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Nur eine Frage der Definition? Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund

Erstmals hat sich am gestrigen Freitag der Bundeswahlleiter zur Anzahl der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund bei einer Wahl geäußert. Auf Grundlage von Daten des Mikrozensus 2007 kommt er auf insgesamt 5,6 Millionen. Das entspricht 9 Prozent aller Wahlberechtigten und damit wahrscheinlich mehr als bei jeder vorherigen Bundestagswahl. 2,6 Millionen seien Spätaussiedler, 2,1 Millionen eingebürgerte Zuwanderer. Hinzu kämen 290.000 Personen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren wurden sowie 566.000 Deutsche, die mindestens ein Elternteil mit Migrationshintergrund haben. Als Hauptherkunftsländer werden Polen mit 762.000, Russland mit 705.000, Kasachstan mit 442.000, die Türkei mit 327.000 in der ersten und 149.000 in der zweiten Generation sowie Rumänien mit 313.000 Personen genannt.

Die Gesamtzahl der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund scheint damit höher zu sein als bislang angenommen. Ich selbst kam auf der Grundlage des Mikrozensus (MZ) 2005 auf schätzungsweise 4,1 Millionen Wähler mit Migrationshintergrund. Wie der Bundeswahlleiter machte ich die Sowjetunion und ihre Nachfolgestaaten (ca. 1 Million), gefolgt von Polen (ca. 500.000), der Türkei (ca. 500.000) und Rumänien (ca. 300.000) als wichtigste Herkunftsländer aus. Während also die Angaben für die Herkunftsländer sehr ähnlich sind, ergibt sich doch eine erstaunliche Differenz bei der Gesamtzahl der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund.

Die Materie ist – zugegebenermaßen – komplex, denn im Mikrozensus wird, übrigens erst seit 2005, zwischen etlichen Personen(-gruppen) mit Migrationshintergrund differenziert. Da sind zunächst diejenigen mit eigener Migrationserfahrung und diejenigen ohne eigene Migrationserfahrung. Beide Gruppen kann man unter anderem danach differenzieren, ob die deutsche Staatsbürgerschaft ohne Einbürgerung oder erst durch Einbürgerung vorliegt. Auf der Grundlage des MZ 2005, der ein wenig verlässlicher über den Migrationshintergrund Auskunft geben kann als der MZ 2007, komme ich auf 7,7 Millionen Deutsche mit Migrationshintergrund. Da die Verteilung nach Altersgruppen für Wahlforscher ungünstig ausgewiesen wird (die 15- bis 20-Jährigen bilden eine Gruppe), kann die Zahl der Wahlberechtigten (also derjenigen ab 18 Jahren) auf der Grundlage der publizierten Ergebnisse nicht exakt beziffert werden. Ich kam und komme durch eine Schätzkalkulation für 2005 auf insgesamt 5,1 Millionen wahlberechtigte Deutsche mit Migrationshintergrund – nach der Definition „Migrationshintergrund“ des Mikrozensus. Es ist plausibel, dass sich diese Zahl seit 2005 auf nun 5,6 Millionen erhöht hat.

Nun vermute ich allerdings, dass die Zahl der Personen mit Migrationshintergrund im Mikrozensus zu hoch ist. Dabei bestehen überhaupt keine Probleme bei den Eingebürgerten und den Befragten mit Migrationshintergrund der zweiten Generation. Als problematisch betrachte ich aber die Gruppe der „Deutschen mit eigener Migrationserfahrung, die nicht eingebürgert wurden“. Diese Gruppe umfasst im MZ 2005 1,77 Millionen. Laut Definition des Mikrozensus fallen hierunter „Spätaussiedler, Flüchtlinge und Vertriebene deutscher Volkszugehörigkeit ohne Einbürgerung“. Diese Personen und Gruppen sind unzweifelhaft gewandert (größtenteils unter erheblichem Zwang), aber sollte man ihnen deshalb auch gleich das Etikett „Migrationshintergrund“ anheften? Durch den expliziten Ausschluss von Personen, die vor 1949 zugewandert sind und derjenigen, die vor 1949 mit ausschließlich deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurden, versucht der MZ immerhin, die Kriegsjahre und folgen auszuklammern. Ob dies dadurch gelingt, ist zumindest mir nicht klar. Aussiedler und (ab 1993) Spätaussiedler mussten sich jedenfalls bis Juli 1999 einbürgern lassen und fallen daher nach meinem Kenntnisstand in der Regel nicht in diese Gruppe. Wer aber dann?

