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Die Desintegration der CDU, oder: there are no leaders without followers!

AndreaDie Union hat den zweiten Rücktritt innerhalb einer Woche zu verkraften: Nach der Ankündigung des hessischen Ministerpräsidenten und CDU-Vize Roland Koch, sich aus seinen politischen Ämtern zurückzuziehen, ist nun Bundespräsident Horst Köhler von seinem Amt zurückgetreten. Dies wird ohne Zweifel die bisher härteste Probe für Angela Merkel, die nun mit Blick auf das Bundespräsidialamt Entscheidungen zu fällen hat, die auch das von ihr geführte Kabinett betreffen könnten. Und abgesehen von personellen Fragen kommt eine weitere, noch größere Herausforderung auf die Parteichefin zu. Denn wir beobachten bei der CDU strukturell gesehen nun Tendenzen, wie sie sich auch bei der SPD der späten Schröder-Jahre gezeigt haben: Wenn nicht alle parteiinternen Strömungen angemessen abgebildet werden können, verliert die Partei ihre Integrationskraft und dadurch nicht zuletzt auch ihren Markenkern.

Dabei gibt es zwischen den beiden Volksparteien jedoch mindestens einen wichtigen Unterschied: Während die Zersetzung der SPD mit der massiven Abwanderung der Wähler (und mancher Politiker) zur Linken zu einer massiven Verschiebung innerhalb des Parteiensystems geführt hat, ist nicht abzusehen, ob die enttäuschten Köpfe und Anhänger der Union ebenfalls in anderen parteilichen Gruppierungen des Systems aufgefangen werden können oder aber nach außen abwandern werden – die Politiker beispielsweise in die Wirtschaft, die Parteianhänger zur großen Gruppe der Nichtwähler. Die Worte von Roland Koch, er sehe für sich keinen ausreichenden politischen Gestaltungsspielraum, müssen so gesehen in der gesamten Union und auch darüber hinaus als Warnsignal verstanden werden. Denn die Alternative zur Repräsentation solcher Strömungen in Parlamenten und Regierungen ist, dass sie nicht repräsentiert sind.

Horst Köhler hätte gerade in Zeiten der Finanzkrise mit all seiner national und international gesammelten Expertise durchaus wichtige Akzente setzen können. Er hat es jedoch nicht getan und hinterlässt daher auch keine große Lücke. Allerdings macht er das große politische Problem der CDU deutlich, das zwangsläufig zur großen politischen Herausforderung Angela Merkels werden wird: Gelingt es ihr, personell wie strukturell alle Positionen ihrer Partei aufzunehmen? Oder hält der aktuelle Trend der Desintegration in der Union an?

 

Hannelore Rüttgers – oder was?

Nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen sind als Folge der schnellen Absage von Gesprächen mit der Linkspartei die Weichen nun erst einmal auf „Große Koalition“ gestellt. Die Frage, wer denn in einer solchen Regierungskonstellation den Ministerpräsidenten zu stellen hat, scheint offenbar ganz klar zu sein. Die CDU „natürlich“, wie immer wieder argumentiert wird. Zur Begründung wird das Kriterium der Stimmenanzahl bemüht. Weil die CDU laut amtlichem Endergebnis exakt 5982 Stimmen mehr erhalten hat als die SPD, sei es doch wohl klar, dass sie den Ministerpräsidenten auch stellen müsse – so oder so ähnlich war es dieser Tage der Presse zu entnehmen.

Mal ganz abgesehen von der Frage, ob ein solches Kriterium in einem parlamentarischen System auch tatsächlich viel Sinn ergibt, zeigt die Empirie jedenfalls keine reflexartige Beziehung in Koalitionsregierungen, der zu Folge immer die nach Stimmen stärkste Partei den Regierungschef stellen muss.

Ein paar Beispiele gefällig? Unser Nachbarland Österreich hat das auf der Bundesebene schon drei Mal erlebt. Zuletzt nach der Nationalratswahl 1999. Die konservative Österreichische Volkspartei (ÖVP) unter der Führung von Wolfgang Schüssel ist nach Stimmen nur drittstärkste Kraft geworden, nach der sozialdemokratischen SPÖ und der FPÖ von Jörg Haider. Nach dem Scheitern von Koalitionsverhandlungen mit der SPÖ führte Wolfgang Schüssel als Bundeskanzler ab dem 4. Februar 2000 eine ÖVP-FPÖ-Koalition an, obwohl wohlgemerkt die FPÖ nach der Wahl die „stärkere“ Partei war. 1953 und 1959 ist der ÖVP Kandidat ebenfalls Bundeskanzler geworden, obwohl die mitregierenden Sozialdemokraten mehr Stimmen bei der Wahl bekommen hatten.

