wissenschaft auf der anderen Seite würde sehr von einem stärkeren Praxisbezug, von einem Blick hinter die Kulissen profitieren. Dies würde der Frage der Anwendbarkeit von Forschungsergebnissen mehr Gewicht verleihen sowie das grundsätzliche Verständnis für die Situation der Politik und die damit verbundenen Restriktionen verstärken. Davon wiederum könnte auch die Hochschullehre profitieren. Gerade in Studiengängen, deren Absolventen politische Karrieren als attraktiv erachten, ist ein intensiver Austausch zwischen Politik und Wissenschaft explizit erwünscht.

Dafür, wie dieser Kontakt aussehen kann, gibt es keine Patentlösungen. An vielen Stellen findet Austausch statt, allerdings wird allseits noch immer ein Mangel an Verständnis des Gegenüber für die eigene Situation beklagt. So ist die Beschwerde zu deuten, die Norbert Lammert mit recht drastischen Worten vorgebracht hat. So ist aber auch die Frustration der Wissenschaft zu deuten, oftmals kein Gehör zu finden und lediglich als Feigenblatt für politisch ausgehandelte Entscheidungen zu dienen. Daher möchte ich abschließend an beide Seiten einige Denkanstöße richten.

An die Politik: wissenschaftliche Politikberatung darf nicht als Produkt verstanden werden, das auf Knopfdruck schnell abzurufen ist – „Quick fix“-Lösungen sind nicht die Stärke der Wissenschaft. Wissenschaftliche Politikberatung kann dann sinnvoll eingesetzt werden, wenn sie als Prozess verstanden wird, d.h. dauerhaft in die politische Lösungssuche eingebunden ist.

An die Berater: Der Blick aus dem Elfenbeinturm heraus kann sehr erfrischend sein. Die Wissenschaft sollte sich der Politik stärker öffnen, auch wenn diese mitunter Forderungen stellt, die kaum zu erfüllen sind. Natürlich gibt es immer Pro und Kontra und gewisse Sachverhalte lassen sich einfach nicht auf nur einer A4-Seite hinreichend detailliert darstellen. Aber allein beim Versuch, der politischen Logik zu entsprechen, lernt man viel über die Politik, die eigene Disziplin und sich selbst.

Wenn es ab und an mal Wissenschaftler gibt, welche bereit sind, sich dieser Logik anzupassen, genießen diese Personen oftmals besondere Aufmerksamkeit. Der amerikanische Nobelpreisträger Paul Krugman wird seit Jahren explizit als „one-handed economist“ gefeiert – und kritisiert. Die deutschen Ökonomen mögen herausgehobene Stellungen in der Bearbeitung von Grundsatzfragen einnehmen (siehe z.B. Sachverständigenrat oder die Gemeinschaftsdiagnose), mit tagespolitischen Äußerungen sind sie jedoch im Allgemeinen vorsichtiger. Folgerichtig verursachte die Ausnahme von der Regel – der Offene Brief der 160 – so großen Wirbel.

Er ist eine Seltenheit und doch auch ein Zeichen dafür, dass die Wissenschaft in Deutschland zunehmend das versucht, was für beide Seiten notwendig ist: mit der Politik in Kontakt zu treten, mit ihr zu streiten und voneinander zu lernen.

 

Piraten und Nichtwähler

Die Wahlbeteiligung im Saarland war mit 61,6 % nicht hoch – dies war aber auch nicht anders zu erwarten. Polarisierung mobilisiert, die Menschen wählen lieber Schwarz oder Weiß statt Hellgrau oder Mittelgrau. Und die Auseinandersetzung zwischen „AKK“ und Heiko Maas war genau das Gegenteil eines polarisierten Wahlkampfes. Die beiden großen Parteien hatten im Vorfeld schon angekündigt, ihre große Koalition fortsetzen zu wollen; inhaltliche Alternativen hatten die Wähler kaum.