Aufgrund dieses potenziellen Problems mit der Gruppendefinition „Deutsche mit eigener Migrationserfahrung, ohne Einbürgerung“ habe ich versucht, zu quantifizieren, wie viele Spätaussiedler seit 1999 ohne Einbürgerung nach Deutschland gekommen sind. Laut MZ 2005 sollten es für die Jahre 1999 bis 2004 („Deutsche mit eigener Migrationserfahrung, ohne Einbürgerung, seit weniger als 6 Jahren in Deutschland“) etwa 397.000 sein. Hinzu kommen für die Jahre 2005 bis 2009 weitere rund 50.000 Spätaussiedler (Annäherung, da addierte Zuzugszahlen). Dies sind gerade einmal knapp 450.000. Bei informierter Schätzung der Wahlberechtigten unter diesen 450.000 (exakte Zahlen liegen mir nicht vor) komme ich auf knapp 400.000 Deutsche mit eigener Migrationserfahrung, die seit 1999 nach Deutschland gekommen sind und nicht mehr formal eingebürgert wurden. Demnach kalkuliere ich auf der Basis des MZ 2005 rund 3,9 Millionen Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund, zu denen ich noch diejenigen Deutschen hinzugerechnet habe, die nicht eingebürgert wurden, aber eine eigene Migrationserfahrung haben und aus binationalen Ehen stammen (199.000). Dies ergibt zusammen die von mir genannten 4,1 Millionen.

Alles nur definitorisches Klein-Klein oder lässt sich auch etwas schlussfolgern? Meiner Ansicht nach gibt es auf Grundlage des Mikrozensus 2005 mindestens 4,1 Millionen Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund, für die diese Bezeichnung auch treffend ist. Berücksichtigt man die vom Bundeswahlleiter genannten Erstwähler auf der Grundlage des Mikrozensus 2007, dann haben nun möglicherweise 4,5 bis 4,6 Millionen Wahlberechtigte einen Migrationshintergrund. Dies ist eine konservative Schätzung – weniger Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund wird es wohl nicht geben.

Ich will aber nicht ausschließen, dass die Zahl der Wähler mit Migrationshintergrund insgesamt höher ist und bis zu 5,6 Millionen – wie vom Bundeswahlleiter beziffert – beträgt. Als Wissenschaftler, der sich schon länger mit dem Thema beschäftigt, wären diese höheren Zahlen sogar eine hervorragende Nachricht und unterstrichen die Bedeutung dieses Forschungsbereichs. Andererseits ist mir, gerade als Wissenschaftler, die Definition der Gruppe „Deutsche mit eigener Migrationserfahrung, ohne Einbürgerung“ mit zu vielen Unwägbarkeiten behaftet, als dass ich bislang von der Validität dieser Gruppengröße überzeugt wäre. Es bedarf weiterer Informationen und wahrscheinlich eines Einblicks in die Daten des Mikrozensus (am besten, sobald dann die 2009er Daten vorliegen), um zu einer abschließenden Beurteilung zu kommen.

Letztlich ist es aber begrüßenswert, dass sich nun auch der Bundeswahlleiter der (wahlberechtigten) Bürger mit Migrationshintergrund angenommen hat. Dies könnte der Auftakt zu einer intensiveren Beschäftigung mit dieser Wählergruppe (siehe z.B. Skandinavien) sein. Ich würde sehr begrüßen, wenn es bald einmal Wahlbeteiligungsanalysen für diese Gruppe auf der Grundlage einer erweiterten Repräsentativen Wahlstatistik gäbe, denn über die Wahlbeteiligung in der Gruppe der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund wissen wir in Deutschland immer noch viel zu wenig.

 

Der Wahl-O-Mat – Millionenfach gespielt

Stefan MarschallMit dem gestrigen Tag ist der Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl rund zwei Millionen Mal genutzt worden. Somit wurde dieses Angebot der Bundeszentrale für politische Bildung innerhalb seiner ersten Online-Tage schon öfter gespielt als die Version zur Europawahl 2009 in ihrer gesamten Laufzeit. Bis zum Montagabend hatte der Wahl-O-Mat bereits 1,6 Millionen Mal berechnet, wie nahe die zur Bundestagswahl zugelassenen Parteien Usern in Bezug auf 38 Thesen aus dem Wahlkampf stehen. Zum Vergleich: Der Europa-Wahl-O-Mat wurde insgesamt circa 1,56 Millionen Mal gespielt.

Man kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bereits jetzt sagen, dass auch die bisherige Nutzungsspitze bei der Bundestagswahl 2005 von dieser Version deutlich getoppt werden wird. Damals konnte der Wahl-O-Mat 5,1 Millionen Nutzungen verzeichnen. Rechnet man die nun vorliegenden Zahlen auf der Grundlage der bisherigen Erfahrungen vorsichtig hoch, dann könnte das Tool bis zum Wahltag rund acht bis zehn Millionen Mal gespielt worden sein.

Die starke Nachfrage hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass der Wahl-O-Mat – wie überhaupt die Bundestagswahl – ein prominentes Thema auch und insbesondere in den „alten“ Medien ist. Zahlreiche Wahl-O-Mat-Medienpartnerschaften sind auf den Weg gebracht worden, unter anderem mit der ARD, dem ZDF und RTL. Aus den Befragungen der Nutzer wissen wir, dass viele über die klassischen Massenmedien auf den Wahl-O-Mat aufmerksam gemacht worden sind.