Aber auch in anderen Ländern, die an Koalitionsregierungen gewöhnt sind, finden sich solche Beispiele. Der schwedische Zentrumspolitiker Fälldin etwa wurde nach der Wahl 1979 zum Ministerpräsidenten gewählt, obwohl damals die bürgerlich-konservative Moderata samlingspartiet und nicht mehr die Zentrumspartei die nach Stimmen größte bürgerliche Partei wurde. Ähnlich gelagerte Fälle finden sich auch in Dänemark in der Koalition zwischen Liberalen und Konservativen in den 80er Jahren. Wenn man systematisch sucht, findet man wahrscheinlich noch mehr. Hat jemand noch weitere Beispiele parat?

Langer Rede kurzer Sinn: Es ist mitnichten in Stein gemeißelt, dass die stärkste Partei auch den Ministerpräsidenten stellen muss. Die Beispiele zeigen, dass von einem derartigen Automatismus keine Rede sein kann. Welche Partei den Regierungschef stellt, liegt genauso auf dem Verhandlungstisch und ist daher Bestandteil von Koalitionsverhandlungen, wie viele andere Dinge auch.

 

Noch eine Zahl…

Viele Zahlen standen gestern und heute in Nordrhein-Westfalen im Raum – aber eine habe zumindest ich nicht gehört. Und dass, obwohl sie wiederum etwas zum Ausdruck bringt, was wir bei fast allen Wahlen der jüngeren Vergangenheit haben beobachten können und was meines Earchtens sehr bemerkenswert (vulgo: merkwürdig) ist. Es ist der gemeinsame Stimmenanteil von Union und SPD. Die folgende Abbildung zeigt, wie dieser Anteil sich über alle NRW-Wahlen hinweg entwickelt hat.

Mit 69,1 Prozent hat dieser Anteil – wieder einmal – ein historisches Tief erreicht. Selbst bei der ersten nordrhein-westfälischen Landtagswahl 1950 (in der Phase der Konsolidierung des deutschen Parteiensystems) lag er minimal höher.

Die Gründe für diese Entwicklung sind sicherlich vielfältiger Natur (man könnte das gestern so oft zitierte „Ursachenbündel“ heranziehen), Fakt aber ist: Zumindest aktuell ist es um die Integrationskraft der beiden „Volksparteien“ nicht gut bestellt.

 

Money makes the world go round, oder: Rüttgers und der gekaufte Zugang zur Macht

Andrea„Unternehmermillionen kaufen politische Macht“ – so lautet der Titel einer 1953 vom SPD-Parteivorstand herausgegebenen Denkschrift. Schon immer hat das Thema des gekauften Zuganges die Parteienfinanzierung umgetrieben. In den 60er Jahren finanzierte sich die CDU/CSU noch zu etwa 30% aus Unternehmensspenden, ähnlich auch die FDP. Dieser Anteil ist aufgrund der umfassenden staatlichen Finanzierung, die mit dem Parteien(finanzierungs)gesetz seit 1967 gewährleistet wird, deutlich zurückgegangen – allerdings eben nicht vollständig. Somit ist auch das Gebaren der NRW-CDU nicht per se zu verurteilen, schließlich stützen sich alle im Bundestag vertretenen Parteien auf Zuwendungen von Unternehmen. Umgekehrt spenden einige Unternehmen auch an mehrere Parteien, beispielsweise kann in einer Bundestagsdrucksache nachgelesen werden, dass die Daimler AG im Jahr 2009 sowohl CDU als auch SPD 150.000 Euro zukommen ließ. Das Netz von Spendern und Empfängern ist also komplex und bildet damit einen Teil der politischen Praxis in Deutschland ab.

Halten wir also fest: Verwerflich ist nicht die Spende. Verwerflich ist die Gegenleistung, die von der CDU in NRW angeboten wurde, nämlich der Gesprächstermin in kleiner Runde. Diese Praxis hebelt demokratische Gleichheitsgrundsätze aus – auch in diesem Blog wurde bereits darauf hingewiesen, dass Spenden von juristischen Personen einen Beigeschmack haben. Gepaart mit der Möglichkeit, in einem Gespräch direkten oder indirekten Einfluss auf Regierungshandeln nehmen zu können, ist dieses System hochgradig bedenklich. Denn dass es ein Bedürfnis von Wirtschaftsvertretern gibt, mit Politikern in vertrauter Runde Gedanken auszutauschen, zeigt nicht zuletzt der boomende Zweig der Politikberatung, der sich „Public Affairs“ nennt und auf diese Art der Vermittlung, Übersetzung und Zusammenführung von wirtschaftlichen und politischen Akteuren spezialisiert ist. Die Branche selbst ist sich darüber im Klaren, welche Assoziationen Begriffe wie „Lobbying“ hervorrufen, und diskutiert immer wieder lebhaft Selbstverpflichtungen, um „aus dem Schatten“ zu treten. Wenn der Wirtschaft nun aber seitens der Politik direkte Einflussmöglichkeiten angeboten werden, die alles übertreffen, was Agenturen arrangieren könnten, führt dies die dringend nötigen Transparenzdiskussionen ad absurdum.

