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Marx oder Marienthal?

„Immer mehr führende Köpfe warnen nun vor sozialen Unruhen“, schreibt Spiegel Online heute unter der Überschrift „Wirtschaftseinbruch schürt Angst vor sozialen Konflikten“. Thesen zum Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Lage (und insbesondere Wirtschaftskrisen) und sozialen Unruhen (bis hin zur Stabilität des politischen Systems) sind ein Evergreen. Die hohe Arbeitslosigkeit etwa ist eine Standarderklärung für den Niedergang der Weimarer Republik. Das empirische Eis, auf dem solche Behauptungen stehen, ist allerdings vergleichsweise dünn. In seiner epochalen Studie zu den Arbeitslosen von Marienthal konnte Paul F. Lazarsfeld eher feststellen, dass die Menschen im österreichischen Marienthal – einem von der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre besonders hart getroffenen Ort – im Zuge der Krise eher „müde“ geworden waren. Betrachtet man heute die Absicht etwa von Arbeitslosen, sich an bevorstehenden Wahlen zu beteiligen oder auch in anderer Form politisch aktiv zu werden, bestätigt sich dieses Bild. Arbeitslose gehen im Vergleich zu Erwerbstätigen seltener zur Wahl, sie interessieren sich auch eher weniger für Politik. Das Bestreiten des (schwierigen) Alltags steht für sie eher im Vordergrund als distante Phänomene wie Politik und Wahlen. Das macht soziale Unruhen (zumindest ausgehend von direkt Betroffenen) weniger wahrscheinlich, die Situation allerdings keinen Deut besser.

 

Münte als Allzweckwaffe

Bis auf weiteres kümmert sich also Franz Müntefering bei der SPD um die Familien- und Frauenpolitik. So war es der Presse in den letzten Tagen zu entnehmen. Klar ist: Themen müssen mit Personen besetzt werden – nur dann haben sie eine Chance, im Wahlkampf transportiert werden zu können. Und dies hat nichts mit Personalisierung auf Kosten von politischen Inhalten zu tun. Empirische Studien haben im internationalen Vergleich ergeben, dass mehr und mehr Themen mit Personen verbunden werden. So stieg der Anteil der Wahlkampfthemen, die von den Bürgern direkt mit einem „politischen Gesicht“ verbunden wurden, allein in Deutschland von unter 20 Prozent im Jahr 1960 auf über 40 Prozent in 2000.

Personen liefern den Bürgern einen „information shorcut“, sie sind leichter verdaubar und haben auch einen höheren Nachrichtenwert. Das beste Beispiel hierfür ist die Familienpolitik der CDU: Eigentlich war die Familienpolitik lange Zeit ein Thema, das von der SPD „besetzt“ wurde. Mit Ursula von der Leyen verdrängte die CDU die SPD allerdings – Ursula von der Leyen gibt dem Thema Familienpolitik ein überzeugendes und sichtbares Gesicht. Ein anderes Beispiel ist die fehlende Personalisierung bzw. die fehlenden Personalisierungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene: Uns allen wäre Europa vertrauter, europäische Themen eingängiger, wenn sie mit einem Gesicht verbunden wären.

Der familienpolitische Vorstoß von Franz Müntefering ist somit sicherlich sinnvoll, da die SPD in diesem Bereich präsenter werden muss. Ob er allerdings mittelfristig als „information shortcut“ dienen kann, darf bezweifelt werden. Münte ist sicherlich eine Allroundwaffe, aber zum Thema Familienpolitik muss die SPD noch etwas tiefer in die Personalkiste greifen…

 

Die Opelrettung – Chance für Frank-Walter Steinmeier?

Themen, die die Gesellschaft direkt betreffen und emotionalisieren, sind ein Pfund, mit dem man in Wahlkämpfen wuchern kann. Betrachtet man sich die Bundestagswahl 2002, so ist kaum abzustreiten, dass die Flutkatastrophe ihren Teil dazu beitrug, dass Gerhard Schröder die Wahl knapp für sich entscheiden konnte. Schröders Engagement und sein entschlossenes Handeln blieben den Menschen positiv in Erinnerung und haben den ein oder anderen Wähler sicherlich dazu bewegt, am Wahltag für den damaligen Amtsinhaber zu stimmen. Schröders Nähe zu den Betroffenen und die prompt zugesagte staatliche Unterstützung ließen die Flut zu einem Wahlkampfthema mit großer Durchschlagskraft werden. Die Medienaufmerksamkeit war von vorneherein garantiert, Schröder hatte somit eine gemachte Bühne für seine Selbstdarstellung als perfekter Krisenmanager. Zusammen mit einem der Kernthemen der SPD, der „Solidarität“, war die Flutkatastrophe ein schlagkräftiges Team, um Stammwähler zu mobilisieren und Wechselwähler in Ostdeutschland zu gewinnen.

