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Das Kieler Landeshaus im Schatten des Berliner Reichstags?

Gut zwei Monate vor der Bundestagswahl hat das landespolitische Geschehen in Schleswig-Holstein die Bundespolitik wenigstens für den Moment aus dem Zentrum des öffentlichen Interesses verdrängt. Bedenkt man, dass eine Landesregierung, überdies eine, die von den gleichen Parteien getragen wird wie die Bundesregierung, auf des Messers Schneide steht, ist das nur allzu verständlich. Wie diese Krise ausgehen wird und ob der schleswig-holsteinische Landtag den Weg für eine Landtagswahl am 27. September ebnen wird, lässt sich im Moment nicht absehen. Dies gilt umso mehr, als geheime Abstimmungen gerade im nördlichsten Bundesland zu erheblichen Überraschungen führen können. Sollte es tatsächlich zu einer vorgezogenen Landtagswahl kommen, stellt sich freilich die Frage, ob das Zusammentreffen von Landes- und Bundestagswahl Konsequenzen für das Wahlverhalten hätte.

Im deutschen Mehrebenensystem lassen sich die verschiedenen Politikarenen generell nicht scharf voneinander trennen. In Landtagswahlkämpfen spielt daher häufig die Bundespolitik eine wichtige Rolle. Auch Bürger reagieren mit ihrem Landtagswahlverhalten auf die Bundespolitik. Beispielsweise nutzen einige die Stimmabgabe bei einer Landtagswahl, um ihrer Unzufriedenheit mit der Bundesregierung auszudrücken. Diese Verhaltensmuster haben dazu beigetragen, dass Landtagswahlen häufig als Nebenwahlen charakterisiert werden. Diese Charakterisierung mag in etlichen Fällen übertrieben sein. Bei Landtagswahlen, die am Tag der Bundestagswahl stattfinden, scheint sie der Realität jedoch recht nahe zu kommen. Dafür sprechen empirische Befunde zu parallel abgehaltenen Land- und Bundestagswahlen in der Vergangenheit. Parteien erzielten bei beiden Wahlen beinahe identische Stimmenanteile, und nur sehr wenige Wähler machten von der Möglichkeit des Stimmensplittings zwischen Land und Bund Gebrauch. Zudem scheint die Landtagswahlentscheidung vergleichsweise stark von bundespolitischen Motiven bestimmt gewesen zu sein. Die Zusammenlegung trug somit zu einer verstärkten bundespolitischen Durchdringung von Landtagswahlen bei.

Vor diesem Hintergrund liegen die Schlussfolgerungen für Schleswig-Holstein recht klar auf der Hand. Sollte die Landtagswahl auf den 27. September vorverlegt werden, wird es die Landespolitik vergleichsweise schwer haben, im Wahlkampf eine prominente Rolle zu spielen. Zudem wird das Landtagswahlverhalten relativ stark von bundespolitischen Faktoren beeinflusst werden. Es ist also damit zu rechnen, dass die Landtagswahl stärker als bei getrennten Urnengängen eine bundespolitische Nebenwahl sein wird. Damit ist freilich noch nicht gesagt, welche Parteien davon profitieren werden. Denn wie schnell sich ein vermeintlich stabiler Bundestrend umkehren kann, das haben nicht zuletzt die Wahljahre 2002 und 2005 gezeigt.

 

Vom Hindukusch an die Wahlurne? Der Afghanistan-Einsatz und die Wahl 2009

Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan ist nicht sonderlich populär. Wie der jüngste ARD-Deutschlandtrend zeigt, stehen die Deutschen dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan mehrheitlich kritisch gegenüber. Rund zwei Drittel der Befragten plädieren dafür, die Bundeswehr aus Afghanistan möglichst schnell abzuziehen. Auch das jüngste ZDF-Politbarometer weist eine, wenngleich weniger deutliche Mehrheit gegen den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr aus. Diese Muster sind nicht neu. Bereits seit einiger Zeit sprechen sich in Bevölkerungsumfragen – je nach Institut und Frageformulierung – deutliche Mehrheiten oder bedeutende Minderheiten gegen die Fortsetzung des Afghanistan-Engagements aus. Folglich könnte eine Partei, der es gelingt, am 27. September die Gegner dieses Bundeswehreinsatzes auf ihre Seite zu bringen, mit erheblichen Stimmengewinnen rechnen. Gibt es realistische Chancen dafür?