Sozialdemokratische Partei Deutschlands: Unternehmermillionen kaufen politische Macht. Denkschrift, Frankfurt, 10. Mai 1953.

Lars Großkurth: Aus dem Schatten: Lobbyingregulierung als Wettbewerbstool. Zeitschrift für Politikberatung 1(1), 2008.

 

Die NRW-Landtagswahl im deutschen Föderalismus

Nils Bandelow

Am 9. Mai wird in Nordrhein-Westfalen ein neuer Landtag gewählt. Die Wahl ist die Grundlage für die spätere Bildung der Regionalregierung in dem bevölkerungsstärksten Bundesland Deutschlands. Aber gibt es in Deutschland überhaupt so etwas wie „Regionalwahlen“? Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen ist wichtig. Vielleicht ist sie wichtig für die Bildungspolitik in NRW. Studiengebühren, das Schulsystem – und (nicht ganz unabhängig von Bildung) – auch die unbelehrbaren Raucher in den Kneipen zwischen Bielefeld und Bonn könnten vom Ergebnis betroffen sein.

Trotz aller Föderalismusreformen bleibt die Landtagswahl in NRW aber in erster Linie eine Wahl zur Bundespolitik. Sie ist es schon unabhängig vom Ergebnis: Nie war es so deutlich wie jetzt (obwohl auch frühere Regierungen derselben Logik gefolgt sind): Reformen auf Bundesebene, die vielen schaden und wenigen nützen, macht man nach  Landtagswahlen – und nicht davor. Aber wie wird sich die Wahl inhaltlich auswirken? Nun, es könnte sein, dass sich nichts verändert. Wenn die „christlich-liberale“ Regierung auch in NRW bestätigt würde, dann wären Jürgen Rüttgers und Andreas Pinkwart gestärkt. Die Bundeskanzlerin und ihr Außenminister hätten dann für die Zukunft jeweils einen wichtigen internen Rivalen behalten.

Die Alternative ist jede andere Koalitionsregierung in NRW. Sollte eine der Oppositionsparteien – egal  welche – an der Landesregierung beteiligt werden, dann sind die Gewinner: Bündnis 90/Die Grünen. Das gilt selbst für den (unwahrscheinlichen) Fall einer rot-roten Landesregierung, selbst dann, wenn die Grünen den Einzug in den Landtag verpassen würden. Wieso das? Bisher verfügen schwarz-gelbe Landesregierungen insgesamt über eine theoretische knappe Mehrheit im Bundesrat. Die Mehrheit ist theoretisch, weil die Kammer der Landesregierungen selten ausschließlich nach parteipolitischen Vorgaben entscheidet. Aber bisher reicht es eben, wenn Merkel und Westerwelle ihre Leute hinter sich bringen. Dann – und nur dann – können sie jedes Gesetz und jede Verordnung verabschieden, solange das Grundgesetz unberührt bleibt.

Dies kann sich nach der „Landtagswahl“ in NRW ändern. Die Anführungsstriche sollen verdeutlichen: Hier handelt es sich um eine Wahl, deren Bedeutung für den Bund wichtig ist. Nicht nur, weil sie ein Signal sendet, und eine Rückmeldung gibt, für die bisherige Arbeit der Regierung.

Die wichtigste Bedeutung der Landtagswahl in NRW liegt darin, dass sie die schwarz-gelben Landesregierungen um ihre Mehrheit im Bundesrat bringen kann. Um eines klar zu stellen: Das heißt nicht, dass „die Opposition“ dann eine Mehrheit im Bundesrat hätte, auch nach der NRW-Wahl werden unionsgeführte Regierungen eine Mehrheit im Bundesrat stellen. Diese Mehrheit braucht die Opposition aber auch nicht. Koalitionen auf Landesebene pflegen zu vereinbaren, dass sie sich bei Unstimmigkeiten im Bundesrat der Stimme enthalten. Da Enthaltungen (auch nach dem gescheiterten Vorstoß von Wolfgang Schäuble, dies zu ändern) bei der Gesetzgebung des Bundes weiterhin wie Nein-Stimmen zählen, fehlt jedem Regierungsentwurf für ein zustimmungspflichtiges Gesetz die Mehrheit im Bundesrat. Konkret heißt das: Nicht nur knapp die Hälfte aller Gesetzesvorhaben der Bundesregierung drohen zu scheitern, sondern es sind vor allem die zentralen Reformen, die eine Zustimmung durch die Länderkammer benötigen.