Bedeuten die Zahlen, dass am Ende rund zehn Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung den Wahl-O-Mat genutzt haben werden? Nicht unbedingt. Es handelt sich um Nutzungen, nicht um Nutzer. Zwar wird bei jeder einzelnen Sitzung ein „session cookie“ gesetzt, sodass, wenn man das Tool mehrfach durchspielt, dies als nur eine Nutzung gewertet wird (notabene: auch für den Fall, dass mehrere Personen vor dem Computer sitzen und den Wahl-O-Mat nacheinander durchspielen). Verlässt man die Seite und ruft sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder auf, wird dies als eine zweite Nutzung registriert. So liegt die exakte Zahl der User im Dunkeln – aber sie wird definitiv im Millionenbereich liegen.

Von niederländischen Verhältnissen sind wir freilich noch weit entfernt: Der niederländische Wahl-O-Mat, der „Stemwijzer“, verzeichnete bei der Tweede-Kamer-Wahl 2006, den Wahlen zum nationalen Parlament, rund 4,7 Millionen Nutzungen bei einer Gesamtbevölkerung von 16,4 Millionen: Das sind rund 28 Prozent! Insofern ist für kommende Wahl-O-Mat-Einsätze durchaus noch Luft nach oben.

 

Nur die Liebe zählt…? "Höhepunkte" der TV-Debatte 2005

Auch für die TV-Debatte 2005, in der Gerhard Schröder gegen Angela Merkel antrat, gibt eine Echtzeit-Messung, die durch die Universitäten Kaiserslautern, Landau und Mainz durchgeführt wurde, Einblicke in die spontanen Reaktionen der Zuschauer auf die Aussagen der Kandidaten (Abbildung 1). Die Untersuchung unter rund 50 ostdeutschen Zuschauern zeigt, dass der damalige Kanzler erneut seine besten Momente hatte, als er in seinem Auftakt- und Schlussstatement auf den Irak-Krieg einging – ein Thema, dass 2005 weder in der TV-Debatte noch im Wahlkampf ein zentrales Thema war. Schröder rekurrierte dennoch darauf – mit Erfolg, wie die Ausschläge zeigen. Günstig für ihn erwies sich auch die Kritik am Krisenmanagement von George W. Bush im Zusammenhang mit Hurrikan Katrina. Merkel wiederum gelang es mit Wirtschaftsthemen (Steuerflucht, Strompreise) die Zuschauer auf ihre Seite zu ziehen. Zudem punktete sie mit ihren Aussagen zur Gleichstellung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt.

Echtzeitbewertungen von Schröder und Merkel, TV-Duell 2005
deb2005

2005 gab es aber auch persönliche Momente während der Debatte, über deren Wirkung in der Nachlese heftig spekuliert wurde. Dies gilt insbesondere für die Liebeserklärung Gerhard Schröders an seine Frau („Sie lebt das, was sie sagt […] und das ist nicht zuletzt der Grund, warum ich sie liebe“). Während der Emnid-Chef Klaus-Peter Schöppner sogar implizit mutmaßte, dass Schröder die Liebeserklärung geschadet hat („Viele Wähler könnten den Verdacht haben, dass es sich nur um einen Wahlkampfgag gehandelt hat“) war die Chefredakteurin der „Bunte“, Patricia Riekel, „ganz sicher, dass ihm die Liebeserklärung Stimmen gebracht hat“. Edmund Stoiber verstieg sich sogar in der Nachbetrachtung des Bundestagswahlkampfes zu folgender Behauptung: „Heute wissen wir, dass diese Aussage eine Schneise geschlagen hat in der Zustimmung zu Gerhard Schröder und zur SPD“.

Die RTR-Daten sprechen zunächst einmal eine andere Sprache. Sie zeigen, dass die ostdeutschen Rezipienten überhaupt nicht reagierten, als Schröder Süßholz raspelte. Möglicherweise haben die Zuschauer die Aussage überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Dennoch kann Schröder der Einblick in sein Privatleben genutzt haben – und zwar weil die Experten dieser Aussage im Nachhinein so viel Bedeutung zugemessen haben. Damit kommt ein vierter Akteur ins Spiel, der neben den beiden Kandidaten und den Fernsehzuschauern über die Effekte von TV-Debatten entscheidet: die Massenmedien, die über Debatten breit berichten – und zwar höchst selektiv und stark wertend. Sie sind in der Lage, persönliche Beobachtungen zurechtzurücken; sie sind auch in der Lage, Einschätzungen, die vorher nicht existiert haben, zu generieren – wie etwa die große Bedeutung der Schröderschen Liebeserklärung.