Außenpolitische Themen haben es nicht leicht, das Wahlverhalten zu beeinflussen oder gar über den Wahlausgang zu entscheiden. Viele Bürger schenken der Außenpolitik häufig keine allzu große Aufmerksamkeit. Daher sind ihre Urteile über solche Fragen nicht sehr fundiert und recht leicht beeinflussbar. Aus diesem Grund ist bei der Interpretation entsprechender Umfrageergebnisse besondere Vorsicht geboten. Da viele Wahlberechtigte außenpolitischen Themen eine geringe Bedeutung beimessen, lassen sie solche Fragen nicht in ihre letztliche Stimmentscheidung einfließen. Innenpolitische Themen liegen für viele Bürger wesentlich näher. Daher gelten außenpolitische Fragen für die innenpolitische Meinungsbildung im allgemeinen und für Wahlverhalten im besonderen als nicht allzu bedeutsam.

Aber auch zu dieser Regel gibt es Ausnahmen. Man denke nur an die Bundestagswahl 2002. Im Sommer 2002 setzte Gerhard Schröder einen möglichen Krieg im Irak auf die innenpolitische Agenda. In den letzten Wochen vor der Wahl gewann das Thema merklich an Einfluss auf das Wahlverhalten und trug entscheidend dazu bei, dass die rot-grüne Bundesregierung nicht von einer schwarz-gelben Bundesregierung unter Edmund Stoiber abgelöst wurde. Schröder gelang es offenbar, den Bürgern die Wichtigkeit des Irak-Themas vor Augen zu führen und sie dabei auch emotional anzusprechen. Dass gerade letzteres nicht unwichtig ist, zeigen Analysen zum Irak-Krieg 1991. Denn damals sorgte vom Krieg ausgelöste Angst nicht nur dafür, dass die Bundesbürger die Regierungsparteien, die den US-geführten Militäreinsatz unterstützten, schlechter bewerteten. Vielmehr trug Angst sogar dazu bei, dass Bürger langfristige Parteiloyalitäten in Frage stellten. Die innenpolitische Meinungsbildung kann also durchaus erheblich auf die Außenpolitik reagieren.

Ob das im Falle des Afghanistan-Einsatzes gelingen wird, ist damit noch nicht gesagt. Zwar wirbt die Linke seit langem als entschiedene Gegnerin des Bundeswehreinsatzes um Stimmen. Doch scheint sie damit nicht durchzudringen. Das mag zum einen daran liegen, dass das Thema wenige Menschen anspricht. Zum anderen mag eine Rolle spielen, dass ein Votum für die Linke aus anderen Gründen für etliche Bürger kaum in Frage kommt. Würden andere Parteien eine einsatzkritische Position vertreten, stiegen die Chancen für Einflüsse der Afghanistan-Frage auf die Wahlentscheidung. Erst recht würde eine Emotionalisierung des Themas dessen Durchschlagskraft an der Wahlurne erhöhen. Damit wäre etwa dann zu rechnen, wenn die Zahl gefallener Bundeswehrsoldaten dramatisch anstiege oder aber ernstzunehmende Anschlagsdrohungen gegen Deutschland gerichtet würden. So betrachtet, bleibt zu hoffen, dass die Afghanistan-Frage am 27. September wirkungslos bleibt – ausgeschlossen sind solche Effekte freilich nicht.