Was würde das politisch bedeuten? Die Bundesregierung bräuchte die Zustimmung von Landesregierungen, an denen mindestens eine Oppositionspartei beteiligt ist. Und dabei würde die Zustimmung der Länder Hamburg und Saarland reichen – in beiden Ländern sind die Grünen an den Landesregierungen beteiligt. Inhaltlich heißt das: Die schwarz-gelbe Bundesregierung würde in wichtigen Fragen zu „Jamaika“ mutieren. Die Alternative wäre es, mit der SPD zu verhandeln – hier wäre der Preis gegenwärtig wohl noch höher.

Die Grünen werden also plötzlich in der Lage sein, einen Preis zu verlangen, um schwarz-gelb entscheidungsfähig zu halten. Wie wird dieser Preis aussehen? Er könnte generelle Forderungen enthalten, etwa das Festhalten am Zeitplan für den Atomausstieg. Die Grünen könnten auch „billige“ Forderungen stellen, etwa in der Gleichstellungspolitik. Dies wäre „billig“, weil wesentliche grüne Positionen längst von führenden Vertreterinnen der Bundesregierung geteilt werden.

Wahrscheinlicher sind aber Tauschvereinbarungen, die jedes einzelne Politikfeld betreffen. Denn auch wenn im Bundesrat Parteienvertreter sitzen und man dann die Grünen braucht: Einen neuen förmlichen Koalitionsvertrag wird es nicht geben. Jedes einzelne Gesetz muss so gestrickt sein, dass die Grünen in Hamburg und im Saarland zustimmen können. Das heißt etwa in der Gesundheitspolitik: Es wird Forderungen nach einer Stärkung von Qualitätssicherung und (nichtmedizinischer) Prävention geben – und diese werden auch erfüllt werden. In der Verkehrspolitik werden sich die Grünen für ein Nachhaltigkeitskonzept einsetzen, das nicht allein technische Lösungen sondern auch Verhaltenssteuerungen beinhaltet.

Insgesamt wird sich nicht nur der Inhalt der Bundespolitik ändern. Die neuen Machtverhältnisse werden alle Beteiligten auf die Probe stellen: Sind die Grünen bereit für Jamaika? Wird sich ein Bündnis mit den Grünen in der CDU durchsetzen lassen? Wie wird die Kanzlerin mit den zu erwartenden Widerständen aus FDP und CSU umgehen? Die Landtagswahl in NRW ist somit spannend. Sie wird nicht nur die Machtverhältnisse auf Bundesebene nachhaltig mitbestimmen, sondern auch die Weichen für die zukünftige Entwicklung unseres Parteiensystems stellen.

 

Krise oder Niedergang der Sozialdemokratie? Ein Blick über den nationalen Tellerrand