Diese Alternativlosigkeit wird von Nichtwählern am häufigsten als Grund für ihre Wahlabstinenz genannt – und so lässt sich auch der vorläufige Erfolg der Piraten erklären. Der Blick in das Wahlprogramm der Piraten lässt kein klares inhaltliches Profil erkennen. Aber: Sie grenzen sich zwar nicht inhaltlich ab, jedoch schlagen sie neue Prozesse vor. Sie setzen auf „liquid democracy“, mehr Bürgerbeteiligung und offene Gestaltungsmöglichkeiten in der Politik. Daraus beziehen sie den Reiz des Neuen, des Anderen, der dazu führt, dass enttäuschte, mit den etablierten Parteien unzufriedene Menschen in der Piratenpartei eine Alternative sehen. Natürlich haben die Piraten auch bei den anderen Parteien Wähler abwerben können. Aber den größten Anteil am überraschend guten Wahlergebnis der Piraten machen nicht diejenigen aus, die zuvor FDP oder Grüne gewählt haben, sondern eben jene, die zuvor nicht zur Wahl gegangen sind.

Wie nachhaltig die Piraten damit aufgestellt sind, wird sich spätestens im Mai bei der vorgezogenen Landtagswahl in NRW zeigen. Hier werden wir einen polarisierten Wahlkampf erleben, in dem der Wähler klare inhaltliche Alternativen zwischen SPD und Grünen auf der einen und der CDU und FDP auf der anderen Seite hat. Dazu kämpft die FDP ums blanke Überleben und bietet dafür einen profilierten Spitzenkandidaten auf – ebenso wie die CDU. Sprich: Es wird wieder um Themen gehen und auch die zur Wahl stehenden Persönlichkeiten bieten Alternativen.

Wie wird es in einer solchen Konstellation mit Piraten und Nichtwählern aussehen? Die Wahl in NRW wird nicht zuletzt in dieser Frage einigen Aufschluss geben, auch über die Chancen der Piraten bei der Bundestagswahl 2013. Meine Prognose: Es ist eine günstige Fügung für die Piraten, dass sie nach dem Erfolg im Saarland große mediale Aufmerksamkeit erfahren, ohne jedoch inhaltlich Stellung beziehen zu müssen. Diese Welle könnte sie in den Mai mit Wahlen in Schleswig-Holstein und NRW tragen. Allerdings werden in diesen Bundesländern weniger Wähler z.B. von der FDP zu den Piraten wandern, weswegen man sich noch stärker darauf konzentrieren muss, Nichtwähler zu mobilisieren. Einen ganz so hohen Wert wie im Saarland werden die Piraten in NRW und Schleswig-Holstein daher nicht erreichen. Aber wenn sie die Fünf-Prozent-Hürde überspringen könnten, wäre dies ein umso wichtigeres Signal – auch nach Berlin.

Weiterführende Literatur zu den Nichtwählern:

Jan Eric Blumenstil/Hans Rattinger: Warum haben Sie das getan? Subjektive Gründe der Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl 2009, in PVS Sonderheft 45/2011, S. 257-283

Armin Schäfer (2011): Der Nichtwähler als Durchschnittsbürger: Ist die sinkende Wahlbeteiligung eine Gefahr für die Demokratie? In: Evelyn Bytzek/Sigrid Roßteutscher (Hrsg.): Der Unbekannte Wähler? Mythen und Fakten über das Wahlverhalten der Deutschen: Frankfurt: Campus, S. 133-156.

 

Merkel spielte gestern auf Größe, nicht auf Sieg!

Christian Wulff hat am Wochenende nicht nur sein Amt verloren, sondern nachträglich auch die Bundespräsidentenwahl 2010. Er ist der doppelte Verlierer des gestrigen Abends – und Angela Merkel? Auf den ersten Blick scheint auch sie verloren zu haben, musste sie doch ihre Position aufgeben, einen anderen Kandidaten als Joachim Gauck zu nominieren. Allerdings hat sie sich dabei zugleich auch als die präsidiale, überparteiliche Kanzlerin präsentiert. Sie hat gezeigt, dass sie lernfähig ist, und nicht nur das: Durch ihre Entscheidung, direkt nach Wulffs Rücktritt zu verkünden, dass man den nächsten Kandidaten in Absprache mit SPD und Grünen suchen werde, hat sie Gaucks zweite Kandidatur überhaupt erst ermöglicht. Die FDP mag gestern einen großen Moment gehabt haben; einen, der der Partei Selbstbewusstsein geben kann. Aber überbewerten sollte man die überraschende Initiative der Liberalen nicht – die Entscheidung lag bei der Kanzlerin.