Literaturempfehlungen

Schoen, Harald, 2004: Der Kanzler, zwei Sommerthemen und ein Foto-Finish. Priming-Effekte bei der Bundestagswahl 2002, in: Frank Brettschneider/Jan van Deth/Edeltraud Roller (Hrsg.), Die Bundestagswahl 2002. Analysen der Wahlergebnisse und des Wahlkampfes, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 23-50.

Schoen, Harald, 2006: Beeinflusst Angst politische Einstellungen? Eine Analyse der öffentlichen Meinung zum Golfkrieg 1991, in: Politische Vierteljahresschrift 47, 441-464.

 

Die SPD und die Überhangmandate

Die Überhangmandate lassen die Abgeordneten des Bundestags bis zum Ende der Legislaturperiode nicht los. Am kommenden Freitag wird ein Gesetzentwurf der Grünen zur Vermeidung von Überhangmandaten bei der kommenden Bundestagswahl beraten. Diese Frage, die sonst eher nur Wahlrechtsfeinschmecker interessieren würde, darf diesmal mit erheblichem öffentlichem Interesse rechnen. Denn bei der Wahl am 27. September könnten laut Simulationen Überhangmandate dafür sorgen, dass eine schwarz-gelbe Koalition im Bundestag über eine Mandatsmehrheit verfügt, die sie andernfalls nicht erhielte (siehe auch meinen früheren Beitrag sowie Beiträge von Thomas Gschwend und Thorsten Faas). Anders als bei früheren Wahlen könnte man die Überhangmandate nicht mehr als wahlsystemisches Kuriosum ohne praktisch-politische Bedeutung betrachten. Vielmehr könnte diese vom Bundesverfassungsgericht monierte Regelung zu einem echten Machtfaktor werden.

Die Meinungsbildungsprozesse in Parteien und Fraktionen sind in vollem Gange. Die Linke signalisierte bereits Unterstützung für den Vorschlag der Grünen. Union und FDP sprachen sich – vermutlich aus nahe liegenden Gründen – gegen den Entwurf aus. Die Rolle des Züngleins an der Waage fällt damit den sozialdemokratischen Abgeordneten zu. Die SPD hat sich Zeit genommen für einen längeren Abwägungsprozess. Nachdem aus der Fraktion Signale zugunsten des Grünen-Vorschlags ausgesandt wurden, scheint die SPD-Führung nun eher dazu zu neigen, nicht für den Entwurf der Grünen zu votieren. Doch damit muss das letzte Wort noch nicht gesprochen sein.

Unabhängig davon, wie sich die SPD letztlich entscheiden wird, dürfte der sorgfältige Abwägungsprozess der Sozialdemokraten damit zusammenhängen, dass sie sich in einer interessanten Situation befinden. Würden die Sozialdemokraten für den Gesetzentwurf der Grünen votieren, würde das vielen Beobachtern angesichts der vermutlichen Auswirkungen der Überhangmandate auf die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag durchaus einleuchten. Allerdings entbehrte ein solches Votum nicht einer gewissen Pikanterie, und zwar aus zwei Gründen. Entschieden sich die Sozialdemokraten für den Entwurf der Grünen, würden SPD, Grüne und die Linke in einer politisch brisanten Frage gemeinsam abstimmen. Mancher politische Gegner dürfte das wohl als Indiz oder gar Beweis dafür werten, dass die Sozialdemokraten ihre Schwüre, auf Bundesebene keine sogenannte rot-rot-grüne Koalition zu bilden, vergäßen, sobald ein Bündnis mit der Linken den Sozialdemokraten eine Machtperspektive eröffnete. Aus der Wahlrechtsfrage könnte also Wahlkampfmunition werden.

Eine zweite Komplikation ergibt sich aus der vermutlichen Wirkung der angestrebten Wahlrechtsänderung. Die Vermeidung von Überhangmandaten würde dazu führen, dass eine Koalition aus Union und FDP weniger wahrscheinlich eine Mehrheit im Bundestag erhält. Nimmt man zusätzlich an, dass die Koalitionsaussagen der Parteien auch nach dem 27. September noch gelten, heißt das, dass eine Fortsetzung der Großen Koalition wahrscheinlicher würde. Das Klima in dieser Koalition dürfte allerdings nicht dadurch verbessert werden, dass ein Partner kurz vor dem Wahltag die eherne Koalitionsregel, dass die Bündnispartner einheitlich abstimmen, bricht. Mit anderen Worten: Die Große Koalition würde wahrscheinlicher, ihre Arbeit aber wohl nicht einfacher.