Literatur:

Maurer, M./Reinemann, C./Maier, J./Maier, M. (2007). Schröder gegen Merkel. Wahrnehmung und Wirkung des TV-Duells 2005 im Ost-West-Vergleich. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

 

Wahlprogramme als Sprachtest? Die Verständlichkeit der Bundestagswahlprogramme im Vergleich (Teil 2: Die Kurzprogramme)

Nicht einmal mehr ganze drei Wochen sind es noch bis zur Bundestagswahl. Und mittlerweile haben alle im Bundestag vertretenen Parteien neben ihren regulären Wahlprogrammen auch Kurzfassungen dieser Programme vorgelegt. Dass dies keinesfalls eine Selbstverständlichkeit war, zeigt ein Blick auf vergangene Wahlkämpfe: Noch im Wahlkampf 2005 veröffentlichte lediglich die FDP eine Kurzversion ihres Wahlprogramms. Kommunikationswissenschaftler der Universität Hohenheim haben nun auch die Verständlichkeit dieser Kurz-Wahlprogramme untersucht, nachdem Sie vor zwei Monaten bereits die Langfassungen der Wahlprogramme einem Verständlichkeitstest unterzogen hatten.

Das wichtigste Ergebnis der Hohenheimer Studie: Im Vergleich zu den Langfassungen erhöht sich die Verständlichkeit bei den Kurzprogrammen bei allen Parteien. Am deutlichsten fällt dieser Befund allerdings bei der Linken aus: Hier schneidet das Kurzprogramm auf der Hohenheimer Verständlichkeitsskala von 0 (überhaupt nicht verständlich) bis 20 (sehr verständlich) fast 10 Punkte besser ab als die Langfassung. Dieser Befund führt zu dem Umstand, dass die Verständlichkeitsrangfolge der Parteien bei den Kurzprogrammen – wiederum im Vergleich zur Analyse der Langfassungen – durcheinander gewirbelt wird: Ganz vorne rangiert nun die Linke (die bei den Langfassungen noch am schlechtesten von allen Parteien abgeschnitten hatte), ganz hinten SPD und Union.

Kurzprogramme

Zusätzlich zu den Lang- und Kurzfassungen haben fast alle Parteien auch noch weitere Ausgaben ihrer Programme veröffentlicht. So bieten mit Ausnahme der FDP alle Parteien auch Wahlprogramme in „leichter Sprache“ (d.h. barrierefreier Sprache für Menschen mit Behinderungen) an. Diese erreichen auf dem Hohenheimer Verständlichkeitsindex zwar ausnahmslos die vollen 20 Punkte, über die Angemessenheit des hierbei vermittelten Informations- und Sprachniveaus wird jedoch zumindest bei der Linken bereits gestritten. Trotz dieser Problematik bleibt festzuhalten: Alle Parteien bemühen sich in diesem Wahlkampf ganz besonders auch um Wähler mit Behinderungen. So kann man sich die Programme von Union, SPD und FDP auch als Hörbuch bzw. Download anhören oder als Video in Gebärdensprache anschauen. Die Union bietet darüber hinaus sogar die kostenlose Bestellung eines Programms in Braille-Schrift für blinde Wähler an. Bei der Linken und den Grünen gibt es diese Angebote zwar nicht, doch findet sich hier zumindest das bereits erwähnte Programm in leichter Sprache. Auch Wähler mit Migrationshintergrund werden bei allen Parteien bis auf die Grünen mit Übersetzungen der Kurzprogramme angesprochen. Am internationalsten gibt sich hier FDP: Diese bietet ihr Kurzprogramm gleich in sieben weiteren Sprachen an, darunter chinesisch, russisch, türkisch und polnisch.

Fazit: Betrachtet man die Ergebnisse der Hohenheimer Forscher, so drängen sichvor allem zwei zentrale Feststellungen auf. Erstens haben mittlerweile alle Parteien Menschen mit Behinderungen und Bürger mit Migrationshintergrund als potenzielle Wähler entdeckt, auch wenn sie diese noch mit unterschiedlich starkem Engagement und teilweise fragwürdiger Kompetenz umwerben (hier überrascht insbesondere das vergleichsweise zurückhaltende Engagement der Grünen). Zweitens zeigt sich, dass sich die Funktion von Wahlprogrammen im Vergleich zu früheren Wahlkämpfen entscheidend gewandelt hat. Die Originalfassungen der Wahlprogramme scheinen heute vor allem ein Kommunikationsmittel zwischen parteiinternen und -externen Experten (Parteifunktionäre, -mitglieder, und Journalisten) darzustellen, während die Kurzprogramme nun offensichtlich die eigentlich zentralen Funktionen von Wahlprogrammen erfüllen sollen, nämlich die der (allgemein verständlichen) Werbung, Profilierung und Agitation.

 

Afghanistan – wieder ein außenpolitisches Thema zur heißen Wahlkampfphase?