Natürlich stellt sich die Frage, warum Angela Merkel nicht schon vor knapp zwei Jahren der Nominierung von Joachim Gauck zugestimmt hat. Wr erinnern uns: Merkel war im Sommer 2010 in einem beachtlichen Stimmungstief, die Bevölkerung war mit der Arbeit der Bundesregierung unzufrieden. In diesem Moment war Angela Merkel mehr Partei- als Regierungschefin – und musste somit in der Bundespräsidentenfrage eine parteipolitische Entscheidung treffen.

Heute liegen die Dinge anders: Merkel ist durch ihr Krisenmanagement dem Parteienstreit ein wenig entrückt. Sie wird als Staatsfrau wahrgenommen, die auf internationaler Ebene für die Interessen aller Deutschen eintritt. Der daraus resultierende Effekt ist nicht neu: In Krisenzeiten vertraut die Bevölkerung den Amtsinhabern, sofern diese keine offensichtlichen Fehlentscheidungen treffen. Daher reicht derzeit in Umfragen niemand an die Kanzlerin heran.

Ist dies bereits ein Vorbote für die Strategie im Jahr 2013? Bundestagswahlen müssen immer auf ein klares Ziel ausgerichtet sein und natürlich müssen auch alle Koalitionsoptionen durchgespielt werden, um einen geeigneten Wahlkampf anzulegen. Allerdings wird 2013 einmal mehr die Amtsinhaberin im Mittelpunkt stehen. Sie kann mit dem Thema Wirtschaft und Finanzkrise punkten – gerade auf Grund ihrer Rolle im europäischen Krisenmanagement kann sie über dieses Thema viele Wähler erreichen, die keine Unionsanhänger sind.

Der Reiz ist daher groß, auf dieses Thema zu setzen und einen weiteren Wahlsieg einzufahren. Die Einschränkung dabei: Wenn die Krise künftig noch stärker als bisher die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland und damit den Geldbeutel der Bürger betreffen sollte, könnte sich auch die Meinung zur Regierung um Angela Merkel massiv ändern – und die Kanzlerin hätte kein Gewinnerthema mehr. Die Strategie wäre also nicht ohne Risiko. Die Alternative wäre ein Befreiungsschlag wie im Falle der Bundespräsidentenwahl: Angela Merkel muss gar nicht auf Sieg spielen; wenn sie ihrer Linie treu bleibt, eröffnen sich damit neue Möglichkeiten.

Aber das ist Zukunftsmusik. Bevor wir 2013 ein neues Parlament wählen und damit über die Zukunft der Regierung Merkel abstimmen, geht es am 18. März erst einmal zur Bundespräsidentenwahl. Deren Ausgang wird – so viel ist seit gestern klar – kaum Raum für Strategien oder politische Überraschungen bieten.

 

Christian Wulff und die Wahlforschung

Die Rolle und das Amt des Bundespräsidenten werden in der empirischen Sozialforschung kaum beachtet; zu gering ist sein Einfluss, auch wird er nicht direkt gewählt. Dementsprechend wird das Amt auch in der Diskussion um die Personalisierung von Politik nicht beachtet. Dennoch sollen hier einige der wesentlichen und empirisch fundierten Erkenntnisse der empirischen Wahlforschung präsentiert werden, die sich auf die momentane Debatte um Christian Wulff übertragen lassen.