 

Grüne Koalitionsspiele

Mögliche Koalitionen nach der Bundestagswahl beschäftigen die Grünen schon seit einiger Zeit. Wir erinnern uns: Vor der Delegiertenkonferenz im Mai scheiterte die Parteiführung mit dem Versuch, eine Aussage zugunsten einer so genannten Ampelkoalition ins Wahlprogramm aufzunehmen, am Widerstand der Parteibasis. Der daraufhin verabschiedete Wahlaufruf enthält denn auch kein Plädoyer für eine Ampelkoalition. Stattdessen wird eine so genannte Jamaikakoalition abgelehnt, und der Aufruf propagiert die Verhinderung einer schwarz-gelben Koalition als zentrales Ziel: „Es braucht starke Grüne, um schwarz-gelb zu verhindern.“ Nun, offenbar auch unter dem Eindruck sozialdemokratischer Wahl- und Umfrageergebnisse, bringt die Führung der Grünen eine schwarz-grüne Koalition ins Spiel – und bietet damit eine neue, für manchen Beobachter konsequente, für andere wohl eher originelle Interpretation ihres koalitionspolitischen Credos.

Doch wie denken darüber Anhänger und (potentielle) Wähler der Grünen? Löst diese Koalition Begeisterung in ihren Reihen aus? Werden sie für eine solche Koalition engagiert Wahlkampf führen? Ergebnisse von Onlineumfragen, die methodenbedingt besonders vorsichtig zu interpretieren sind, zeigen, dass je rund ein Drittel der Anhänger und Wähler der Grünen eine solche Koalition für (eher) wünschenswert hält. Die Hälfte beider Gruppen lehnt ein solches Bündnis hingegen mehr oder minder deutlich ab. Damit schneidet die schwarz-grüne Koalition etwas besser ab als ein Jamaika-Bündnis, doch merklich schlechter als andere. Die Herzen der grünen Anhänger und Wähler schlagen unzweifelhaft für ein rot-grünes Bündnis, was an Zustimmungsraten von rund achtzig Prozent abzulesen ist. Immerhin jeweils rund die Hälfte befürwortet eine Ampelkoalition, die je rund ein Drittel der Anhänger und Wähler ablehnt. Ein Bündnis mit SPD und der Linken stößt bei der Hälfte der Anhänger auf positive Resonanz, bei 40 Prozent auf Widerstand; in der Wählerschaft findet dieses Bündnis jedoch mehr Gegner als Unterstützer – und schneidet damit ähnlich ab wie Schwarz-Grün.

Vor diesem Hintergrund ist nicht ohne weiteres damit zu rechnen, dass grüne Anhänger und Sympathisanten mit Herzblut für ein schwarz-grünes Bündnis werben werden. Auch sprechen diese Ergebnisse nicht unbedingt dafür, dass die Grünen in einem möglichen Koalitionspoker ihren Preis mit der Karte „Schwarz-Grün“ sehr glaubwürdig nach oben treiben können. Aber vielleicht wird es der Grünen-Führung ja noch gelingen, ihrer Basis im Wahlkampf ein Bündnis mit der Union schmackhaft zu machen, und sei es nur als „kleineres Übel“. Womöglich ist der grüne Beitrag zur Koalitionsdiskussion aber auch nur dazu gedacht, CDU und CSU in einen Streit über den Charme eines Bündnisses mit den Grünen zu verwickeln. Dazu bedürfte es nur einiger Unionspolitiker, die Schwarz-Grün propagieren – und außer acht lassen, dass eine solche Koalition in den Reihen der Unionsparteien mindestens so wenig beliebt ist wie in jenen der Grünen.