Nils Bandelow

Die jüngsten Umfragen scheinen der SPD nach den Wahldesastern von 2009 wieder ein wenig Hoffnung zu machen. Zwar liegen die Werte bei den meisten Meinungsforschungsinstituten nur knapp über dem historischen Tiefstwert der letzten Bundestagswahl (23 Prozent), aber Regierungsbeteiligungen scheinen immerhin wieder möglich (und ein Wahlsieg im Mai in NRW für die SPD greifbar). Dies liegt vor allem am Umfragetief der FDP und dem Hoch von Bündnis 90/Die Grünen. Jenseits dieser kurzfristigen Umfragetrends stellt sich die Frage, ob der seit 1998 anhaltende kontinuierliche Niedergang der ehemaligen Großpartei SPD noch aufzuhalten ist. Waren die Wähler- und Mitgliederverluste der deutschen Sozialdemokratie die Folge langfristig anhaltender Entwicklungen, oder drücken sie kurzfristige situative Bedingungen, Stimmungen oder auch strategische Fehler der Partei aus?
Um diese Frage zu beantworten, lohnt sich ein Blick in das westeuropäische Ausland. Dort finden sich Schwesterparteien der SPD, die mit ähnlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Trends konfrontiert sind – und mit unterschiedlichen inhaltlichen Strategien, Wahlkampfkonzepten und Spitzenkandidaten reagiert haben. Gerade im Hinblick auf die innerparteilichen Flügelkämpfe in der SPD ist es spannend, ob sich in den Nachbarländern Hinweise für eine sozialdemokratische Erfolgsstrategie finden lassen.
Der Niedergang der Sozialdemokratie ist ein EU-weiter Trend. In den 1990er Jahren gelangten in vielen westeuropäischen Demokratien sozialdemokratisch geführte Regierungen an die Macht. Fast überall folgte ein bis heute anhaltender Wähler- und Mitgliederschwund. Gemessen an manchen Erklärungen liegen Erfolg und Misserfolg zeitlich zu eng beieinander. Daher können langfristige Entwicklungen wie die vielbeschworene Erosion des gewerkschaftlichen Arbeitermilieus den rasanten Stimmenverlust ebenso wenig allein erklären wie wirtschaftliche Globalisierung oder demographische Veränderungen.
Überraschend ist, wie stark die sozialdemokratischen Erfolge und Misserfolge der westlichen EU-Länder zeitlich korrelieren – obwohl sich die Ausgangslagen und Strategien deutlich unterscheiden. Die Entwicklung betrifft kontinentaleuropäische Länder wie Deutschland und Frankreich auf den ersten Blick gleichermaßen – obwohl die französischen Sozialisten in dem Ruf stehen, als „Traditionalisten“ eine weitaus größere Nähe zu ihrer Stammklientel bewahrt zu haben als die SPD. Auf der anderen Seite waren Vorzeigestaaten der „Modernisierer“ wie die Niederlande (trotz der jüngsten Rückkehr der Sozialdemokratie als Juniorpartner auf die Regierungsbank) von einem dramatischen Stimmenverlust betroffen. Ähnliches steht der Labour Party in wenigen Monaten wahrscheinlich bevor. Selbst sozialdemokratisch geführte Regierungen in Ländern mit (ehemals) ausgeprägtem Wohlfahrtsstaat, starken Gewerkschaften und wirtschaftlichen Erfolgen wie Dänemark und Schweden haben erdrutschartige Niederlagen verkraften müssen.
Ein qualitativer Vergleich führt uns bei der Suche nach Erklärungen zu folgenden Thesen:
• Für den Wahlerfolg sozialdemokratischer Parteien ist der Zusammenhang zwischen dem nationalen Wahlrecht und der inhaltlichen Strategie wichtig: Zumindest kurzfristig begünstigt ein Mehrheitswahlrecht (wie in Großbritannien) Parteien, deren Strategie auf potentielle Wähler des wichtigsten Konkurrenten ausgerichtet ist. In Ländern mit proportionalem Wahlrecht und daraus resultierenden Koalitionszwängen begünstigt diese Strategie (die Kern des „Dritten Wegs“ der sozialdemokratischen Modernisierer ist) dagegen Wahlerfolge kleiner Parteien.
• Moderne (nicht nur) sozialdemokratische Parteien setzen stark auf die Medienwirkung ihrer jeweiligen Spitzenkandidaten. Die Abhängigkeit von der Ausstrahlung eines Tony Blair, Gerhard Schröder, Lionel Jospin, Wim Kok oder Poul Nyrup Rasmussen erschwert die Profilbildung möglicher Nachfolger. Es ist kein Zufall, dass den Medienhelden oft blasse Technokraten wie Frank-Walter Steinmeier oder Gordon Brown gefolgt sind. Ebenso wenig zufällig ist es, dass diesen Vertretern der zweiten Garde durchgängig eine Fortsetzung der Wahlerfolge verwehrt bleibt. Die Wiederkehr sozialdemokratischer Regierungen setzt daher mittelfristig eine personelle Erneuerung voraus.
• In allen Ländern hat die Sozialdemokratie ihre bisherige Problemdefinition verändert. Im Keynesianismus der 1970er Jahre sollten der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und die Besserstellung unterer Vermögens-, Einkommens- und Bildungsschichten Vorrang haben vor Inflationsbekämpfung und Leistungsanreizen. Heute werden nicht mehr Arbeitslosigkeit und Inflation als Alternativen diskutiert. Politik vollzieht sich vielmehr als Suche nach Lösungen im magischen Dreieck von kurzfristiger Wachstumspolitik, langfristiger Infrastrukturpolitik (zu der vor allem Investitionen in die Bildungs- und Forschungsinfrastruktur zu zählen sind) und Begrenzung der Staatsverschuldung. Hauptproblem der Sozialdemokratie ist, dass ihr überall inhaltliche Alleinstellungsmerkmale fehlen. Langfristig wird auch die Sozialdemokratie definieren müssen, für welche eigenen Kernüberzeugungen sie stehen will. Dies ist kein einfacher Prozess, da überall Konkurrenten lauern: Bei „Gerechtigkeit“ (Linke), „Umwelt“ (Grüne), „Wettbewerb“ (Liberale) und selbst „Pragmatismus“ (Christdemokraten/Konservative/Gaullisten etc.) kann man jeweils nur als Kopie auftreten.
• Anders als fast alle anderen sozialdemokratischen Parteien verzeichnen ausgerechnet die vergleichsweise traditionalistischen französischen Sozialisten keinen Stimmenverlust. Im Gegenteil: Bei Wahlen zur Nationalversammlung konnte die PS seit 1993 ihren Stimmenanteil sogar kontinuierlich geringfügig steigern. Es bleibt Spekulation, wie die Lage der Partei aussehen würde, wenn 2002 der erste Wahlgang der Präsidentschaftswahlen nicht zum überraschenden Ausscheiden von Jospin geführt hätte. Bei der Interpretation der französischer Wahlen bleibt auch wegen des speziellen Regierungs-, Wahl- und Parteiensystems Raum für unterschiedliche Interpretationen. Es drängt sich aber die These auf, dass die PS davon profitiert hat, weniger eindringlich vorgebliche Sachzwänge für einen Umbau des Sozialstaats argumentiert zu haben. Alle Parteien können daraus lernen, dass nicht nur ein eigener inhaltlicher Markenkern langfristig unverzichtbar ist. Notwendig ist auch eine Wahlkampfkommunikation, die aktiv um die Deutungshoheit in Übereinstimmung mit dem eigenen Programmkern bemüht ist. Der kurzfristige Kampf um Stimmen von Wählern mit anderen Überzeugungen führt langfristig zur Verwässerung der eigenen Identität.
• Wahlsieger waren in fast allen Ländern rechtsliberale Parteien, linke Konkurrenten der Sozialdemokratie und Rechtspopulisten. Die Besonderheit Deutschlands liegt daher bisher nicht in den sozialdemokratischen Wahlergebnissen, sondern im Ausbleiben größerer Erfolge rechtsradikaler Parteien. Eine mögliche Erklärung liegt in den Wahlkampfthemen: Moderne sozialdemokratische Parteien haben in vielen EU-Ländern nicht nur Konflikte in der Sozial-, Wirtschafts- und Militärpolitik zu bewältigen. Auch die Europapolitik und die Einwanderungspolitik sind zentrale Konfliktfelder. Diese Themen sind im deutschen Parteienwettbewerb (noch) vergleichsweise tabuisiert. Sollte sich das ändern, könnte auch hierzulande das Risiko rechtspopulistischer Wahlerfolge wachsen.
Fazit: Mit personeller Erneuerung und attraktiven neuen Spitzenkandidaten werden mittelfristig sozialdemokratische Wahlerfolge wieder wahrscheinlicher. Für eine langfristige Etablierung sozialdemokratischer Parteien ist aber mehr notwendig als mediengerechte Wahlkämpfer oder die Kopie inhaltlicher Strategien anderer Parteien. Die Herausforderung besteht in der Entwicklung eines eigenen inhaltlichen Kerns und der widerspruchsfreien Orientierung von Mitgliederschaft, Parteistruktur und Wahlkampf auf diesen Kern. Bisher ist allerdings nicht absehbar, worin dieser neue Markenkern bestehen könnte.