Die Personalisierung der Politik bzw. des Politischen wird in der Politischen Kommunikationsforschung und in der Wahlforschung schon seit geraumer Zeit erforscht. In anderen Worten: Man stellt sich der Frage, wie sehr politische Richtungsentscheidungen mit den Personen verbunden sind, welche sie vertreten. Unterscheiden lassen sich drei Dimensionen: a) die Personalisierung der Wahlkampfführung, b) die Personalisierung der Medienberichterstattung und c) die Personalisierung der Wahlentscheidung.

Wenn wir uns die Entwicklung der drei Dimensionen im internationalen Vergleich anschauen, lässt sich feststellen, dass die Personalisierung der Wahlkampfführung kein neues Phänomen ist, im Gegenteil: Parteien haben ihren Wahlkampf schon immer auf den Spitzenkandidaten ausgerichtet, die Dramaturgie der Wahlkämpfe, die „Drehbücher“, hatten schon immer einen Hauptdarsteller. Anders gelagert ist die Personalisierung der Medienberichterstattung. Hier lassen sich klare Veränderungen im Zeitverlauf festmachen: Mit dem Einzug des Fernsehens hielten nicht nur neue Formate wie z.B. TV-Duelle, Talkrunden etc. Einzug in das Politische – auch die Konzentration der Medien auf Personen nahm zu. Zwar sind nicht immer ausschließlich die Spitzenkandidaten im Fokus, aber Politiker per se stehen mehr und mehr im Rampenlicht.

Und nun kommen wir zur dritten Dimension, der Personalisierung des Wählerverhaltens. Diese lässt sich wiederum differenzieren in politische und unpolitische Eigenschaften – oder auch: rollennahe und rollenferne Eigenschaften – eines Kandidaten. Mit letzteren sind persönliche Integrität, physische Attraktivität und das Privatleben gemeint. Grundsätzlich festzuhalten ist, dass diese Eigenschaften eine immer wichtigere Rolle spielen: Bürgerinnen und Bürger richten ihre Wahlentscheidung mehr und mehr an den Kandidaten als an Parteien aus. Das Phänomen des personalisierten Wählerverhaltens ist uns aus präsidentiellen Systemen wohlbekannt, im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf etwa ist der Faktor Persönlichkeit schon lange ein Kernelement, dass strategisch genutzt wird: Die Frage, ob ein Kandidat „präsidiabel“ ist, ist für die Wähler zentral, und Wahlkampfstrategen setzen scheinbar unpolitische Eigenschaften aus dem Privatleben der Kandidaten ebenso in Szene, wie ihre Familienmitglieder oder persönlichen Freunde. Vergleichsweise neu ist, dass solche Entwicklungen auch in der Parteiendemokratie erkennbar sind. Allerdings zeigt die empirische Forschung deutlich, dass auch dort, wo Parteien und nicht Personen gewählt werden, Wahlentscheidungen vermehrt an der Person des Spitzenkandidaten ausgerichtet werden.

Und es sind vor allem die unpolitischen, rollenfernen Eigenschaften, die dabei ins Gewicht fallen. Die Logik, der dieses Phänomen zugeschrieben wird, überzeugt: Politische Inhalte werden immer komplexer und Bürger haben immer weniger Zeit, sich mit diesen auseinanderzusetzen. Daher wählen sie sogenannte „kognitive Abkürzungen“. Sie leiten aus den unpolitischen Eigenschaften, über die sie sich schnell ein Urteil bilden können, ihre Einschätzung über die Kandidaten ab. Hier weist sich vor allem die Integrität der Kandidaten als wichtiger gegenüber den anderen unpolitischen Eigenschaften aus.