 

Professoren, Grafen und Barone an der Wahlurne

Spätestens mit seinen Einlassungen zur Opel-Frage hat sich Gerhard Schröder in der deutschen Innenpolitik zurückgemeldet. Der sozialdemokratische Altmeister der Wahlkampfrhetorik wandte sich gegen Wirtschaftsminister zu Guttenberg und bedachte ihn mit der Bezeichnung „dieser Baron aus Bayern“. Damit knüpfte der Altkanzler an den Wahlkampf 2005 an, in dem er Paul Kirchhof gerne und häufig als „diesen Professor aus Heidelberg“ titulierte. Diese Rhetorik zielt offenbar darauf, an Ressentiments „der kleinen Leute“ gegen „die da oben“ zu appellieren, mit dem Ziel, die Wahlchancen des politischen Gegners zu schmälern und die eigenen zu steigern. Doch reagieren Bürger bei der Wahlentscheidung auf akademische Titel oder Adelstitel tatsächlich mit Stimmenentzug? Lassen sie solche Titel bei der Stimmabgabe kalt? Oder belohnen sie Professoren, Doktoren und Aristokraten gar mit einem Bonus?

Befunde der empirischen Wahlforschung sprechen dafür, dass akademische Titel und Adelstitel die Wahlchancen von Kandidaten nicht drastisch beeinflussen. Bei der Bundestagswahl 2005 steigerte ein Adelstitel den Stimmenanteil von Direktkandidaten um weniger als einen Prozentpunkt. In ähnlich geringem Umfang profitierten Wahlkreiskandidaten von einem akademischen Titel. Befunde zur bayerischen Landtagswahl 2003 deuten darauf hin, dass Adelige einen kleinen Malus hinnehmen mussten. Uneinheitlich sind die bayerischen Ergebnisse zu akademischen Titeln. Während ein Doktortitel den Stimmenanteil eines Bewerbers um knapp zwei Prozentpunkte steigerte, minderte ein Professorentitel die Wählerunterstützung um etwa die gleiche Marge.

Akademische Titel und Adelstitel scheinen also nicht zwangsläufig für einen durchschlagenden Wahlerfolg zu sorgen, rauben ihren Trägern aber auch nicht automatisch jede Chance auf einen großen Wählerzuspruch. So betrachtet, genügt es nicht, einem politischen Gegner das Etikett „Professor“ oder „Baron“ anzuheften, um seine Wahlaussichten zu mindern oder ihn gar politisch zu erledigen. Offenbar muss man ihm dazu auch Fehler, Versäumnisse oder abstruse Vorschläge nachweisen können. Ob das Gerhard Schröder und der SPD im Jahr 2009 mit dem Wirtschaftsminister wie im Jahr 2005 mit dem Schattenfinanzminister gelingen wird, ist ungewiss. Umso interessanter wird es sein, im Wahljahr 2009 zu beobachten, welches Bild zu Guttenbergs sich in der öffentlichen Wahrnehmung durchsetzen wird: das eines hartherzigen Marktradikalen oder das eines prinzipientreuen Hüters wirtschaftlicher Vernunft.

 

Steinmeier auf Stoibers Spuren?

„Die SPD hat viel aufzuholen“ stellte Renate Köcher vom Institut für Demoskopie in Allensbach in ihrem jüngsten demoskopischen Bericht für die Frankfurter Allgemeine Zeitung fest. Ein wichtiges Defizit erkannte sie darin, dass Frank-Walter Steinmeier in der Kanzlerfrage deutlich hinter Angela Merkel zurückliege. Bereits am Freitag darauf vermeldete das ZDF-Politbarometer: „Steinmeier legt bei Kanzlerfrage zu“. In der jüngsten Erhebung der Forschungsgruppe Wahlen ist demnach der Vorsprung Angela Merkels auf ihren Herausforderer von rund 30 Prozentpunkten im März auf 20 Prozentpunkte zusammengeschmolzen. Binnen weniger Wochen ist Steinmeiers Rückstand also um ein Drittel geschrumpft. Sollte es für den Außenminister dann nicht ein Leichtes sein, in den Monaten bis zum Wahltag mit der Kanzlerin gleichzuziehen? Haben wir also den Beginn einer fulminanten Aufholjagd erlebt?

