Lesezeichen
 

Wer hat sich besser durchgesetzt? Das schwarz-gelbe Koalitionsabkommen und die Wahlprogramme der Regierungsparteien im Vergleich

Während Wahlprogramme dazu dienen, die Positionen politischer Parteien auf verschiedenen Politikfeldern zu vermitteln, so stellen Koalitionsabkommen das ausgehandelte Dokument mehrerer Parteien dar, in denen sich die inhaltlichen Kompromisse der neuen Regierung wieder finden. CDU/CSU und FDP haben sich nach knapp vier Wochen Koalitionsverhandlungen auf ein 128 Seiten langes Dokument als Grundlage ihrer gemeinsamen Politik der künftigen Legislaturperiode geeinigt. Darin werden wie in den Wahlprogrammen alle relevanten Politikbereiche – von Wirtschaft, Arbeit und Soziales über Finanzen, Außen-, Sicherheits- und Europapolitik bis hin zu Innen-, Justiz-, Familien- und Bildungspolitik – abgehandelt. Es bietet sich somit an, die Positionen, die die Parteien in den Wahlprogrammen geäußert haben, mit denjenigen zu vergleichen, die sich im neuen Koalitionsabkommen wieder finden.

Eine Analyse der Wahlprogramme der Bundestagsparteien mit dem Entwurf des schwarz-gelben Koalitionsabkommens mit Hilfe des wordscore-Verfahrens kann hierüber Aufschluss geben. Es wird unterschieden zwischen einer wirtschaftspolitischen Links-Rechts-Dimension einerseits sowie einer Dimension, die zwischen progressiven und konservativen Positionen in der Gesellschaftspolitik differenziert. Zusätzlich zu den Wahlprogrammen und dem Koalitionsabkommen aus dem Jahr 2009 werden die programmatischen Dokumente aus dem Jahr 2005 in die Analyse mit einbezogen, um so Veränderungen in den ausgehandelten Politikzielen zwischen der großen Koalition Merkel/Steinmeier und der neuen Bundesregierung Merkel/Westerwelle zu evaluieren.

In der Abbildung sind die ermittelten Positionen der Parteien auf der Grundlage ihrer Wahlprogramme aus den Jahren 2005 und 2009 sowie der beiden Koalitionsabkommen eingezeichnet. Auf den ersten Blick ergibt sich ein überraschendes Ergebnis: im Vergleich zum Koalitionsabkommen der großen Koalition liegt der Regierungsvertrag von Union und FDP wirtschaftspolitisch weiter in der Mitte der sozioökonomischen Links-Rechts-Dimension. In innen-, rechts- und gesellschaftspolitischen Fragen ergibt sich eine etwas konservativere Position für den Koalitionsvertrag von Union und Liberalen im Gegensatz zu dem im November 2005 ausgehandelten Abkommen und Christ- und Sozialdemokraten. Wenn man jedoch genauer hinsieht, dann zeigt sich, dass die ermittelte Position des neuen Koalitionsabkommens gar nicht so überraschend ist: zu erwarten wäre gewesen, dass sich CDU/CSU und FDP auf ein Programm einigen, dass auf der gestrichelt eingezeichneten Linie und damit zwischen den Positionen beider Regierungsparteien liegt. Da die Union 239 Abgeordnete und damit 72% und die FDP lediglich 93 Mandate und damit 28% in die Mehrheit der Regierung im Bundestag einbringt, sollte das Koalitionsabkommen auf dieser Geraden zwischen den beiden Koalitionsparteien näher an der Union als an der FDP liegen.

Nun zeigt sich, dass der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP nicht ganz auf dieser Pareto-optimalen Geraden liegt, sondern wirtschaftspolitisch näher an der Position des Unions-Wahlprogramms von 2009 und gesellschaftspolitisch näher am 2009er Wahlprogramm der Liberalen. Offenbar konnten sich CDU und CSU in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen besser durchsetzen, während dies der FDP in der Innen-, Rechts- und Gesellschaftspolitik gelang. Dieses zwischen den Koalitionsparteien „schiefe“ Verhältnis war 2005 hingegen noch weiter ausgeprägt: damals konnte sich die Union nahezu vollkommen in sozioökonomischen Fragen durchsetzen und die SPD im gesellschaftspolitischen Bereich. Dieses Missverhältnis kann durchaus dazu beigetragen haben, dass die Sozialdemokraten so stark an Wählerzuspruch verloren haben, da sich ihre Handschrift kaum in dem für die SPD so zentralen Politikfeld Wirtschaft und Soziales wieder fand und dementsprechend in geringem Ausmaß ökonomische Politik im Sinne des SPD-Wahlprogramms 2005 durch die große Koalition implementiert wurde. Inwiefern die FDP, die sich den hier dargestellten Ergebnissen zufolge auch in ihrem zentralen Bereich der Wirtschaft-, Sozial- und Finanzpolitik bei weitem nicht vollständig durchsetzen konnte, ähnliche Verluste auf Wählerebene erleiden muss wie die SPD werden die kommenden Landtagswahlen zeigen.

koal

 

Das Kanzlermodell bei der Wahl 2009: Diesmal kein Volltreffer

In den Tagen nach der Bundestagswahl haben mein Kollege Helmut Norpoth und ich das Abschneiden unseres Kanzlermodells näher untersucht. Die nachfolgende Analyse ist das erste Ergebnis unserer gemeinsamen Bemühungen.