Was bedeutet dies nun für unsere Debatte um den Bundespräsidenten? Natürlich, er wird nicht direkt gewählt – dennoch wird er aber als prominenter Vertreter des Volkes wahrgenommen. Seine Autorität und seine Daseinsberechtigung in unserem politischen System sind in erster Linie darauf begründet, dass hier jemand jenseits der Grenzen der Parteienpolitik mit Vernunft, Moral und Augenmaß auf die politischen Entwicklungen im Land blickt, positive Entwicklungen fördert und negative offen anspricht. Dadurch wird dieses Amt zu demjenigen, welches am allerstärksten auf unpolitischen Eigenschaften beruht. Wenn diese nun aber schwinden, da die Integrität des Bundespräsidenten in Frage steht, liegt gemäß den Ergebnissen der Sozialforschung nahe, dass der Rückhalt in der Bevölkerung rapide sinken wird. Viel mehr noch, als wenn es sich um einen Minister oder Parteivorsitzenden handeln würde, für den sich eine gewisse durch Tricks und Kniffe unter Beweis gestellte Cleverness sogar positiv auswirken könnte. Man könnte auch sagen: Auf kein Amt wirkt sich ein Skandal potenziell so schädigend aus, wie auf das des Bundespräsidenten.

Literaturhinweise:

Aarts, Cees/Blais, André/Schmitt, Hermann (Hrsg.) ( 2011): Political Leaders and Democratic Elections. Oxford: OUP.

Klein, Markus/Ohr, Dieter (2000): Gerhard oder Helmut? Unpolitische Kandidateneigenschaften und ihr Einfluss auf die Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl 1998, in: PVS 41, 2, 199-224.

 

Die SPD und der Wunsch nach einem allseits beliebten Kandidaten

Seit einigen Wochen schon wird in der SPD die Idee von „Primaries“ nach amerikanischem Vorbild diskutiert. Dies wäre die offene Selektion des Spitzenkandidaten durch die Parteibasis. An dieser Stelle soll einmal dargelegt werden, welche Konsequenzen eine solche Auswahl des Spitzenpersonals haben könnte. Die Qualitäten, die ein erfolgreicher Kandidat bzw. eine erfolgreiche Kandidatin mit sich bringt, hängen nämlich unter anderem von der Art ihrer Selektion und Rekrutierung ab! (vgl. Römmele 2004).

An der Selektion der Kandidaten wird häufig gemessen, wie offen und demokratisch der gesamte Prozess der Kandidatenaufstellung abläuft und inwiefern innerparteiliche Demokratie gesichert ist. Das eine Extrem ist sicherlich die Selektion der Kandidaten unmittelbar durch die Wähler. Eine die Parteien und ihre Mitglieder stärkende Mittelposition ist die Selektion über die Parteimitglieder. Eine sehr geschlossene Form der Selektion wäre die Ernennung durch die Parteispitze.

Interessant ist, dass es auch im internationalen Vergleich sehr häufig keine klaren festgelegten Richtlinien und Regeln gibt, nach denen dieser Vorgang ablaufen soll. Kollegen bezeichneten diesen Vorgang einmal als „secret garden of politics“ (vgl. Gallagher/Marsh 1998) – und das ist es auch!

Bei der Kandidatenselektion über Parteimitglieder finden sich im internationalen Vergleich zahlreiche Variationen: In Belgien finden wir Parteien, in denen Parteimitglieder mit einer bestimmten Parteizugehörigkeitsdauer an dem Prozess der Kandidatenselektion besteiligt sind. In Israel wählen alle Parteimitgleider ihren Kadidaten sowie ihren Parteiführer aus. Auch in der Bundesrepublik gab es bereits Versuche, die Kandidatenselektion offener zu gestalten. So wagte die SPD im Vorfeld der Bundestagswahl 1994 das Experiment, den Parteivorsitzenden durch alle Parteimitglieder wählen zu lassen. Rudolf Scharping setzte sich in einer Urwahl gegen Gerhard Schröder und Heidemarie Wieczorek-Zeul durch und wurde in der Folge auch Kanzlerkandidat der SPD. In jüngster Vergangenheit hat die SPD in Baden-Württemberg ebenfalls mittels einer Urwahl Nils Schmid zum Vorsitzenden gewählt, auch er wurde danach Spitzenkandidat für die Landtagswahl.