Auszuschließen ist das nicht, aber eine Garantie dafür gibt es erst recht nicht. Die Zustimmung zu Frank-Walter Steinmeier in der Kanzlerfrage dürfte wesentlich davon profitiert haben, dass die SPD am vorausgegangenen Wochenende ihren Wahlkampfauftakt mit dem Außenminister in der Hauptrolle inszeniert hatte und die Massenmedien ausführlich über dieses Ereignis und die Wahlkampfbotschaften der SPD berichtet hatten. Derartige Konstellationen sind nicht neu. Beispielsweise beherrschte zu Beginn des Wahljahres 2002 das denkwürdige Wolfratshauser Frühstück Edmund Stoibers mit Angela Merkel, das dem damaligen bayerischen Ministerpräsidenten die Kanzlerkandidatur der Unionsparteien bescherte, die Medienberichterstattung. Nach diesem Ereignis schnitt Stoiber in der Kanzlerfrage merklich besser ab als vorher. Allerdings war dies nicht der Auftakt zu einer erfolgreichen Aufholjagd, denn Stoiber gelang es – laut Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen – im gesamten Wahljahr nicht, den Amtsinhaber Gerhard Schröder in der öffentlichen Meinung auszustechen. Auch in den USA steigt die in Umfragen gemessene Zustimmung zu einem Präsidentschaftskandidaten regelmäßig in den Tagen nach seiner Nominierung deutlich an. Doch dieser Popularitätszuwachs ist oft nicht von langer Dauer. Denn nach einem Nominierungsparteitag mit seinen einseitig positiven Aussagen über einen Kandidaten ziehen bald wieder andere Ereignisse und für den Bewerber weniger angenehme Meldungen die Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit auf sich.

Die SPD und ihr Kanzlerkandidat sind daher gut beraten, den jüngsten Popularitätsschub Steinmeiers nicht überzubewerten. Er zeigt, dass gute Öffentlichkeitsarbeit Früchte tragen kann, und kann daher als Ansporn für die künftige Arbeit dienen. Doch sollte man ihn nicht als Beleg dafür missverstehen, dass Frank-Walter Steinmeier – wie Gerhard Schröder im Jahr 2005 – einen Rückstand in der Wählergunst bis zum Wahltag in einen Vorsprung verwandeln werde. Etwas aussagekräftiger wäre wohl das Ausbleiben eines Popularitätsschubs gewesen. Denn wenn es dem SPD-Kandidaten selbst unter derart günstigen medialen Bedingungen nicht gelungen wäre, in der öffentlichen Meinung Boden gutzumachen, hätte man sich in der SPD – allem demonstrativen Optimismus zum Trotz – sehr ernsthaft mit einigen unangenehmen Fragen beschäftigen müssen.

 

Ein verfassungswidriges Zünglein an der Waage?

Wahlsystemfragen gelingt es nur selten, über einen eng umgrenzten Spezialistenzirkel hinaus öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Die Überhangmandatsklausel bildet dazu keine Ausnahme. Vermutlich hat mancher Beobachter sogar den Eindruck gewonnen, sie diene vor allem dazu, Institutionen der politischen Bildung eine Legitimationsgrundlage zu schaffen und Examenskandidaten verschiedener Studienfächer in Verlegenheit zu bringen. Im Juli 2008 jedoch bündelte diese Regelung das Interesse der Öffentlichkeit. Denn das Bundesverfassungsgericht verwarf das gültige Bundestagswahlsystem wegen des mit den Überhangmandaten zusammenhängenden Problems des so genannten „negativen Stimmgewichts“. Allerdings forderte es nicht eine umgehende Änderung des Wahlsystems, sondern gab dem Gesetzgeber dafür bis Ende 2011 Zeit. Diese Entscheidung begründete es vor allem mit der Komplexität der zu regelnden Materie.