Das Wahlergebnis vom 27. September zeigt eines ganz deutlich: Der Regierungswechsel wird kommen. CDU/CSU haben zusammen mit der FDP eine Mehrheit im neuen Bundestag erreichen können. Im Gegensatz zu einigen Kommentatoren und Umfragen, die noch kurz vor dem Wahltag einen solchen Ausgang für unwahrscheinlich hielten und stattdessen eher eine Wiederauflage der „Großen Koalition“ voraussahen, hat das Kanzlermodell erneut den richtigen Sieger vorhergesagt. Schwarz-Gelb. Trotz der zugegebenen schwierigen Ausgangssituation im Jahr 2009 mit einer amtierenden Regierung, die eigentlich gar nicht wiedergewählt werden wollte, prognostizierte unser Modell wie bei allen anderen Wahlen zuvor wieder einmal den richtigen Sieger. Und das nicht erst am Wahlabend oder mit lauten Zweifeln, sondern schon lange vor dem Wahltag.

Der tatsächlich erreichte Prozentsatz für Schwarz-Gelb von 48,4 % weicht von unserem am 20. August vorhergesagten Wert (52,9 %) um 4,5 Prozentpunkte ab. Obwohl wir den Ausgang richtig vorhergesagt haben, war das Modell offensichtlich großzügiger zur Wunschkoalition der Kanzlerin als die Wählerinnen und Wähler am Wahltag selbst. Natürlich ist nicht jedesmal ein Volltreffer zu erwarten wie 2002 oder nur eine geringfügige Abweichung wie 2005, als unsere Modellprognosen besser abschnitten als die Umfrageergebnisse vor und am Wahltag selbst. Allerdings irrte sich dieses Mal unser Modell weit mehr als die Umfragen.

Warum wurde der Stimmenanteil von Schwarz-Gelb derart überschätzt? Wir können natürlich nicht in die Köpfe der Wähler hineinschauen, vermuten aber Folgendes: Die Umsetzung von Popularität vor der Wahl in Stimmen am Wahltag hat für die schwarz-gelbe Wunschkoalition der Kanzlerin nicht so funktioniert, wie wir das von den anderen Bundestagswahlen her kannten. Leider sind bisher noch keine Umfragedaten, die eine genauere Analyse ermöglichen würden, öffentlich zugängig. Trotzdem gibt es Anzeichen, die diese Vermutung stützen.

Popularität von Merkel und Steinmeier bei ihren eigenen Anhängern im Jahr 2009

2009 Merkel wird bevorzugt von CDU/CSU-Anhängern Steinmeier wird bevorzugt von SPD-Anhängern
Juli I 89 62
Juli II 91 50
Aug I 93 53
Aug II 92 55

Quelle: Veröffentlichte Werte im Bericht zum Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen

Die Anhänger der SPD standen nicht deutlich hinter ihrem Kanzlerkandidaten. Die Unterstützungswerte von Steinmeier lagen nur bei rund 55 %. Offensichtlich hat die hypothetische Entscheidung „Merkel oder Steinmeier?“ die eigenen SPD-Reihen nicht so fest geschlossen wie das üblicherweise der Fall ist. Viele wünschten sich Frau Merkel anstelle des eigenen Kandidaten als Bundeskanzler(in), ohne jedoch für die Union zu stimmen. So war Frau Merkel vor der Wahl populärer als die Bundeskanzler bei früheren Wahlen. Das lag hauptsächlich an der besonderen Situation der amtierenden „Großen Koalition.“ Die SPD gehörte einer Regierung an, die nicht von einer Persönlichkeit aus der eigenen Partei, sondern aus der Gegenpartei geleitet wurde. Es gab offenbar SPD-Anhänger, die es ohne weiteres mit sich vereinbaren konnten, einerseits lieber die Amtsinhaberin anstelle des eigenen Kandidaten als Kanzler zu bevorzugen, aber am Wahltag doch der eigenen Partei ihre Stimme gaben statt ihrer Wunschkanzlerin ins Amt zu verhelfen. Vermutlich waren viele Wähler derart an die „Große Koalition“ gewöhnt, dass sie trotz gegenseitiger Konfrontationen im zurückliegenden Wahlkampf zu solch einem gefühlten Spagat fähig waren. Dieser Umstand bescherte 2009 der amtierende Kanzlerin bei SPD-Anhängern Sympathien, einen „Großer Koalitions-Bonus“ sozusagen, die bei Wahlen ohne Grosse Koalition nicht zu erwarten sind. Ein Vergleich von Kanzlerpopularität in den Reihen der Parteianhänger mit Kanzlerpopularität vergangener Wahlen beweist das eindeutig.

Wir haben uns daraufhin die veröffentlichten Berichte der Forschungsgruppe Wahlen zum Politbarometer angesehen, auf deren Basis wir unser Maß für die Kanzlerpopularität konstruierten. Zudem haben wir auch die von der Forschungsgruppe Wahlen dankenswerterweise archivierten Daten für 2002 reanalysiert.

Popularität von Stoiber und Schröder bei ihren eigenen Anhängern im Jahr 2002

2002 Ost Stoiber wird bevorzugt von CDU/CSU-Anhängern Schröder wird bevorzugt von SPD-Anhängern
Feb 81 95
Mär 85 96
Apr 82 95
Mai 83 93
Jun 81 93
Jul 81 95
Aug 78 97
Sep 87 99

 

2002 West Stoiber wird bevorzugt von CDU/CSU-Anhängern Schröder wird bevorzugt von SPD-Anhängern
Feb 91 96
Mär 89 93
Apr 89 95
Mai 87 96
Jun 89 94
Jul 88 95
Aug 88 98
Sep 88 99

Quelle: Erhebungen der Forschungsgruppe Wahlen

Vor der Wahl 2002, als die eine Großpartei (SPD) im Amt und die andere (CDU/CSU) in der Opposition war, erfreuten sich Kanzler Schröder wie auch Kanzlerkandidat Stoiber nahezu voller Unterstützung in den eigenen Reihen. In Ost wie West. Zwischen 80 und 90 % der CDU/CSU- Anhänger wünschten sich lieber Stoiber als Schröder als Kanzler. Über 90 % der SPD-Anhänger wünschten sich lieber wieder Schröder.

