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Regierung wankt, Opposition zerfällt – die Bundespräsidentenwahl im Lichte der Tagespolitik

AndreaDer lange Wahltag hat uns nicht nur einen neuen Bundespräsidenten beschert, sondern erwartungsgemäß auch Einblicke ins Innenleben der Bundesregierung gewährt. Insbesondere die beiden politisch-strategischen Großbaustellen der Regierung wurden sichtbar, die Inhalte und das Personal. Da trifft es sich für die Kanzlerin gut, dass auch die Opposition eine große Chance vertan hat. Dennoch muss sie die sich stellenden Probleme aktiv angehen:

Das Inhaltsproblem: Die schwarz-gelbe Regierung hat derzeit kein inhaltliches Projekt, auf das sie gemeinsam und mit aller Kraft hinarbeiten könnte. Eine solche Vision hätte auch die Gauck-Unterstützer in Union und FDP davon überzeugen können, der Regierung durch die Wahl von Christian Wulff im ersten Wahlgang neue Stärke zu verleihen. Die Wahl des Bundespräsidenten wäre dann einer klaren inhaltlichen Pfadabhängigkeit gefolgt und der neue Präsident hätte daraus einen Anschub und eine Inspiration für seine Amtszeit gewinnen können. So aber scheint es, dass sich einige Wahlfrauen und -männer eher von ihrer Unzufriedenheit mit der Regierung als von der Hoffnung auf einen politischen Aufschwung haben leiten lassen.

Wenn aber die große inhaltliche Vision fehlt und einzig die Machtperspektive als Koalitionskitt wirkt, wird sich die Arbeit der Koalition auch weiterhin an Detailfragen aufhalten und die dringed nötigen großen Würfe nicht leisten können. Solange die Verbindung zwischen Schwarz und Gelb eine reine Vernunftsehe ist, liegt das Augenmerk aller auf schnellem, konkretem Zugewinn in einzelnen Sachfragen. Wenn dieser Zugewinn aber ausbleibt, kommt es über kurz oder lang zur Scheidung. Ein umfassendes Credo, das aus Schwarz-Gelb ein echtes Projekt macht, ist somit nötiger denn je.

Das Personalproblem: Christian Wulff ist ein ausnehmend junger Bundespräsident. Dies kann sich gesellschaftspolitisch sehr positiv auswirken, aus Sicht der Regierung jedoch wirft dieser Umstand Fragen auf: Ist es klug, im politischen Alltagsgeschäft auf einen solchen erfolgreichen Politiker zu verzichten? Und könnte sich der Schritt, diesen Kandidaten zu nominieren, als Bumerang entpuppen, der die dünne Personaldecke offen legt? Angela Merkel hätte die Bundespräsidentenwahl zum Anlass nehmen können, ihre Regierung umzubilden. Man kann nur darüber spekulieren, ob sie dies bewusst nicht getan hat oder schlichtweg keine personellen Alternativen gesehen hat. Ein ernstzunehmender inhaltlicher Neustart wird jedenfalls ohne die dazu passenden Personen nicht funktionieren.

Und was wird eigentlich ein Ex-Bundespräsident Christian Wulff eigentlich seiner Amtszeit machen? Er wäre dann 56 respektive 61 Jahre alt; andere wollten in diesem Alter Kanzler werden… Niemand unterstellt ihm derartige Ambitionen, es ist allerdings auch nicht damit zu rechnen, dass er sich nach Ablauf seiner Amtszeit in den Vorruhestand begibt. Wenn er seine Karriere fortsetzen würde, müsste er sich fragen lassen, ob er sein jetziges Amt wirklich vollkommen überparteilich und ohne jegliches Karrierekalkül ausführen kann. Auch Angela Merkel wird ihm diese Frage beizeiten stellen…

Bei alledem kann aus Sicht von Schwarz-Gelb zumindest das Verhalten der Linken beruhigend wirken. Sie haben die Chance vertan, durch eine Unterstützung von Joachim Gauck einen Teil ihrer Geschichte aufzuarbeiten und zugleich ein koalitionspolitisches Signal zu setzen, das SPD und Grüne nicht hätten übersehen können. So aber scheint diese Option wieder einmal vom Tisch zu sein. Das Spektrum möglicher Koalitionen nach der nächsten Bundestagswahl hat sich verkleinert und ohne eine koalitionsfähige Linke wandert die politische Mitte wieder ein Stück nach rechts. Angela Merkel mag große und schwierige Aufgaben vor sich haben – ihre Chancen, noch einmal Kanzlerin in einer großen Koalition zu werden, sind aber am gestrigen Tag gestiegen…

 

Deutschlands oberste Tigerente, oder: Zur (Aus-)Wahl des Bundespräsidenten

AndreaChristian Wulff wird – aller Voraussicht nach – der zehnte Bundespräsident Deutschlands. Das scheint eine gute Wahl zu sein, der Kandidat ist über die Parteigrenzen hinweg beliebt. Darüber hinaus gilt er als überaus kompetent und seriös, kurzum: Man traut ihm zu, ein guter Präsident zu sein. Und auch parteipolitisch hat er Rückenwind: Als Ministerpräsident in Niedersachen führt er seit sieben Jahren eine erfolgreiches schwarz-gelbes Bündnis, das der angeschlagenen „Tigerenten-Koalition“ (Maybritt Illner) auf Bundesebene als Vorbild dienen kann. Soweit die gute Nachricht.