 

"Honeymoon" is over

Für die Medien ist es ein gefundenes Fressen: Gesundheitspolitik in der Krise, Umfragetief für die FDP, Einbußen für die wichtigsten Regierungspolitiker. Im Politbarometer der vergangenen Woche erhält die schwarz-gelbe Regierung erstmals negative Beurteilungen, im Deutschland-Trend der ARD gaben Befragte in den vergangenen Tagen an, die jetzige Regierung sei schlechter als die Vorgängerregierung. Die Koalition, so scheint es, befindet sich in einer echten Krise. Tatsächlich?

Fakt ist, dass es in der Regierung noch nicht rund läuft. Einiges ist durch den Regierungswechsel bedingt. Selbst Wunschkoalitionen müssen sich erst einmal finden. Man denke zurück an den Regierungsantritt von Rot-Grün 1998: Von Dezember 1998 an ging es mit der Unterstützung für die neue Regierung bergab. Ein erster Schock war die verlorene Landtagswahl in Hessen am 7. Februar 1999, die auch die Mehrheit im Bundesrat kostete. Es folgte ein Stimmungstief im März 1999, der absolute Tiefpunkt im September 1999, und erst die CDU-Spendenaffaire (Winter 1999/2000) führte zu erheblichen Verbesserungen der Bewertungen für Rot-Grün.

Insofern ist das, was derzeit in Berlin passiert, nicht neu. Und es ist durchaus typisch für die erste Phase einer Legislaturperiode. Neu gewählte Regierungen erhalten in der Regel kurz nach einer Wahl die besten Bewertungen, was Bestätigungseffekt im „Honeymoon“ genannt wird. Doch Flitterwochen dauern nie lange. Im Anschluss muß dann nicht mehr nur – wie im Wahlkampf und während der Koalitionsverhandlungen – geredet, sondern regiert werden. Und die ersten wichtigen und für Teile der Bevölkerung harten Politikentscheidungen müssen früh, wenn auch nicht sofort getroffen werden. Am Ende einer Legislaturperiode ist dies weitaus schwieriger, denn da muss der Souverän wieder gewonnen und keinesfalls vergrätzt werden.