Für 2005 ergibt sich im Wesentlichen dasselbe Bild. Hier berufen wir uns auf die veröffentlichten Werte im Politbarometer. Beide Kanzlerkandidaten konnten unter den jeweiligen Parteianhängern klar polarisieren. Während die damalige Herausforderin sich auf rund 80 % Zustimmung im eigenen Lager verlassen konnte, konnte der Amtsinhaber auf rund 90 % seiner Anhänger zählen. Ein solches Muster ist typisch für den Normalfall einer Bundestagswahl, wo CDU/CSU und SPD auf entgegengesetzten Seiten der Macht stehen.

Popularität von Merkel und Schröder bei ihren Anhängern im Jahr 2005

2005 Merkel wird bevorzugt von CDU/CSU-Anhängern Schröder wird bevorzugt von SPD-Anhängern
Jul I 79 92
Jun II 75 89
Jun I 83 88
Mai 81 91

Quelle: Veröffentlichte Werte im Bericht zum Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen

Für den seltenen Fall einer Wahl wie der in 2009, wo diese beiden Parteien gemeinsam im Amt sind, wäre es ratsam, die Variable „Kanzlerpopularität“ im Prognosemodell entsprechend zu bereinigen. Insbesondere dann, wenn die Wahlprognose auf eine andere Parteienkombination abzielt, also Schwarz-Gelb statt Schwarz-Rot. Nehmen wir also den typischen Fall, in dem sich die beiden Großparteien gegenüberstehen: Hier finden die beiden Kanzlerkandidaten etwa die gleiche Zustimmung in den eigenen Parteilagern. Unter dieser Annahme erhielten wir für 2009 einen vom „Großen Koalitions-Bonus“ bereinigten Wert für die Kanzlerpopularität von 61 % für die amtierende Kanzlerin. Mit einem solchen Popularitätswert hätte unser Modell sodann eine Prognose von 49,1 % Stimmen für Schwarz-Gelb geliefert. Bei einem solchen Sonderfall wie in 2009, ist eine solche Korrektur sicherlich zu rechtfertigen. Die Kanzlerpopularität eignet sich ohne weiteres als Prognosefaktor bei Wahlen, in denen sich die Kanzlerkandidaten wie auch die hinter ihnen stehenden Parteien auf entgegengesetzten Seiten befinden. Wenn beide Großparteien jedoch zusammen im Amt sind und mit eigenen Kanzlerkandidaten antreten, dann hat die Kanzlerpopularität nur bedingte Prognosekraft für eine andere Kombination von Parteien.

 

Sozialdemokratische Dilemmata und grüne Königsmacher

Die Diskussion innerhalb der SPD dreht sich im Zuge ihrer drastischen Wahlniederlage bei der Bundestagswahl vom 27. September vor allem um den künftigen programmatischen Kurs und die Implikationen, die ein Richtungswechsel nach links bergen würde. Während der moderate, den wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen der Schröder-Regierung zugeneigte Parteiflügel eine Beibehaltung des „Agenda 2010“-Kurses auch in der Opposition befürwortet, um nicht noch weiter Wähler aus der „Mitte“ an Union und FDP zu verlieren, so pocht die innerparteiliche Linke auf einen programmatischen Wandel, um die Wähler zurück zu gewinnen, die entweder bei der „Linken“ eine neue politische Heimat gefunden haben oder bei den letzten Wahlen zum Lager der Nichtwähler gehörten.

Beide Strategien bergen in der Tat Gefahren für die SPD und ihre Chance, erneut eine Regierung unter ihrer Führung zu bilden. Bleibt die SPD bei ihrer momentanen programmatischen Position, dann steht zu erwarten, dass sich die „Linke“ stabilisiert und als neuer Verbündeter der Gewerkschaften etabliert. Sollte sie sich programmatisch nach links entwickeln, dann droht ihr hingegen eine ähnliche Situation wie bereits in den 1980er und frühen 1990er Jahren: Union und FDP würden dann die Mehrheit der moderat ausgerichteten Wählerschaft für sich gewinnen können. Ein Wahlsieg eines potentiellen rot-rot-grünen Linksbündnisses wäre damit mittelfristig nicht realistisch, sondern erst dann, wenn – wie 1998 – die Frustration über eine zu lang andauernde schwarz-gelbe Regierung der Opposition zu Gute kommen würde. Die SPD läuft also Gefahr, die Stimmen auf der einen Seite zu verlieren, die sie auf der anderen Seite gewonnen hat.

Diesem offensichtlichen Dilemma gesellt sich jedoch noch ein zweites, viel schwerwiegenderes Problem hinzu, dem die Sozialdemokraten kaum durch eigenes Handeln entrinnen können. Wie die Entscheidung der saarländischen Grünen zugunsten einer Jamaika-Koalition, die im übrigen wie auch die sich abzeichnende CDU/SPD-Koalition in Thüringen in diesem Blog korrekt vorhergesagt wurde, und damit gegen ein rot-rot-grünes Bündnis gezeigt hat, kann die SPD nicht – wie bislang – nahezu automatisch auf die Bündnisgrünen als Teil einer potentiellen Koalition gemeinsam mit der „Linken“ gegen Schwarz-Gelb zählen. Gesetzt den Fall, dass Union und Liberale bei der nächsten Bundestagswahl eine Mandatsmehrheit verfehlen würden, dann muss es also nicht zwangsläufig auf eine rot-rot-grüne Koalition hinauslaufen. Vielmehr könnten Bündnis 90/Die Grünen durchaus als teuer bezahlter Mehrheitsbeschaffer ein Weiterregieren von Christ- und Freidemokraten auf Bundesebene auch nach 2013 ermöglichen. Wie das aussehen kann hat man in den letzten Wochen im Saarland sehen können: Obwohl sie die kleinste Partei im Saarbrücker Landtag mit nur drei von 51 Sitzen darstellen, wurden den Grünen bereits vor den Koalitionsverhandlungen beachtliche inhaltliche Zusagen sowie zentrale Ministerien von CDU und FDP auf der einen wie auch von SPD und Linken auf der anderen Seite zugesichert.