Eine geschlossene Selektion liegt vor, wenn der Kandidat von einem Gremium oder der Parteiführung ernannt wird. Auch hier zeigt die Empirie eine ganze Bandbreite an unterschiedlichen Fällen. So finden wir beispielsweise in Großbritannien Parteigremien, welche die Möglichkeit haben, Kandidaten zu ernennen bzw. zu blockieren. Die Parteimitglieder der Liberal Democrats selektieren ihre Kandidaten, die Parteiführung hat allerdings das letzte Wort hierüber. Die Frage nach den Kanzlerkandidaten in der Bundesrepublik lässt sich ebenfalls eher am „geschlossenen“ Ende des Kontinuums festmachen: Zwar werden die Kanzlerkandidaten auf einem Bundesparteitag formal ernannt; allerdings wird die Frage, wer Kandidat werden soll, in informellen Gesprächen in der Parteispitze mit einem festen Blick auf die Umfragewerte geklärt.

Welche Qualitäten haben aber nun Politiker, die auf den unterschiedlichen Wegen in Spitzenämter kommen? Sicherlich ist es so, dass Politiker, die sich schon früh den Wählern (und somit auch den Medien) in Primaries stellen müssen, eine gewisse Kommunikations- und Dialogfähigkeit besitzen müssen. Ihre Sympathie- und Popularitätswerte sind die Währung, die zählt. Sie müssen in einer offenen Wahl letztendlich nicht nur ihre eigenen Parteimitglieder überzeugen sondern auch mögliche Wechselwähler. Dies ist in Zeiten schwindender Parteimitgliederzahlen sowie sinkender Parteiidentifikation sicherlich ein überdenkenswerter Ansatz. Der gewählte Kandidat hat auch über die Parteigrenzen hinweg Zugkraft und Wahlkampf-Potential. Qualitäten von Politikern, die eher geschlossen rekrutiert, d.h. im „strengsten Fall“ von der Parteispitze ernannt werden, sind andere. Sie müssen sich – zumindest in diesem Stadium – nicht den Wählern stellen; sie legen ihr Expertenwissen in die Waagschale, ihre politische Vernetzung, ihr ganzes parlamentarisches und parteipolitisches Know-how.

Blicken wir nun für einen Augenblick auf die deutsche Empirie: Im aktuellen ZDF-Politbarometer liegt der SPD-Vorsitzende Gabriel mit einem Beliebtheitswert von 0,3 deutlich hinter seinen beiden Parteikollegen Steinbrück (1,6) und Steinmeier (1,3). Auf die Frage, mit welchem Kanzlerkandidaten die SPD die besten Chancen habe, nennen 36% der Befragten Steinmeier, 33% Steinbrück und nur 13% Gabriel. Dass dies kein reines SPD-Phänomen ist, zeigt ein Blick auf die vertretenen Unions-Politiker: Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel ist mit einem Wert von 0,9 unbeliebter als ihre Parteifreunde Schäuble (1,4) und de Maizière (1,3); CSU-Chef Horst Seehofer erreicht mit 0,3 ebenfalls keinen überzeugenden Wert.

Vielleicht sollte man nicht gleich die Lanze für amerikanische Primaries brechen, Umfragewerte sind schließlich in erster Linie Momentaufnahmen. Allerdings legen die Zahlen zumindest nahe, den automatischen Zugriff des Pateivorsitzenden auf die Kanzlerkandidatur in Frage zu stellen.

Ein weiteres empirisches Argument dafür liegt in den jüngsten Wahlergebnissen: Wenn sich der derzeitige Trend fortsetzt und die „Volksparteien“ zugunsten der kleineren Parteien nachhaltig an Wählerpotenzial einbüßen, werden sich die Fälle häufen, in denen Koalitionen über Lagergrenzen hinweg geschmiedet werden müssen. Spitzenkandidaten müssen dann umso mehr auch integrativ wirken und im besten Fall zum Fixpunkt einer Koalition werden, die von der Parteibasis eher als Kompromiss denn als Wunschehe gesehen wird. Insofern liegt die SPD durchaus richtig mit ihrer Diskussion…

Literatur:

Gallagher, Michael/Marsh, Michael (Hrsg.) (1998). Candidate Selection in Comparative Perspective. The Secret Garden of Politics. London: Sage Publiciations.