Andrea Römmele In Wahlkämpfen, so die Forschung, spielen vor allem innenpolitische Themen und Positionen eine Rolle. Seit 1972, als die Ostpolitik Willy Brandts im Zentrum stand, gab es kaum einen Wahlkampf mehr, in dem ein außenpolitisches Thema heiß diskutiert wurde. Die einzige Ausnahme aus der jüngeren Vergangenheit war die Auseinandersetzung über den bevorstehenden Irak-Krieg im Jahr 2002. Gerhard Schröders SPD gelang es damals, sich als Stützpfeiler der „Friedensmacht“ Deutschland (so der Titel eines SPD-Plakates) zu präsentieren und damit zugleich die Wähler von der außenpolitischen Kompetenz der Partei zu überzeugen. Angesichts der heftigen Kritik, die die Regierung zuvor etwa für ihre Haltung im Kosovo-Krieg einstecken musste, war dieser außenpolitische Rückenwind nicht unbedingt zu erwarten. Die Umfragedaten von damals zeigen aber deutlich, welchen Stellenwert der bevorstehende Krieg im Irak im deutschen Wahlkampf hatte: Laut ARD-Deutschlandtrend vom September 2002 war für 47 Prozent der Befragten die Außen- und Sicherheitspolitik ein wichtiges Thema, 74 Prozent lehnten einen US-Militärschlag im Irak ab. Schröders Nein hat diese Wähler mobilisiert und SPD und Grünen die entscheidenden Stimmen für die Fortsetzung der Koalition eingebracht.

Und jetzt? Haben wir mit dem unglaublich bedauerlichen Zwischenfall in Afghanistan wieder einen solchen Fall im Wahlkampf? Wohl kaum. Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, der ebenfalls noch während der Zeit der rot-grünen Regierung beschlossen wurde, wird nur von der Linken offen abgelehnt. Alle anderen Parteien tragen diesen Einsatz mit, der Spielraum für grundsätzliche Auseinandersetzungen ist damit weit weniger groß als 2002. Das Reden von einer „Exit-Strategie“ für die Bundeswehr in Afghanistan ist weder realpolitisch noch emotional mit einem Nein zum Irak-Krieg gleichzusetzen.

Dennoch ist der Afghanistan-Einsatz ein Thema, das nicht ignoriert werden darf. Eine klare Mehrheit von 69 Prozent der Deutschen war schon im Juli für einen schnellen Abzug, die Tendenz ist steigend. Wenn der Bevölkerung also nicht vermittelt werden kann, warum dieser Einsatz wichtig und notwendig ist, werden sowohl die Partei der Kanzlerin als auch die des Außenministers Einbußen hinnehmen müssen. Es gibt daher gerade für Union und SPD zwar nur wenig zu gewinnen, aber viel zu verlieren. Die Aufarbeitung der jüngsten Geschehnisse in Afghanistan ist somit nicht Teil der außenpolitischen Kür der Regierung, sondern einfach ihre Pflicht.

 

Schröder gegen Stoiber, Teil II

Der Premiere zwischen Schröder und Stoiber 2002 – die taz hatte damals das „Zeitkonto“ zum Sieger dieses Duells erkoren, weil der Blick auf Selbiges zum dominanten Element des ersten Duells geworden war – folgte zwei Wochen später (und zwei Wochen vor der Bundestagswahl 2002) das zweite Aufeinandertreffen zwischen Schröder und Stoiber. Dieses Mal übertragen von ARD und ZDF – und dieses Mal auch deutlich lebhafter und weniger reglementiert. Als „Sieger“ (was ist das eigentlich bei einem TV-Duell?) ging Gerhard Schröder aus diesem Duell hervor, wie Umfragen einhellig zeigten.

Doch auch die Echtzeitmessungen des zweiten Duells zeigen Chancen und Gefahren solcher Ereignisse – Duelle sind „High Risk Television“. Gerhard Schröder konnte in der ersten Hälfte der Debatte, die folgende Grafik zeigt es, mit seiner Absage an eine Zusammenarbeit mit der PDS punkten, vor allem aber, wie schon <a href="im ersten Duell, mit seiner Ablehnung des Irak-Kriegs. Dass TV-Debatten tatsächlich „Miniatur-Wahlkämpfe“ sind, zeigt sich auch darin, denn dieses Thema dominierte den Wahlkampf 2002 bekanntlich insgesamt.

Echtzeitbewertungen von Schröder (rot) und Stoiber (blau) in der ersten Hälfte der zweiten Debatte 2002
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Noch interessanter ist der erste markante Ausschlag, der für die zweite Debattenhälfte zu beobachten ist: Gerhard Schröder berichtet in sehr persönlicher Weise über seinen Bildungsweg (und wird dafür von den Teilnehmern der Studie mit positiven Bewertungen belohnt), Edmund Stoiber attackiert ihn dafür („Das sind schöne Worte“) – und erntet dafür eher negative Bewertungen.