Damit sind die Grünen in jener komfortablen Situation des Züngleins an der Waage, die im westdeutschen „Zweieinhalb-Parteiensystem“ von 1961 bis 1983 noch die FDP innehatte. Der Unterschied ist lediglich, dass die Liberalen noch die Wahl zwischen Union und SPD hatten, während die Grünen nun zwischen zwei Parteiblöcken – CDU/CSU und FDP auf der einen und SPD und Linke auf der anderen Seite – haben. Aus dieser Perspektive betrachtet sind die Freidemokraten eher der kurzfristige Wahlsieger, während die Grünen zum heiß ersehnten Koalitionspartner für den schwarz-gelben und rot-roten Block avancieren. Diese offensichtliche Emanzipation der Grünen, aus den parteipolitischen Lagergrenzen in Deutschland auszubrechen, schmälert noch mehr die Chancen der Sozialdemokraten, tonangebende Partei in künftigen Koalitionsregierungen zu werden. Sie werden – wenn es für eine Mehrheit aus SPD und Linken oder Union und FDP nicht alleine reicht – entweder ein handzahmer Juniorpartner der Union sein oder den Grünen viele Ämter und Inhalte überlassen müssen, um einer „Jamaika“-Koalition vorzubeugen. Egal ob die SPD inhaltlich nach links rückt oder an ihrer moderat-linken Reformposition festhält, die Chancen der Sozialdemokraten auf das Kanzleramt werden aufgrund der neu gewonnenen zentralen Rolle der Grünen im bundesdeutschen Koalitionsspiel weiter sinken.

 

Quo vadis, Saarland? Quo vadis, Grüne?

Der Tag der Entscheidung ist da – für das Saarland, aber auch für die Grünen. Fährt heute doch ein Dampfer gen Jamaika? Oder kommt es zu einer rot-rot-grünen Zusammenarbeit in Saarbrücken? Beides scheint derzeit möglich, die Grünen – vor allem die grünen Saarländer – scheinen gespalten. Doch wie stehen eigentlich die Wählerinnen und Wähler zu dieser Frage? In einer groß angelegten Umfrage im Vorfeld der Bundestagswahl wurden rund 6.000 Deutsche befragt – unter anderem auch nach ihren Präferenzen, was Koalitionen betrifft. Zwischen -5 und +5 sollten diese Befragten verschiedene mögliche Koalitionsmodelle einstufen. Die mittleren Einstufungen bezogen auf die saarländischen Optionen – also Jamaika und Rot-rot-grün – zeigt die folgende Abbildung.

Bewertung einer Jamaika- und einer rot-rot-grünen Koalition insgesamt und bei Parteianhängern
koal

An verschiedenen Stellen sind die Ergebnisse dabei mehr als eindeutig: Anhänger von Union und FDP bevorzugen klar Jamaika vor Rot-rot-grün, umgekehrt sind es bei Anhängern der Linkspartei aus. Schon bei Anhängern der SPD allerdings sieht das Bild weniger eindeutig aus – und dies gilt erst recht bei Anhängern der Grünen: Sie sind – quasi ein Spiegelbild der saarländischen Grünen – unentschieden zwischen den beiden zur Wahl stehenden Alternativen.

Dies gilt allerdings nur im Durchschnitt – im Durchschnitt sind die Anhänger der Grünen unentschieden zwischen den beiden Optionen. Dies gilt nicht zwangsläufig auch für jeden einzelnen Anhänger der Grünen, wie die folgende Abbildung zeigt – und genau hier liegt der Sprengstoff für die Grünen:

Vergleichende Bewertung einer Jamaika- und einer rot-rot-grünen Koalition bei Anhängern der Grünen
verteilung

Auf der Ebene einzelner Anhänger der Grünen gibt es zwar auch rund 40 Prozent der Anhänger, die unentschieden zwischen den beiden Optionen sind. Über 30 Prozent aber haben eine Präferenz für Rot-rot-grün gegenüber Jamaika, immerhin auch über 25 Prozent haben eine Präferenz für Jamaika gegenüber Rot-rot-grün. Und nur eine dieser Gruppen wird ihre Präferenzen heute im Saarland erfüllt sehen, während die andere Gruppe in die Röhre schaut. Sprengstoff also für die Grünen, man darf gespannt sein, wie die Partei (und insbesondere die unterlegenen Anhänger innerhalb der Partei) damit umgehen werden.

 

Kompetenzen und Konsequenzen – die Neuorientierung der SPD steht bevor

Andrea RömmeleWie lässt sich das Wahlergebnis vom Sonntag erklären, oder genauer gefragt: Wie lässt sich die historische Niederlage der SPD erklären? Zahlreiche Punkte werden derzeit diskutiert, in diesem Blog hat Andreas Wüst sehr anschaulich die beiden Kandidaten gegenübergestellt.

Aus Sicht der Wahlkampfforschung beeinflussen neben der Kandidatenfrage zwei weitere Faktoren die Wahlentscheidung: die Identifikation mit einer Partei und die ihr zugeschriebenen Kompetenzen in politischen Sachfragen. Mit sinkender Parteiidentifikation, die wir in allen etablierten Demokratien vorfinden, steigt logischerweise die Bedeutung von Themen und Kandidaten. Die folgenden Umfragedaten stellen die wahrgenommene Problemlösungskompetenz der Parteien zu bestimmten Sachfragen dar.