Römmele, Andrea (2004). Elitenrekrutierung und die Qualität politischer Führung. Zeitschrift für Politik, Heft 3, S. 259-276.

 

Demokratieverständnis in der Grundschule – ein Erfahrungsbericht

Das Anliegen unseres Blogs ist es, Erkenntnisse der empirischen Sozialforschung einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Heute möchte ich mich davon ein wenig entfernen und die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung zum Thema „Politik und Kinder“ mit eigenen Erfahrungen illustrieren.

Das Forschungsteam um den Mannheimer Politikwissenschaftler Jan van Deth hat in eindrucksvollen Studien gezeigt, wie sich Kinder schon im Grundschulalter für Politik interessieren. Dabei wurde mit der Mär aufgeräumt, dass die politische Sozialisation erst im Jugendalter stattfinde. Die ZEIT hat über dieses innovative und begeisternde Projekt bereits berichtet.

Ich selbst habe in der vierten Klasse meiner Tochter vor kurzem einen Vormittag zum Thema „Politik und Demokratie“ gestaltet und selten hat mir eine Diskussion so viel Freude bereitet. Am Beginn standen einige „Sammelantworten“ auf die Frage: „Was versteht ihr eigentlich unter Demokratie“? Zwanzig Hände gingen in die Luft. „Man darf dagegen sein und dagegen stimmen“; „man darf protestieren“ (natürlich wurde gleich darauf hingewiesen, dass „dagegen stimmen“ und „protestieren“ nicht das selbe ist); „man muss Kompromisse finden“… Die eigenen Erfahrungsberichte mit dem Protestieren folgten postwendend. Da hatte die Klasse beispielsweise gegen die Übernahme der Patenschaft der Klasse 1a protestiert (man war auf die Übernahme der Patenschaft für die Klasse 1b vorbereitet gewesen, aber nicht auf die 1a), oder auch dagegen, dass die Klasse bei der Auswahl des Schullandheimortes nicht befragt wurde.

Viele der Schülerinnen und Schüler sahen zudem die Hochzeit von Prinz William und Kate im Fernsehen bzw. saßen neben Eltern und Großeltern, die diese Hochzeit verfolgten. Im Unterricht kam so natürlich die Frage auf, warum wir keine Könige hätten und vor allem keine Prinzessinnen in so hübschen Hochzeitskleidern? Der Hinweis auf den Bundespräsidenten befriedigte nicht ganz. Nachdem ich die Aufgaben unseres Präsidenten aufgezählt hatte, fragte ein Schüler: „Eigentlich macht er doch gar nichts, oder? Ist er der Talisman für uns?“

Besonders lebensnah war die Frage, wer denn uns alle bestimmt, wenn Angela Merkel mal Scharlach hat. Gibt es da eine Vertretung, wie etwa in der Schule? Dort ist das klar geregelt: Wenn die Klassenlehrerin krank ist, springt der Kollege ein. Als ich die Vertretungsfrage im Krankheitsfall der Kanzlerin dargelegt hatte, waren alle beruhigt. Beendet haben wir die zwei Stunden, die voll lebhafter Diskussionen, Fragen und Äußerungen waren, mit einem Stoßseufzer einer Schülerin: „Irgendwie ist es doch voll unfair: Ich interessiere mich total für Politik und darf nicht wählen. Mein Papa aber, dem ist Politik ganz egal. Und der darf“.

Die spannende Frage für die Wissenschaft wie für die Politik ist, warum dieses politische Interesse im Kindesalter eigentlich verloren geht. Nicht bei allen natürlich, aber doch bei einigen. Was passiert in der Zeit zwischen 10 und 18? Aber das fragen sich Eltern auch im Hinblick auf viele andere Bereiche…

 

Stuttgart 21 und die Geschichte vom Politik-Erbe

Wenn eine neue Regierung ins Amt kommt, hat sie typischerweise zunächst einmal primär mit den Maßnahmen der Vorgängerregierung zu kämpfen: Deren politisches Erbe tritt sie an. Die künftige Landesregierung von Baden-Württemberg hat sich insbesondere die Entscheidung zu Stuttgart 21 nicht leicht gemacht. Das Projekt war eines der zentralen Themen im Wahlkampf und dementsprechend konkret und ausdifferenziert waren die Positionen aller Parteien. Also wurde in den Koalitionsverhandlungen nun auch ein detaillierter Kompromiss gesucht, der die Wahlkampfankündigungen von Grünen und SPD reflektiert und somit keinen der beiden Koalitionspartner vor das Problem stellt, Wahlversprechen brechen zu müssen.