Doch wie steht es im Lichte dieser Erfahrungen um die Lage der Koalition im Februar 2010? Gemessen an den ersten Monaten der letzten Regierungen, geht es Schwarz-Gelb „den Umständen entsprechend“. Das bedeutet, dass man nicht von einer Krise der Regierung sprechen kann, auch wenn die Holperer doch recht zahlreich sind. Aus der Perspektive einer ganzen Legislaturperiode hat die Regierung noch genug Zeit, in Tritt zu kommen. Ein wenig problematisch ist allerdings der Wahltermin in Nordrhein-Westfalen. Geht es „normal“ weiter, also für Schwarz-Gelb bis auf weiteres nach unten, dann wird es für Union und FDP schwierig werden, die Landtagswahl im größten deutschen Bundesland am 9. Mai 2010 zu gewinnen.

Landtagswahlen weisen allerdings ein paar Spezifika auf, die schwer kalkulierbar sind. Es wird vor allem darum gehen, welche Lager und Parteien ihre Klientel bei einer vermeintlich weniger wichtigen Wahl besser moblisieren können. Ist der Bundestrend für Schwarz-Gelb weiter negativ, dann sind Mobilisierungsdefizite für Union und FDP sehr wahrscheinlich, zumal die Regierungskonstellation im Bund und in NRW die gleiche ist. Allerdings werden Landtagswahlen auch von landesspezifischen Faktoren beeinflusst. Hier wird es um die Zufriedenheit der Bürger NRWs mit den Politikergebnissen, mit ihrem Ministerpräsidenten und um politische Alternativen gehen. Letzteres könnte zum Problem für die Opposition werden. Rot-Grün liegt derzeit klar hinter Schwarz-Gelb zurück und hat damit keine eigene Machtperspektive. Insofern wird es spannend werden: Wer „könnte“ mit wem, zu welchem Zweck und vor allem mit welchen Erfolgsaussichten? Wird es zu bunt und unübersichtlich, bliebe der Rückgriff auf ein bekanntes, bestenfalls auch bewährtes Koalitionsmodell.

 

Die ersten 100 Tage

AndreaAngela Merkel kann einem Leid tun: Nach den ersten 100 Tagen an der Regierung erhält das Kabinett unter ihrer Führung nicht nur von der Opposition denkbar schlechte Kritiken. Auch die Umfrageergebnisse sprechen eine klare Sprache: Emnid hat im Auftrag des Nachrichtensenders N24 in einer repräsentativen Befragung ermittelt, dass nur 27% der Bürger mit der Arbeit der Regierung zufrieden sind.

Aber ist dies wirklich so außergewöhnlich? Erinnern wir uns an den Start der rot-grünen Regierung 1998: Diese kam in einer vergleichbaren Emnid-Befragung zur der Bilanz der ersten 100 Tage auf eine Zustimmungsrate von 38% – ebenfalls kein berauschendes Ergebnis für das mit so viel Enthusiasmus gestartete neue politische Projekt. Und auch bei der im Rahmen des DeutschlandTrend von Infratest-dimap durchgeführten Frage nach der Bewertung der Regierungsarbeit mit Schulnoten zeigt sich kein allzu großer Unterschied: Rot-Grün wurde im Februar 1999 im Schnitt mit 3,4 benotet, Schwarz-Gelb kommt aktuell auf 3,9.

Fazit: Vergleichen lohnt sich und voreilige Schlüsse sollten vermieden werden. Immerhin ist Gerhard Schröder 2002 wiedergewählt worden und die SPD hat sich bis 2009 an der Regierung gehalten. So schlecht steht es also zumindest um Frau Merkel nicht.

 

Denkt Roland Koch wie die Linkspartei? Die Debatte um die Reform von Hartz IV hält Überraschungen bereit

StruenckRoland Koch verlangt eine Arbeitspflicht für die Empfänger von Arbeitslosengeld II (Hartz IV) und alle toben. Roland Koch auch, weil er (natürlich und natürlich einkalkuliert) „missverstanden“ worden sei. Das Ganze könnte man getrost in der Schublade populistischer Evergreens verstauen. Dabei liegt in Roland Kochs Forderung eine ordentliche Prise Ironie, wenn man ihre möglichen Konsequenzen ernst nimmt. Denn der Vorschlag führt geradewegs in einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor, wie ihn die Linkspartei seit langem in ihrem Parteiprogramm hat. Die Linke müsste daher eigentlich ganz auf der Seite von Koch stehen, zumindest klammheimlich.