Diese Entscheidung dürfte den Verfassungsrichtern umso leichter gefallen sein, als Überhangmandate bisher die Machtverteilung zwischen parlamentarischer Mehrheit und Minderheit, also die zentrale Machtfrage in der parlamentarischen Demokratie, im Kern unberührt ließen. Aus der Tatsache, dass bislang noch keine Regierung ihre Mehrheit Überhangmandaten zu verdanken hatte, folgt freilich nicht, dass dies im Jahr 2009 ebenfalls so sein wird. Die Zukunft ist nicht notwendigerweise eine Fortschreibung der Vergangenheit. Dies gilt nicht nur für Aktien, die nach jahrzehntelang aufsteigender Tendenz binnen kurzer Zeit dramatisch an Wert verlieren, sondern auch in der Politik können sich die Verhältnisse grundlegend verändern.

Nimmt man – bei aller methodenbedingter Vorsicht – etwa momentane Umfrageergebnisse zum Maßstab, erscheint es beispielsweise nicht ausgeschlossen, dass bei der Bundestagswahl 2009 Union und FDP zwar auf der Grundlage ihrer Zweitstimmenergebnisse keine parlamentarische Mehrheit erhalten, aber Überhangmandate für die Union eine christlich-liberale Mehrheit im Bundestag ermöglichen. Die neue Bundesregierung könnte somit ihre parlamentarische Mehrheit einer vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Regel verdanken. Es ist eine offene Frage, ob eine solche Regierung – getreu dem in verschiedenen parteipolitischen Konstellationen bewährten Grundsatz „Mehrheit ist Mehrheit“ – gebildet würde, wie es um ihr Ansehen und ihre Durchsetzungsfähigkeit bestellt wäre und ob auf juristischem Wege gegen sie vorgegangen würde. In jedem Fall hat das Bundesverfassungsgericht eine politisch delikate Konstellation geschaffen, die Anlass für manche Diskussion bieten dürfte.

 

Obama als Wahlkämpfer der CSU?

Der Star der vergangenen Gipfelwoche war zweifelsohne US-Präsident Barack Obama. Ob auf dem NATO-Jubiläumsgipfel oder auf dem EU-USA-Gipfel, seine Reden fanden große öffentliche Aufmerksamkeit und Resonanz. Als inhaltlich bemerkenswert gelten vielen Beobachtern seine Plädoyers für eine atomwaffenfreie Welt und für eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei. Weitgehend unbeachtet blieb jedoch, dass der amerikanische Präsident mit seiner zweiten Forderung – vermutlich ungewollt – in den deutschen Europawahlkampf eingegriffen haben könnte, und zwar nicht zuletzt zugunsten der CSU.