Echtzeitbewertungen von Schröder (rot) und Stoiber (blau) in der zweiten Hälfte der zweiten Debatte 2002
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Was bedeutet das für Sonntag? Eine persönliche Geschichte einzustreuen (was ja auch beide Kontrahenten bei den bisherigen Auftritten im TV wiederholt getan haben), kann sich lohnen; den Gegner (zu) heftig und (zu) persönlich zu attackieren, bringt Gefahren mit sich. Dies gilt umso mehr, als jedes Wort gerade im Nachgang der Debatte auf die Goldwaage gelegt werden wird. Dem bisherigen Grundtenor, der die Erwartungen im Vorfeld der Debatte prägt, nämlich dass es eher langweilig werden wird, ist daher nur bedingt zuzustimmen. Ein kleiner Moment der Unachtsamkeit genügt und es ist mehr Spannung da, als es einem der beiden Kontrahenten vielleicht lieb ist.

 

Der Premiere erster Teil: Schröder gegen Stoiber

TV-Duelle im amerikanischen Stil kennen wir in Deutschland seit 2002. Zwar gab es schon früher – bis einschließlich 2002 – Diskussionsrunden im Fernsehen („Elefantenrunden“), doch das direkte Aufeinandertreffen der beiden Kanzlerkandidaten – Schröder und Stoiber – hatte 2002 seine Premiere. Groß war das Interesse – von Seiten der Medien wie auch von Seiten der Zuschauer. Über 15 Millionen Zuschauer schalteten bei der Premiere bei RTL und SAT1 damals ein – und sahen, so der Tenor von Experten wie auch Umfragen, einen erstaunlich guten Edmund Stoiber und einen etwas fahrigen Gerhard Schröder.

Doch über solche pauschalen Aussagen hinaus bieten TV-Duelle Möglichkeiten zu weitaus feinkörnigeren Analysen. Mittels so genannter Real-Time-Response-Analysen (vulgo: Echtzeitmessungen) kann man Zuschauer sekundengenau festhalten lassen, wie sie das Auftreten der Kandidaten bewerten. Die folgenden Abbildungen basieren auf solchen Echtzeitmessungen, die 2002 in einer Studie an der Universität Bamberg von rund 40 Teilnehmern abgegeben wurden.

Echtzeitbewertungen von Schröder (rot) und Stoiber (blau) in der ersten Hälfte der ersten Debatte 2002
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Zunächst fällt auf, dass diese „Wahlkämpfe im Miniaturformat“ durchaus differenziert wahrgenommen werden. Zwar zeigen weitergehende Analysen, dass parteigebundene Anhänger „ihren“ Kandidaten durchweg positiv wahrnehmen, doch schon die Wahrnehmung des politischen Gegners verläuft differenzierter. Insgesamt jedenfalls zeigen die Echtzeitmessungen ein häufiges Auf und Ab. Die Passagen, welche die deutlichsten Ausschläge produziert haben, sind in den Abbildungen dokumentiert.

Echtzeitbewertungen von Schröder (rot) und Stoiber (blau) in der zweiten Hälfte der ersten Debatte 2002
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Übrigens kann man mit Hilfe solcher Echtzeitmessungen sehr gut vorhersagen, wen Befragte am Ende als Sieger des Duells wahrnehmen. Offenkundig sind sie – ob bewusst oder intuitiv – in der Lage, die einzelnen Aussagen so zu verrechnen, dass sie am Ende zu einem „sinnvollen“ Siegerurteil kommen. Die einzelnen Inhalte einer Debatte – was ja mitunter bezweifelt wird – spielen also durchaus eine entscheidende Rolle. Man darf daher gespannt sein, welche Aussagen Merkel und Steinmeier nächsten Sonntag treffen werden. Wichtig sind sie allemal.

 

Der Wahl-O-Mat als Hilfe – für die Parteien!

Der Wahl-O-Mat ist seit heute wieder online. Dabei handelt es sich um ein “Informationsangebot über Wahlen und Politik” – für die Wähler, mag man zunächst denken. Doch in Zeiten der neuen Unübersichtlichkeit, die – der jüngste Wahlabend hat es gezeigt – den Satz “wir gehen nur nach Inhalten, nicht Koalitionen” (sowie beliebige Abwandlungen davon) auf Platz 1 der Wahlabend-Charts gebracht haben, kann der Wahl-O-Mat auch für Parteien als Richtschnur dienen, gerade wenn es nur noch um Inhalte geht.

Wie funktioniert der Wahl-O-Mat? 38 Thesen wurden den Parteien für die neueste Version des Informationsangebots zur Bewertung vorgelegt. Als Antwortoptionen standen zur Verfügung: “dafür”, “dagegen” oder “neutral”. Mit Hilfe der Antworten lässt sich nun leicht feststellen, wer mit wem in welchem Maße übereinstimmt. Die folgende Grafik zeigt dies anhand eines einfachen “Übereinstimmungsindex” für Parteipaare (*):

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Die höchste Übereinstimmung mit einem Wert von über 84 Prozent resultiert für Grüne und Linke; der niedrigste zwischen Union und Linke: 21 Prozent.