Parteikompetenzen April 2009

Kompetenzen April

Quelle: Infratest dimap, DeutschlandTrend April 2009

Die Daten sprechen eine klare Sprache: In nahezu allen wichtigen Themenbereichen liegt die CDU/CSU im Frühjahr deutlich vor der SPD, es gibt lediglich zwei klare Ausnahmen: der arbeitnehmerfreundlichere Umgang mit der Krise wird der SPD ebenso zugeschrieben wie die Kompetenz in ihrem Kernthema, der sozialen Gerechtigkeit.

Es ist den Sozialdemokraten im Laufe des Wahlkampfes jedoch nicht gelungen, in diesen Themengebieten weiter zu punkten, geschweige denn andere Themengebiete für sich zu gewinnen. Auch leichte Verbesserungen in manchen Bereichen ändern nichts am Gesamtbild. Für eine echte, durch Themen ausgelöste Trendwende wären Gewinne in viel größeren Dimensionen vonnöten gewesen – gerade dann, wenn der eigene Kandidat gegenüber der Amtsinhaberin klar zurückliegt.

Parteikompetenzen September 2009

Kompetenzen September

Quelle: Infratest dimap, DeutschlandTrend September 2009

Die Kombination von schlechten Kompetenzwerten und einem wenig überzeugenden Kandidaten kann das schwache Abschneiden der SPD also erklären – zumindest zum Teil. Wenn sich die Partei nun thematisch und auch personell neu aufstellt, zieht sie damit im Grunde die richtigen Schlüsse aus der Wahlniederlage. Allerdings ist zu bedenken, dass die Partei gerade im Wahlkampfendspurt in einigen Kompetenzbereichen noch leichte Zugewinne verbuchen konnte und auch der Spitzenkandidat zuletzt Boden auf die Kanzlerin gutmachen konnte. Ein tabula rasa könnte der SPD daher ebenso schaden wie ein „weiter so“. Dies alles spricht dafür, dass sich die Partei für die nötige Neuaufstellung Zeit nimmt und die anstehenden Entscheidungen mit Bedacht fällt.

 

Merkelbonus und Steinmeiermalus

Die Bundestagswahl ist entschieden. Das Ergebnis ist letzten Endes klar und deutlich ausgefallen. Union und FDP haben gewonnen, die SPD ist abgestürzt. Es wäre dumm, das Ergebnis auf nur einen oder wenige Faktoren zurückzuführen. Es gab – zumindest in der Wahrnehmung der Bürger – ganz offenbar Abnutzungserscheinungen der SPD in Regierungsverantwortung, die sich unter anderem in Kompetenzverlusten im Vergleich zu 2005 bei der Steuerpolitik (-12 Prozentpunkte), der Rentenpolitik (-11) und der Wirtschaftspolitik (-10) ausdrücken (Zahlenangaben hier und nachfolgend aus Veröffentlichungen der Forschungsgruppe Wahlen). Andererseits war man mit der SPD in der Regierung 2009 sogar etwas zufriedener (Mittelwert auf +5/-5-Skala: 1,0) als noch 2005 (0,8). Insofern könnte man sagen: Danke SPD, war schon okay, aber jetzt wollen wir etwas Neues.

Neu war vor allem der Kandidat nicht, und er konnte auch nichts „reißen“. Blickt man auf die Frage nach dem „gewünschten Bundeskanzler“ im Zeitverlauf, dann zeigt sich, dass Frank-Walter Steinmeier der schlechteste Kandidat der SPD seit 1969 gewesen ist. Trösten mag ihn in diesem Zusammenhang lediglich, dass es ein gewisser Willy Brandt war, der damals noch schlechtere Werte als er selbst bekam. Aber ohne Kandidatenbonus, den nach 1969 Brandt, Schmidt und Schröder hatten, kann eine SPD nicht punkten. Lediglich ein Drittel der Wahlberechtigten wollten Steinmeier als Bundeskanzler. Das reicht nicht.

kanzler2

Blickt man dagegen auf die Union, dann stellt man fest, dass Angela Merkel 2009 in schwindelerregende Höhen vorstoßen konnte. Lediglich Helmut Kohl erhielt im Jahr der Einheit (1990) einen Präferenzwert von 56% – Angela Merkel nun auch. Der Sieg des bürgerlichen Lagers trägt demnach auch den Stempel „Merkel“. Dagegen fallen Steinmeiers Werte sogar im Vergleich zu den Werten der meist weniger beliebten Unionskandidaten negativ heraus. Lediglich Barzel im Jahr 1972 und Strauß 1980 erhielten weniger Zustimmung. Selbst Edmund Stoiber erhielt 2002 keine schlechteren Werte als 2009 Steinmeier.

Die Wahlschlappe der SPD trägt demnach auch den Schriftzug „Steinmeier“. Natürlich hat er alles gegeben, und natürlich gab es keine richtige Alternative zu ihm. Aber unverbraucht, so wie Brandt 1969, ist Steinmeier nicht mehr. Egal welche Funktion er in der SPD noch einnehmen wird, die Niederlage des Jahres 2009 wird er nicht so schnell aus den Kleidern schütteln können.

 

Schwarz-gelb in Berlin und Kiel, aber was kommt in Erfurt, Potsdam und Saarbrücken?