Eine Arbeitspflicht gibt es im Grunde längst, denn die Arbeitsagenturen haben Anweisungen und verschärfte Zumutbarkeitskriterien an die Hand bekommen. Schließlich war es das erklärte Ziel dieser Reform, alle erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Doch was tun, wenn es in einer Region so gut wie keine Stellen gibt, in die Langzeitarbeitslose vermittelt werden können? Heinrich Alt, Mitglied im Bundesvorstand der Bundesagentur für Arbeit, sieht nach wie vor ein großes Defizit an Arbeitsplätzen in Deutschland. Dabei nutzen die Arbeitsgemeinschaften zwischen Kommunen und Arbeitsagenturen bereits ein großes Arsenal an Maßnahmen, um ihre Klientel wenigstens zeitweise in den ersten Arbeitsmarkt zu bekommen.

Worauf liefe also Roland Kochs Forderung hinaus, wenn man sie unter den jetzigen Bedingungen betrachtet? Wenn es eine allgemeine, verbindliche Arbeitspflicht gibt, muss auch Arbeit angeboten werden. Für die größte Gruppe der Langzeitarbeitslosen – die Alleinerziehenden – bräuchte es da erst einmal eine verlässliche Kinderbetreuung. Die anderen Kunden karren die Argen dann entweder quer durch die Republik an Orte, an denen die Erwerbsarbeit noch blüht. Oder sie müssen ihnen Ersatzarbeitsplätze anbieten, denn Arbeitspflicht für die Hilfeempfänger bedeutet quasi Arbeitsplatzpflicht für die Arbeitsagenturen. Angesichts von knapp 5 Mio. erwerbsfähigen Empfängerinnen und Empfängern von Arbeitslosengeld II liefe das daraus hinaus, einen großen öffentlichen Beschäftigungssektor zu schaffen bzw. schaffen zu müssen. Roland Koch hätte neue Freunde in der Linkspartei gewonnen, doch das Kernziel der ganzen Reform würde verfehlt: die Integration in den ersten Arbeitsmarkt.

 

Quo vadis, Saarland? Quo vadis, Grüne?

Der Tag der Entscheidung ist da – für das Saarland, aber auch für die Grünen. Fährt heute doch ein Dampfer gen Jamaika? Oder kommt es zu einer rot-rot-grünen Zusammenarbeit in Saarbrücken? Beides scheint derzeit möglich, die Grünen – vor allem die grünen Saarländer – scheinen gespalten. Doch wie stehen eigentlich die Wählerinnen und Wähler zu dieser Frage? In einer groß angelegten Umfrage im Vorfeld der Bundestagswahl wurden rund 6.000 Deutsche befragt – unter anderem auch nach ihren Präferenzen, was Koalitionen betrifft. Zwischen -5 und +5 sollten diese Befragten verschiedene mögliche Koalitionsmodelle einstufen. Die mittleren Einstufungen bezogen auf die saarländischen Optionen – also Jamaika und Rot-rot-grün – zeigt die folgende Abbildung.

Bewertung einer Jamaika- und einer rot-rot-grünen Koalition insgesamt und bei Parteianhängern
koal

An verschiedenen Stellen sind die Ergebnisse dabei mehr als eindeutig: Anhänger von Union und FDP bevorzugen klar Jamaika vor Rot-rot-grün, umgekehrt sind es bei Anhängern der Linkspartei aus. Schon bei Anhängern der SPD allerdings sieht das Bild weniger eindeutig aus – und dies gilt erst recht bei Anhängern der Grünen: Sie sind – quasi ein Spiegelbild der saarländischen Grünen – unentschieden zwischen den beiden zur Wahl stehenden Alternativen.

Dies gilt allerdings nur im Durchschnitt – im Durchschnitt sind die Anhänger der Grünen unentschieden zwischen den beiden Optionen. Dies gilt nicht zwangsläufig auch für jeden einzelnen Anhänger der Grünen, wie die folgende Abbildung zeigt – und genau hier liegt der Sprengstoff für die Grünen:

Vergleichende Bewertung einer Jamaika- und einer rot-rot-grünen Koalition bei Anhängern der Grünen
verteilung

Auf der Ebene einzelner Anhänger der Grünen gibt es zwar auch rund 40 Prozent der Anhänger, die unentschieden zwischen den beiden Optionen sind. Über 30 Prozent aber haben eine Präferenz für Rot-rot-grün gegenüber Jamaika, immerhin auch über 25 Prozent haben eine Präferenz für Jamaika gegenüber Rot-rot-grün. Und nur eine dieser Gruppen wird ihre Präferenzen heute im Saarland erfüllt sehen, während die andere Gruppe in die Röhre schaut. Sprengstoff also für die Grünen, man darf gespannt sein, wie die Partei (und insbesondere die unterlegenen Anhänger innerhalb der Partei) damit umgehen werden.