Was können wir über aktuell diskutierte Koalitionsmodelle lernen? Für Jamaika wird es schwer, die Übereinstimmung zwischen Union und Grünen liegt nur bei 32 Prozent – während sie zwischen Grünen und der FDP bei immerhin 53 Prozent liegt. Das ist ein größeres Maß an Übereinstimmung, als für SPD und Union in der Großen Koalition zu beobachten ist (47 Prozent). Schwarz-Gelb kommt auf einen Übereinstimmungsgrad von 63 Prozent, SPD und Grüne von 76 Prozent (und SPD und Linke von 71 Prozent).

Würde es alleine nach inhaltlichen Aussagen gehen (und noch dazu nur denen, die als These in den Wahl-O-Mat eingeflossen sind), wäre das also die politische Landschaft in Deutschland. Seit den Landtagswahlen – vor allem in Thüringen und dem Saarland – wissen wir allerdings auch, dass Personen eine wichtige Rolle spielen: Bodo Ramelow möchte die SPD-Fraktion nicht wählen, im Saarland hakt es zwischen Mitgliedern der Grünen- und der Linken-Fraktion. Diesbezüglich hilft der Wahl-O-Mat allerdings nicht weiter – weder den Parteien noch den Wählern. Der Politiker-O-Mat muss erst noch erfunden werden.

(*) Der Index berechnet sich wie folgt: Für jedes Paar von Parteien wird über alle 38 Thesen hinweg gezählt, wie oft die Parteien übereinstimmen. Jede Übereinstimmung gibt einen Punkt, jede Kombination von “stimme zu” oder “stimme nicht zu” mit “neutral” einen halben Punkt. Addiert man diese Punkte zusammen und teilt die Summe durch 38 (die Zahl der Thesen), erhält man den Index. Die Annahme ist dabei natürlich, dass alle Thesen gleich wichtig sind.

 

Merkels Werk und Steinbrücks Beitrag

Henrik SchoberAngela Merkel möchte, so ist derzeit zu lesen, Peer Steinbrück aus Dankbarkeit für die gute Zusammenarbeit beim Management der Finanzkrise für einen prestigeträchtigen Job vorschlagen, falls die SPD nach der Bundestagswahl nicht mehr an der Regierung beteiligt sein sollte. Und wie bei fast allen politischen Meldungen dieser Tage stellt sich die Frage: Hat das Auswirkungen auf den Wahlkampf?

Jedenfalls passt die Nachricht ins Bild des bisherigen Wahlkampfes der Bundeskanzlerin, der zuletzt als zu wenig aggressiv und konfrontativ kritisiert wurde. Vor diesem Hintergrund sehen vermutlich einige Wahlkämpfer diesen neuen Beweis für das trotz jüngster Attacken bis zuletzt gute Klima in der Großen Koalition kritisch. Auch mancher (Nicht-)Wähler könnte sich in seiner Meinung bestätigt sehen, dass es zwischen den Parteien und ihren Kandidaten keine klaren Unterschiede gibt. Aus dieser Perspektive könnte man vermuten, dass hier eine interne Absprache zwischen Merkel und Steinbrück ungewollt nach außen gedrungen ist.

Möglicherweise steckt aber auch ein gewisses Kalkül dahinter, dass diese Information schon heute (also vor und nicht erst nach der Wahl, wenn Personalfragen üblicherweise verhandelt werden) aus dem CDU-Umfeld an die Öffentlichkeit gelangt ist. Immerhin stellt eine solche Nachricht die Kanzlerin einmal mehr als Staatsfrau dar, die jenseits der Parteigrenzen agiert und – ganz im Sinne des Volkes, das Steinbrücks Krisenmanagement schätzt – gute Arbeit ungeachtet des Parteibuches belohnt. Dieses Bild passt zur Wahlkampfstrategie der Union, die bisher vor allem auf die überparteiliche Beliebtheit der Person Angela Merkel und ihre damit verbundene Strahlkraft auf die anderen politische Lager ausgelegt war.

Schon Gerhard Schröder hat sich eines ähnlichen Kunstgriffes bedient, als er in seiner Regierungszeit zwei Kommissionen unter der Führung prominenter Unionspolitiker, Rita Süßmuth und Richard von Weizsäcker, einsetzen ließ. Auch dies war nicht zuletzt ein Versuch, sich gerade im Unionslager als „Kanzler aller Deutschen“ zu profilieren. Und tatsächlich stand Schröder zumindest phasenweise auf einer Stufe mit Kanzlern wie Konrad Adenauer oder Helmut Schmidt, deren persönliche Beliebtheit sehr tief in das gegnerische politische Lager hineinreichte.