Dieser Drahtseilakt scheint gelungen zu sein: Der SPD-Forderung nach einer Volksabstimmung wurde entsprochen, zugleich haben die Grünen eine weitere Hürde eingezogen, die das Projekt nehmen muss: Wenn die Gesamtkosten 4,5 Mrd. Euro übersteigen, wird sich das Land an diesen Mehrkosten nicht beteiligen, wodurch das Projekt für die Bahn schnell deutlich an Rentabilität verliert. Hinzu kommt die Vereinbarung, dass das Quorum für Volksentscheide gesenkt werden soll.

Die Klausel, dass ein Drittel der Wahlberechtigten gegen das Projekt stimmen müsste, um es zu kippen, war ein Hauptgrund dafür, dass die Grünen zuletzt von der Idee einer Volksabstimmung Abstand genommen hatten. In der Tat scheint dies eine extrem hohe Hürde zu sein: Ein Drittel der Wahlberechtigten müsste beim Volksentscheid gegen das Projekt stimmen, um es zu stoppen, das wären ca. 2,54 Millionen Menschen. Zum Vergleich: Die Grünen haben bei der Landtagswahl 1,21 Mio. Stimmen bekommen, die SPD 1,15 Mio. Das macht zusammen 2,36 Millionen – die Gegner von S21 müssten also mehr Stimmen bekommen, als Grüne und SPD bei der Landtagswahl zusammen (und diese 2,36 Mio. Stimmen haben immerhin für die Regierungsmehrheit gereicht).

Eine Absenkung des Quorums scheint also geboten. In Berlin liegt es beispielsweise bei 25 Prozent, was bereits als hoch empfunden wird; in Hamburg wurde die Schwarz-Grüne Schulreform erfolgreich verhindert, dafür war ein Quorum von 20 Prozent nötig. Ob sich die Opposition in Baden-Württemberg davon aber beeindrucken lassen wird, ist fraglich. Schließlich hatte Schwarz-Gelb noch vor Kurzem ebenfalls eine Absenkung des Quorums vorgeschlagen, war damit aber an der damaligen Opposition von SPD und Grünen gescheitert, die eine Abschaffung forderten.

Positiv aus Sicht der neuen Regierung ist bei alledem jedoch zumindest dies: Man hat einen Weg gefunden, die Entscheidung der Vorgängerregierung auf den Prüfstand zu stellen und die Bürger in diesen Prozess einzubeziehen. Damit befreit man sich von der Klammer des Politik-Erbes: Meistens sind Regierungen durch Entscheidungen ihrer Vorgänger so stark in ihren Handlungsspielräumen eingeschränkt, dass sie gar nicht die Möglichkeiten haben, substanzielle Änderungen vorzunehmen. Und wenn sie es doch tun, wie etwa die Bundesregierung mit dem Beschluss zur Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke, sind massive Widerstände und Einsprüche von allen Seiten vorprogrammiert.

Apropos Atomkraft: Umfragen zufolge war nicht S21, sondern der Atomausstieg das entscheidende Thema der Landtagswahl. Hier sieht sich die künftige Regierung vor der Herausforderung, Kraftwerke abschalten zu wollen und zugleich Anteilseignerin beim Kraftwerksbetreiber EnBW zu sein. Diese Situation beinhaltet Konfliktpotenzial. Über den Einstieg bei EnBW hat übrigens kurz vor der Wahl die alte Landesregierung entschieden: Also doch wieder die alte Geschichte vom Politik-Erbe …