Heute, im Superwahljahr 2009 haben wir es mit sehr ähnlichen Vorzeichen zu tun: Ein sozialdemokratischer Kanzlerkandidat und ein Ereignis, das viel Raum auf der Medienagenda einnimmt und sich mühelos in Einklang mit einem der Kernthemen der SPD bringen lässt. Da mag es eher von marginaler Bedeutung sein, dass dem von Steinmeier vorgeschlagenen staatlichen Rettungskonzept für Opel mangelnde Substanz vorgeworfen wird. Das, was strahlt, ist die Solidarität des Kanzlerkandidaten mit den Betroffenen, ohne Wenn und Aber und mit Unterstützung des Staates. Angela Merkels Haltung im Fall Opel spielt dem SPD-Kandidaten zusätzlich in die Hände, zumal diese staatliche Unterstützung lediglich bei der Suche nach einem Privatinvestor und in Form von Bürgschaften zugesagt hat. Also nur „eingeschränkte“ Solidarität mit Opel, die sich negativ auf die Beliebtheit der Kanzlerin auswirken und im Gegenzug einen positiven Einfluss auf Steinmeiers Popularität haben könnte. Die Opelrettung ist ein Thema, das die Wähler greifen können. Die Medien präsentieren Einzelschicksale, man solidarisiert sich mit den Betroffenen und stellt eine emotionale Bindung her. Gleichzeitig ist die Zahl der damit verbundenen Arbeitsplätze keine abstrakte Größe. Die Chancen stehen also gut, dass das Thema Opel dem sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten eine bessere Ausgangsposition für den weiteren Wahlkampf sichert.

 

Staatliche Arbeitsplätze – warum nicht? Die Deutschen haben nichts dagegen.

Ob Opel oder HRE – staatliche Interventionen erregen derzeit die Gemüter in Berlin. Auch die der Bürger? Werfen wir einen Blick in einschlägige Umfragen: 1984, 1994 und 2004 wurde den Bundesbürgern im Rahmen der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) das folgende Statement mit der Bitte um Zustimmung oder Ablehnung vorgelegt: „Der Staat muss dafür sorgen, dass jeder Arbeit hat und die Preise stabil bleiben, auch wenn deswegen die Freiheiten der Unternehmer eingeschränkt werden müssen.“ Wie die folgende Grafik zeigt …

stößt dies auf breite Zustimmung in Deutschland. Zwar ist die Zustimmung im Zeitverlauf rückläufig und liegt im Osten etwas höher als im Westen – doch zu allen Zeitpunkten stimmt die Mehrheit der Deutschen der Aussage zu.

Ein Einzelfall? Keineswegs. Im International Social Survey Programme (ISSP) findet sich 1990, 1991, 1996 und 2006 die Frage: „Bitte geben Sie nun an, inwieweit die folgenden Dinge in der Verantwortlichkeit des Staates liegen sollten: Einen Arbeitsplatz für jeden bereitstellen, der arbeiten will.“. Wie die folgende Grafik zeigt …

gilt hier Ähnliches. Seit 1990 wird auch hier – bei gleicher Entwicklung und Unterschieden zwischen Ost und West – mehrheitlich der Staat in der Verantwortung gesehen.

Letztlich also, so könnte man sagen, spiegeln die Rettungsbemühungen etwa bei Opel nur das wider, was die Deutschen immer schon mehrheitlich unterstützt haben. Was ja durchaus demokratisch ist.

 

Die wahre Dimension der Arbeitslosigkeit und ihre Folgen

Der jüngste Arbeitsmarktbericht der Bundesagentur für Arbeit weist eine Zahl von rund 3,5 Millionen Arbeitslosen auf – eine Zahl, die einerseits noch immer erschreckend hoch ist, die aber andererseits im Vergleich zu den Höchstständen von über fünf Millionen, die in den ersten Monaten des Jahres 2005 zu verzeichnen waren, noch moderat erscheint.