Für Angela Merkel bietet sich nun die Möglichkeit, kurzfristig noch auf ähnliche Weise im Lager der SPD zu punkten. Laut aktuellem Politbarometer stehen nur 60% der SPD-Anhänger hinter Spitzenkandidat Frank-Walter Steinmeier, im Vergleich dazu unterstützen 92% der CDU/CSU-Anhänger die Kanzlerin. Hier ist aus Sicht der Union großes Potenzial für eine Kampagne vorhanden, die sich gerade an jene SPD-Anhänger richtet, die aufgrund des Kandidatenfaktors noch nicht sicher sind, wo sie ihr Kreuz setzen werden. Wenn gerade diesen Wählern demonstriert werden könnte, dass sozialdemokratische Spitzenpolitiker wie Peer Steinbrück auch unter einer schwarz-gelben Regierung zur Geltung kommen würden, könnte dies Angela Merkel und der CDU wertvolle Stimmen einbringen.

 

Dieser Twitter und die Arroganz der Macht

Schon lange war sich die große Koalition nicht mehr so einig wie nach der Verbreitung angeblicher exit poll-Ergebnisse über diesen twitter . Die CSU mahnt die Meinungsforscher zur Geheimhaltung, weil sonst Wahltagsbefragungen nicht länger erlaubt würden, während die CDU mit schärferen Sanktionen gegen twitter vorgehen möchte. Und Frau Zypries von der SPD befindet, daß es „kein Schaden für die Demokratie“ wäre, wenn durch eine Verschärfung des Bundewahlgesetzes das Instrument der Wahltagsbefragung schlichtweg abgeschafft würde.

Daß sich gerade die Bundesjustizministerin in dieser Weise öffentlich äußert, entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, da hier gleich drei von Artikel 5 des Grundgesetzes garantierte Grundrechte zur Disposition stehen: das Recht, sich in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern, das Recht, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten sowie die Freiheit von Forschung und Wissenschaft, die nach den Vorschlägen der Koalition durch einfachgesetzliche Verbote noch weiter beschränkt werden sollen.

Daß die Kenntnis von Wahltagsbefragungen bzw. Wahlergebnissen (in den USA) vermutlich keinen Einfluß auf das Wahlverhalten hat, wurde in diesem Blog schon häufiger erwähnt. Aber selbst wenn es solche Effekte gäbe: Mit welchem Recht sollte man rationalen Wählern Informationen über den bisherigen Verlauf der Wahl vorenthalten? Warum sollen freie Bürger nicht taktisch wählen dürfen, wenn sie dies wollen?

Dazu gibt es sogar einige Zahlen: Eine Umfrage im Vorfeld der Bundestagswahl 2005, die von der Forschungsgruppe Wahlen durchgeführt wurden, zeigt dazu, dass damals rund 40 Prozent der Befragten angaben, sich „sehr stark“ oder „stark“ für Meinungsumfragen zur Bundestagswahl zu interessieren. Rund 60 Prozent taten dies nach eigenen Angaben „weniger stark“ oder „überhaupt nicht“. Von den Befragten, die sich zumindest ein wenig für die Umfragen interessieren, sagen dann über 80 Prozent, dass diese keinen Einfluss auf ihre Entscheidungen nehmen, für knapp 15 Prozent spielen Umfragen „eine gewisse“, für rund fünf Prozent sogar eine „große Rolle“. Und das sind häufig Anhänger kleiner Parteien, die in der versuchen, „taktisch“ zu wählen. So viel zu den Zahlen.

Für das im Bundeswahlgesetz enthaltene Verbot der Veröffentlichung von Wahltagsbefragungen gibt es eine einzige scheinbar plausible Begründung: Gefälschte Wahltagsbefragungen könnten genutzt werden, um das Verhalten der Wähler gezielt zu manipulieren. Bei näherer Betrachtung ist jedoch auch dieses Argument wenig stichhaltig: Seriöse Umfrageunternehmen haben ein intrinsisches Interesse daran, möglichst akurate Prognosen zu publizieren, weil ihr guter Ruf ihr wichtigstes Kapital ist, und weisen stets auf den unvermeidlichen Stichprobenfehler und andere Fehlerquellen hin. Und Bürger, denen man zubilligt, daß sie erwachsen genug sind, um an der Wahlurne über das Schicksal des Landes zu entscheiden, werden sich nicht von frei erfundenen Meldungen aus dubiosen Quellen beeinflussen lassen.

Das Veröffentlichungsverbot für Wahltagsbefragungen sollte deshalb gänzlich abgeschafft werden. In seiner jetzigen Form schränkt es die Informationsfreiheit der Bürger ein und dient primär dazu, den
Informationsvorsprung zu schützen, den ausgewählte Journalisten und Spitzenpolitiker am Wahltag haben. Daß letztere Gruppe das Veröffentlichungsverbot nun verschärfen möchte, wirft ein Schlaglicht
auf deren Demokratieverständnis.