Während die Koalitionsbildung auf Bundesebene und in Schleswig-Holstein sich aufgrund des in Berlin klaren, in Kiel jedoch knappen Wahlerfolgs von Union und FDP wohl relativ einfach gestalten wird (wenn auch einige inhaltliche Konfliktfelder die Verhandlungen erschweren werden), so ist nach wie vor die Regierungsbildung in Thüringen, dem Saarland und in Brandenburg, wo am vergangenen Sonntag ein neuer Landtag gewählt wurde, eine offene Frage. Die Parteien in Thüringen und dem Saarland haben explizit den Wahlausgang vom 27. September abgewartet, um zum einen durch ihre Entscheidungen nicht die Wahlkampfstrategie der Bundesparteien zu durchkreuzen. Zum anderen aber auch, um die künftigen Machtkonstellationen auf Bundesebene abzuwarten. Diese haben sich mit dem Sieg von schwarz-gelb bei den Bundestagswahlen und bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein deutlich verschoben: So wird sich nicht nur die Zusammensetzung der Bundesregierung von schwarz-rot zu einer christlich-liberalen Koalition ändern, sondern Union und FDP werden durch den Sieg in Kiel auch im Bundesrat über eine – wenn auch knappe – Mehrheit verfügen.

Welche Effekte haben diese neuen Rahmenbedingungen für die Regierungsbildung in Thüringen und dem Saarland, wo bislang nur Sondierungsgespräche zwischen den Parteien stattgefunden haben, und in Brandenburg, wo die SPD zwischen Union und der Linken als dem künftigem Koalitionspartner wählen kann? Man kann erwarten, dass auf Seiten der Sozialdemokraten ein Anreiz besteht, sich zum einen neue Koalitionsoptionen mit der Linken langfristig zu eröffnen und daher Bündnisse mit dieser Partei in den Ländern verstärkt einzugehen. Zum andern würde die Bildung von Koalitionen mit der CDU die Chancen zur Etablierung einer SPD-Blockademacht im Bundesrat mittelfristig senken: die Bildung von so genannten „C-Koalitionen“ und damit solchen Landesregierungen, die sich aus Parteien zusammensetzt, die auf Bundesebene dem Regierungs- als auch dem Oppositionslager angehören, sollte von Seiten der SPD weniger wünschenswert sein als „B-Koalitionen“, die sich ausschließlich aus den bundespolitischen Oppositionsparteien formieren.

Auf der Grundlage aller Regierungsbildungen in Bund und Ländern lassen sich mit Hilfe multivariater statistischer Analysen die Determinanten der Koalitionsbildung in Deutschland ermitteln und auf dieser Basis auch die Wahrscheinlichkeiten für alle potentiell möglichen Koalitionen berechnen. Für Brandenburg, das Saarland und Thüringen ergibt sich – gegeben eine Regierungsübernahme durch Union und FDP in Berlin und Kiel – in Tabelle 1 angetragenes Bild.

Tabelle 1: Wahrscheinlichkeiten ausgewählter Koalitionen bei CDU/CSU-FDP-Bundestagsmehrheit

  Brandenburg Saarland Thüringen
CDU und SPD 49,4% 32,1% 50,0%
SPD und Linke 47,4% 0,1% 38,6%
SPD-Minderheits-
regierung
0,7% 0,1% 0,2%
CDU-Minderheits-
regierung
0,1% 4,4% 6,4%
SPD, Grüne und Linke 0,2% 13,7% 0,2%
CDU, FDP und Grüne 0,1% 36,7% 0,6%
CDU/FDP-Minderheits-
regierung
0,0% 11,1% 0,8%

 

Es zeigt sich, dass die Regierungsbildung in den drei Bundesländern alles andere als ausgemacht ist. In Brandenburg ist die Wahrscheinlichkeit, dass die amtierende Koalition aus SPD und CDU im Amt bleibt, nur geringfügig größer als die Bildung eines Bündnisses zwischen SPD und der Linken. Dies überrascht insofern nicht, als dass unter einem schwarz-roten Bündnis Brandenburg ein „C-Land“ würde, während es im Bundesrat zu den „B-Ländern“ zählen würde, wenn sich dort eine rot-rote Koalition bilden würde. In Thüringen ist hingegen die Bildung einer CDU/SPD-Koalition deutlich wahrscheinlicher als alle anderen Varianten. Die angestrebte rot-rot-grüne Koalition ist aus Sicht der Koalitionstheorien auch deswegen so extrem unwahrscheinlich, weil es sich um eine übergroße Koalition handeln würde: die Grünen werden zur Erringung einer Mehrheit im Landtag nicht benötigt. Ein Bündnis zwischen Linken und SPD rangiert mit einer Wahrscheinlichkeit von knapp 39% recht deutlich hinter der Koalitionsoption aus CDU und Sozialdemokraten.

Das Saarland stellt den unübersichtlichsten Fall dar. Aufgrund der Schätzungen ergibt sich eine Jamaika-Koalition aus CDU, FDP und Grünen als wahrscheinlichste Variante (36,7%). Die Chancen zur Bildung einer – bislang nicht in Saarbrücken diskutierten – großen Koalition aus Union und SPD sind jedoch nur leicht niedriger (32,1%). Deutlich geringer fällt hingegen die ermittelte Wahrscheinlichkeit für die Bildung der ersten rot-rot-grünen Koalition in einem westdeutschen Bundesland aus: sie liegt bei knapp 14%. Man darf also nach wie vor gespannt sein, für welche farblichen Konstellationen sich die Parteien in den drei Ländern entscheiden.

 

Noch drei Stunden: Der Blick zurück lässt Spannung erwarten!