Wie ist Obama zum Wahlkämpfer der Christsozialen geworden? Die CSU zieht in den Europawahlkampf unter anderem mit der Forderung, in Deutschland über europapolitische Fragen Volksabstimmungen abzuhalten. Dadurch würde Bürgern die Möglichkeit eröffnet, aus ihrer Sicht falsche Entscheidungen europapolitischer Eliten zu korrigieren. Diese Aussicht dürfte vielen Bürgern aber allzu abstrakt und akademisch erscheinen, solange nicht in eine konkrete europapolitische Fehlentscheidung droht. Die CSU weist daher gerne auf ausgewählte Beispielsfälle hin, in denen ein solches EU-Referendum seine segensreichen Wirkungen entfalten könnte. Besonders prominent wird stets der EU-Beitritt der Türkei genannt. Dabei rechnet die CSU-Führung offenbar damit, dass viele Deutsche (inner- wie außerhalb Bayerns) diesen Beitritt ablehnen und daher die Aussicht auf eine entsprechende Volksabstimmung als Verheißung begreifen dürften. Bis vor kurzem musste sich die CSU jedoch ernsthafte Sorgen darüber machen, ob dieses Kalkül aufgehen würde. Denn die Türkei-Frage schien von der politischen Tagesordnung verschwunden und damit auch ihres Mobilisierungspotentials beraubt: Warum sollten Bürger ihr Votum am 7. Juni von der Aussicht auf eine Volksabstimmung über eine europapolitische Entscheidung abhängig machen, wenn es zu einer solchen Entscheidung ohnehin nicht käme? Obamas Forderung hat die Lage deutlich verändert. Er hat dieser Frage neue Aktualität verliehen, so dass viele türkeikritische Bürger einen EU-Beitritt der Türkei als reale Gefahr ansehen könnten. Im Ergebnis dürfte die CSU-Forderung nach europapolitischen Volksabstimmungen werbewirksamer geworden sein. Die Partei hat nun einen Anreiz, die von Obama angestoßene öffentliche Diskussion über die Türkei-Frage zumindest bis zum Europawahltag am Köcheln zu halten.

Der einzige Pferdefuß dieser unerbetenen, aber wohl doch willkommenen Wahlhilfe könnte für die CSU darin liegen, dass Obamas Plädoyer aus manchen türkeikritischen Bürgern Beitrittsbefürworter machen könnte. Zwar deuten empirische Befunde darauf hin, dass die Deutschen sich in ihrer Haltung zum EU-Beitritt der Türkei von Parteinahmen politischer Eliten nicht wesentlich beeinflussen lassen. Doch stammen diese Ergebnisse aus der Vor-Obama-Zeit. Es bleibt abzuwarten, ob Obamas Stern so hell leuchtet, dass er diese Regelmäßigkeit außer Kraft setzt. Sollte ihm das nicht gelingen, kann sich die CSU weiterhin über Wahlhilfe von unerwarteter Seite freuen.

 

Alles neu macht Horst Seehofer?

Am vergangenen Samstag nominierte die CSU auf einer Delegiertenkonferenz in Erlangen ihre Listenkandidaten für die Bundestagswahl. Viele Berichte darüber wiesen darauf hin, dass die CSU erstmals bei der Besetzung der ersten zehn Listenplätze auf einen Geschlechter- und Regionalproporz geachtet und „fünf Frauen und fünf Franken“ nominiert habe. Wen hätte diese Innovation überraschen sollen angesichts des demonstrativen Erneuerungswillens des neuen Parteivorsitzenden? War das nicht eine längst überfällige Konsequenz aus den christsozialen Turbulenzen der vergangenen Monate und Jahre, die auch Beobachtern jenseits des weiß-blauen Freistaats tiefe Einblicke in die Verästelungen der komplizierten landsmannschaftlichen Verhältnisse in Bayern gewährten?

Allein, die vermeintliche Neuerung war keine. Wirft man einen Blick auf den Listenvorschlag der CSU zur Bundestagswahl 2005, findet man auf den ersten zehn Plätzen fünf Frauen und fünf Franken. Geschlechterproporz und regionale Ausgewogenheit wurden also bereits 2005 eingehalten, auch wenn dieses Jahr in der politischen Zeitrechnung Bayerns und der CSU mittlerweile zur grauen Vorzeit zu gehören scheint. Der CSU ist es also gelungen, in den Medien eine Neuigkeit zu platzieren, die keine ist, und auf diesem Weg – vermutlich gewünschte – Signale an potentielle Wähler auszusenden. Dies ist umso bemerkenswerter, als die meisten Bewerber auf den ersten zehn CSU-Listenplätzen in als „sicher“ geltenden Wahlkreisen kandidieren und ihre Platzierung auf der Liste daher ohnehin vor allem symbolische Bedeutung hat. So betrachtet, scheint das Geschehen dem Kommunikationsmanagement der Partei ein besseres Zeugnis auszustellen als einer kritischen, allein an der politischen Substanz interessierten Berichterstattung.