Die Lage ist dennoch düster – düsterer noch, als diese Zahlen suggerieren:

1) Die Zahl der Menschen, die Kurzarbeitergeld beziehen, ist förmlich explodiert: von 50.000 auf über 400.000. Dies ist aus objektiven wie subjektiven Gründen von zentraler Bedeutung: Objektiv, weil es die Turbulenzen, in denen sich der Arbeitsmarkt aktuell befindet, widerspiegelt und davon auszugehen ist, dass – geschieht nicht ein neues Wirtschaftswunder – aus diesen Kurzarbeitern über kurz oder lang Arbeitslose werden. Subjektiv, weil die Betroffenen durch die Kurzarbeit ein eindeutiges Signal bekommen, dass ihr Arbeitsplatz in Gefahr ist.  Sorge um den Arbeitsplatz ist dabei eine im Vergleich zu tatsächlicher Arbeitslosigkeit nicht minder gewichtige Erfahrung von Arbeitslosigkeit. Aus der Stressforschung etwa ist bekannt, dass die Erwartung eines misslichen Ereignisses mindestens so viel Stress, Unzufriedenheit und Ohnmacht auslöst wie der Eintritt des Ereignisses selbst.

2) Die Zahl von aktuell 3,5 Millionen Arbeitslosen besagt, dass 3,5 Millionen Personenmonate an Arbeitskraft, die im Monat Februar verfügbar gewesen wären, von der deutschen Volkswirtschaft nicht genutzt wurden. In ähnlicher Logik sind auch die Jahresmittel, die die BA vermeldet, zu deuten. Diese Zahlen sagen aber überhaupt nichts darüber aus, wie viele Menschen tatsächlich im Laufe eines Monats oder eines Jahres tatsächlich selbst für einen mehr oder minder langen Zeitraum arbeitslos waren. Arbeitslosigkeit ist ein dynamisches Phänomen. Joseph Schumpeter hat in einem anderen Zusammenhang das Bild eines Bus‘ benutzt, Schumpeter (1985: 170) in anderem Zusammenhang das Bild eines Omnibusses, „der zwar immer besetzt ist, aber von immer anderen Leuten“.  Im Einzelfall sehen die Verweildauern höchst unterschiedlich aus: Manche Leute steigen – um im Schumpeter’schen Bild zu bleiben – früher aus dem Arbeitslosenbus wieder aus als andere, einige steigen häufiger zu, andere nie. Arbeitslosigkeit ist für manche Betroffene nur eine kurze, transitorische Phase, während sie sich für andere zu einem Dauerzustand entwickelt. In der Konsequenz aber bedeutet dies in jedem Fall, dass innerhalb eines Jahres weitaus mehr Menschen Arbeitslosigkeit am eigenen Leib erfahren, als es die in der öffentlichen Diskussion dominierenden Zahlen der amtlichen Statistik nahelegen.

3) Dabei bleibt immer noch unberücksichtigt, dass Menschen auch indirekte Erfahrungen von Arbeitslosigkeit machen können – über den Haushalt oder Freunde und Bekannte. Auf einen Arbeitslosen kommen immer weitere Haushaltsangehörige, die dadurch – wie es Thomas Kieselbach formuliert hat – zu „Opfern-durch-Nähe“ werden. Daten aus den ZDF-Politbarometer-Erhebungen zeigen zudem, dass in Ostdeutschland nahezu jeder im Kreise seiner „Nahestehenden“ Menschen kennt, die arbeitslos sind. Auch in Westdeutschland ist es nahezu jeder Zweite.

Differenzierter betrachtet ist Arbeitslosigkeit bereits heute ein allgegenwärtiges Massenphänomen. Und es ist zu befürchten, dass sich die Situation noch weiter verschlechtern wird. Dass Arbeitslosigkeit in diesem Umfeld das Thema wird, dass – wieder einmal – die bevorstehende Wahl dominieren wird, ist keine kühne Prognose. Die finanziellen Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise mögen bislang an vielen Menschen noch vorbeigegangen sein, Folgen auf dem Arbeitsmarkt spürt nahezu jeder. An ihren Ideen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Abfederung ihrer Folgen werden sich Parteien und Politiker messen lassen müssen.