Wie war das eigentlich vor vier Jahren? Einerseits viele, viele Unentschlossene bis spät in den Wahlkampf hinein, andererseits ein Ergebnis am Wahlabend, das deutlich von den zuvor berichteten Umfrageergebnissen abwich. Hängen beide Phänomene zusammen? Ja! Die folgende Grafik zeigt es: Auf der Grundlage einer Wählerbefragung nach der Wahl (die im Rahmen des Projektes „Kampagnendynamik 2005“ durchgeführt wurde) wird ersichtlich, ob und wie sich das Wahlverhalten 2005 danach unterscheidet, wann Wähler sich für eine Partei entschieden haben. Und diese Unterschiede sind erheblich!

Wahlentscheidung aufgeschlüsselt nach dem Zeitpunkt der Wahlentscheidung

2005

Menschen, die sich nach eigenen Angaben schon bei Ankündigung der Neuwahl 2005 im Mai für eine Partei entschieden hatten, verteilen ihre Stimmen völlig anders auf die Parteien als es Wähler getan haben, die sich erst im Laufe des Wahlkampfes (und potenziell sogar erst in der absoluten Schlussphase) getan haben.

Besonders markant sind die Unterschiede für die Union: Bei den „Frühentscheidern“ (bei denen es sich um die berühmten „Stammwähler“ handeln dürfte), kommt sie auf über 40 Prozent, während sie in den anderen beiden Gruppen nur auf 24 Prozent kommt. Umgekehrt konnten Grüne und FDP auf der Zielgeraden deutlich an Zuspruch hinzugewinnen.

Wie es dieses Mal sein wird, wissen wir derzeit noch nicht (außer den wenigen Privilegierten, die die Ergebnisse der Exit Polls schon kennen, natürlich…). Angesichts des hohen Ausmaßes an Unentschlossenheit, das auch dieses Mal allseits berichtet wurde, ist aber für Spannung gesorgt, sicherlich und gerade auch bei den Bewohnern von Demoskopia.

 

Neues aus Demoskopia

Wahlabend 2005, 18 Uhr: Der Balken der Union beginnt zu steigen, bleibt aber bereits bei 35 Prozent stehen. Ein technisches Problem? Immerhin waren der Union über 40 Prozent der Stimmen vorhergesagt worden! Nein, kein technisches Problem, zumindest nicht der Sendetechnik. Eher schon der Demoskopen: Wenig verwunderlich wurden sie im Nachgang der Wahl als die „eigentlichen Wahlverlierer“ identifiziert (diesen Eindruck machten sie auch selbst vor der Bundespressekonferenz am Morgen danach), während sich die SPD am Ende ihres Wahlkampfes als „Umfragesieger-Besieger“ brüsten konnte.

Dieses Mal haben die Demoskopen gelernt – auch wenn die Süddeutsche Zeitung heute schon vorgreifend fragt: „Wieder eine Blamage für die Demoskopen?“. Nicht nur der Wahlkampf 2009 war weichgespült, auch die Demoskopen. Allseits wird auf die hohe Zahl der Unentschlossenen verwiesen, die Prognosen kaum möglich erscheinen lassen – wobei die Demoskopen den Begriff der „Prognose“ ohnehin scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung im letzten Deutschlandtrend der ARD, als die Ergebnisse der Sonntagsfrage mit einem fetten Stempel „keine Prognose“ versehen wurden. „Ein aktuelles Stimmungsbild“ sei dies lediglich, niemals aber eine Prognose, erläuterte Jörg Schönenborn.

Ganz Demoskopia ist also von Softies besetzt. Ganz Demoskopia? Nein! Ein Demoskop steht seinen Mann. Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen gibt im Tagesspiegel seine Prognose (oder die der Forschungsgruppe Wahlen?) für den Ausgang der Wahl ab: „’Es gibt keine Trendumkehr’, sagte Institutschef Matthias Jung dem Tagesspiegel. Schwarz-Gelb werde eine knappe, aber sichere Mehrheit gewinnen, die SPD dagegen mit maximal 25 Prozent ihr mit Abstand schlechtestes Ergebnis im Bund einfahren.“ Dies sind mindestens zwei klare Aussagen über den zu erwartenden Ausgang der Bundestagswahl.

Die Prognose Jungs überrascht in mehrfacher Hinsicht:

1. Seitens der Forschungsgruppe Wahlen und des ZDF spricht man üblicherweise von „Projektionen“, auch dort scheut man den Begriff der Prognose. Nur: Diese Aussage ist eindeutig eine Prognose – und dies in zweierlei Hinsicht: (Sitz-)Mehrheit für schwarz-gelb, maximal 25 Prozent für die SPD – und dies trotz der weiterhin hohen Unentschlossenheit.

2. Worauf beruhen diese Aussagen? Ein neues (veröffentlichtes) Politbarometer gab es diese Woche nicht. Handelt es sich demnach um eine subjektive Einschätzung, sozusagen um privates Zahlenmaterial? Falls dem so sein sollte, würde man schon gerne wissen, was bei der Untersuchung insgesamt herauskam: Wie steht es um die Parteistärken, die Kanzlerpräferenz, Probleme und Lösungskompetenzen? Man weiß es nicht.

3. Es ist zu vermuten, dass Jungs Aussagen auf Umfragen beruhen, die von der FGW diese Woche durchgeführt wurden und vom ZDF – also von uns Gebührenzahlern – finanziert werden. Nun hatten sich aber ARD und ZDF in gegenseitigem Einvernehmen verpflichtet, in der Woche vor der Wahl keine neuen mehr Zahlen herauszugeben. Warum macht man hier eine – zudem höchst selektive – Ausnahme? Hat das ZDF entschieden, diese Abmachung zu brechen oder handelt es sich um einen Alleingang von Herrn Jung und/oder der Forschungsgruppe? Sehr merkwürdig.

Schließlich muss man die Objektivität der Jungschen Aussagen hinterfragen. Was meint er mit mit „knapp aber sicher“? Entweder ist es knapp oder es ist nicht knapp. Entweder ist es sicher oder unsicher. Falls Jung meint, dass der Ausgang zwar knapp wird, Union (und FDP) aber durch Überhangmandate deutlich gewinnen werden, dann sollte er es auch so sagen. Noch abenteuerlicher ist die Aussage „keine Trendumkehr“. Wie bitte? Seit Januar 2009 liegen Union und FDP in der Projektion des Politbarometer bei 48 bis 51 Prozent und die SPD bei 23 bis 27 Prozent. Wo ist da ein Trend? Wenn es einen Trend der Umfragen der letzten Wochen gibt, dann einen positiven für die SPD – übrigens auch im Politbarometer.

Eine Trendumkehr aber gibt es in jedem Fall: Bisher war es ein Trend, dass Demoskopen Umfragen durchführen und darauf aufbauend Zahlen veröffentlichen und interpretieren. Neuerdings aber scheint man ohne Umfrageveröffentlichungen auszukommen. Man stellt einfach Behauptungen auf. Diese Prognose hat – selbst wenn sie eintreten sollte – einen ganz faden Beigeschmack.

 

Ein Blick in die Zukunft?

Henrik SchoberKurz vor der Bundestagswahl ist am vergangenen Wochenende bereits eine Wahlentscheidung der besonderen Art gefallen: 127.208 Kinder und Jugendliche haben sich an der „U18-Wahl“ beteiligt und damit ein deutliches Zeichen gesetzt. Denn diese Wahlbeteiligung lag weit über der des ersten Urnengangs im Jahr 2005, als sich 48.461 junge Menschen beteiligten. Natürlich kann das Ergebnis dennoch nicht als repräsentativ für das politische Interesse oder gar die politische Stimmung der unter 18-Jährigen gelten: Die Einzugsbereiche der insgesamt 1000 Wahllokale konnten naturgemäß nicht das gesamte Bundesgebiet abdecken und überdies ist anzunehmen, dass insbesondere die politisch interessierten Kinder und Jugendlichen an der Wahl teilnahmen. Dennoch lohnt der Blick auf das Wahlergebnis, hier im Vergleich zu dem der ersten U18-Wahl vor vier Jahren:

U18-Wahlen 2009 und 2005

U18-Wahl 2009 und 2005

Dunklere Balken: Ergebnis 2009, hellere Balken: Ergebnis 2005 (Die Tierschutzpartei wurde 2005 mit einem Anteil von 1,1% unter „Sonstige“ gefasst).

Wenn es nach den unter 18-Jährigen ginge, gäbe es in Deutschland also ein 7-Parteien-Parlament. Neben den etablierten Parteien würde auch der Piratenpartei und der Tierschutzpartei der Einzug in den Bundestag gelingen, die NPD hingegen würde an der 5%-Hürde scheitern. Die guten Ergebnisse der kleinen Parteien gehen vor allem zu Lasten der SPD, die sich nur knapp als stärkste Partei behaupten kann. Nun ist hinlänglich bekannt, dass sich politische Meinungen im Laufe des Lebens ändern können, das Ergebnis der U18-Wahl ist somit keine Projektion zukünftiger Bundestagswahlergebnisse. Dennoch sei eine Gegenüberstellung des U18-Ergebnisses mit einer aktuellen Forsa-Umfrage zur Bundestagswahl gestattet, die im selben Zeitraum durchgeführt wurde:

U18-Wahlergebnis und Forsa-Umfrage unter Wahlberechtigten

U18-Wahl und Forsa-Umfrage

Dunklere Balken: U18-Ergebnis vom 18.9.2009, hellere Balken: Forsa-Umfrage im Zeitraum 15.9.-21.09.2009 (Piratenpartei, Tierschutzpartei und NPD werden im Umfrageergebnis unter „Sonstige“ gefasst).

Insbesondere die Union, aber auch SPD und FDP erzielen im U18-Ergebnis schlechtere Werte als in der Umfrage unter Wahlberechtigten. Die Grünen sowie die drei genannten kleinen Parteien hingegen schneiden bei den Kindern und Jugendlichen besser ab. Das U18-Ergebnis weicht damit erkennbar von dem der Umfrage ab, dennoch steht es in Einklang mit einem Trend, den nicht nur Wahlforscher seit einigen Jahren beobachten: Die „diffuse“, grundsätzliche Unterstützung für Parteien schwindet und die Wähler orientieren sich in ihrer Wahlentscheidung zunehmend an spezifischen Themen und Sachfragen. Dies ist bei den Kindern und Jugendlichen in besonderer Deutlichkeit sichtbar: Mit Piraten und Tierschutzpartei würden zwei Parteien ins Parlament einziehen, die nur ein Thema prominent besetzen und sich nicht im Stil der Volksparteien thematisch breit aufstellen.

Zugegeben: Die Grünen, einst ebenso mit einem engen Themenspektrum gestartet, haben inzwischen zu allen wichtigen politischen Fragen Position bezogen. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass durch das immer stärker an Sachfragen orientierte Wahlverhalten in Zukunft auch junge Parteien Erfolg haben könnten, die sich dauerhaft auf einzelne Themen konzentrieren und damit den Nerv bestimmter Wählergruppen treffen. Die etablierten politischen Parteien sollten sich daher perspektivisch auf Konkurrenz einrichten, die den Wählern nicht etwa neue Ideologien, sondern dezidiert thematische Alternativen anbietet. Passend dazu hat eine Forsa-Umfrage im Vorfeld der U18-Wahl ermittlet, dass für mehr politisches Interesse bei Jung- und Erstwählern zwei wesentliche Voraussetzungen geschaffen werden müssen: „mehr politische Bildung“ und ein „besseres inhaltliches Angebot der Parteien“.