Die schlechte Nachricht aber ist, dass die Kandidatensuche das eklatante Nachwuchs- und Rekrutierungsproblem der deutschen Politik sehr deutlich gemacht hat. Nach dem kurzen Experiment, mit Horst Köhler einen Kandidaten abseits der Parteipolitik zu wählen, kommt nun wieder ein Parteisoldat zum Zuge. Solche Erfahrung sei wichtig in diesem Amt, heißt es allerorten. Es lässt sich also festhalten, dass auch der Karriereweg des Staatsoberhauptes unweigerlich über die Partei führt.

Warum das problematisch ist, zeigt ein Blick auf den „Ausbildungsgang Berufspolitiker“: In den Parteien lernen angehende Politiker das Handwerkszeug, durch die zu absolvierende „Ochsentour“ entwickeln sie entscheidende Qualitäten wie Durchsetzungskraft und Durchhaltevermögen. Mittlerweile haben über 40% der Parlamentarier keinen anderen Beruf erlernt als den des Politikers. Während man früher nach einer Tätigkeit jenseits der Politik quasi als zweite Karriere in die Politik ging, führt jetzt mehr und mehr der Weg direkt dorthin.

Mediale oder integrative Kompetenzen sind für das Hocharbeiten innerhalb einer Partei nicht erforderlich; für das Amt des Bundespräsidenten sind sie gleichwohl zentral. Er muss die Medien bedienen können und seine Popularität in der Bevölkerung wird zum entscheidenden Maßstab für Erfolg oder Misserfolg. Dafür muss er einen Stil entwickeln, der das beinhaltet, was Max Weber in seinen Ausführungen als Charisma bezeichnet hat. Denn in den Worten Webers qualifiziert sich ein Politiker in erster Linie durch Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß. Dies sind allerdings Qualitäten, die man sich nicht in einem Crash-Kurs antrainieren kann und die eine moderne Parteikarriere auch nicht unbedingt fördern.

Christian Wulff hat die persönliche Ausstrahlung und das Charisma, das ein Bundespräsident braucht, um sich Gehör zu verschaffen. Dennoch muss seine Nominierung als vertane Chance gesehen werden. Nicht nur wird somit abermals ein männlicher Kandidat aus einem westdeutschen Bundesland ins Rennen geschickt; es ist insbesondere schade, dass der enge Karrierepfad zum Bundespräsidialamt, der mit der Wahl Horst Köhlers ein Stück weit aufgebrochen wurde, nun wieder zuzementiert wird. Die erste Reaktion von Angela Merkel nach dem Rücktritt Horst Köhlers war viel versprechend: Sie wolle einen Kandidaten suchen, der von allen Parteien getragen werden könne. Die Entscheidung für Wulff ist jedoch eindeutig parteipolitisch motiviert und so wird ihm nun das Image des schwarz-gelben Präsidenten anheften. Damit könnte die Wahl zugleich Signalwirkung für die kommenden Jahre haben: Das Staatsoberhaupt könnte zunehmend parteipolitisch vereinnahmt werden. Dadurch könnte es auch Amtsträgern, die über die nötigen Qualitäten verfügen, zukünftig schwerer fallen, über der Parteipolitik zu stehen.

Literaturhinweise:

Max Weber: Politik als Beruf. München, 1919.

Thomas Leif: Angepasst und ausgebrannt. Die Parteien in der Nachwuchsfalle. Gütersloh, 2009.

Andrea Römmele: Elitenrekrutierung und die Qualität politischer Führung. Zeitschrift für Politik (3), 2004, S.

 

Nachlese zur Wahl des Bundespräsidenten

Drei Dinge bestimmen im Nachgang zur Wahl des Bundespräsidenten vom vergangenen Samstag die Diskussion:

(1) Wer hat wie gewählt?
(2) Was sind die Konsequenzen dieser Wahl für die Wahl des Bundestages im September?
(3) Und sollte der Bundespräsident zukünftig direkt gewählt werden?

Was lässt sich aus einer „Wahlen-nach-Zahlen“-Sicht zu diesen Punkten sagen?

Zu (1) lässt sich nichts weiter sagen außer, dass Horst Köhler 613 Stimmen erhalten hat, Gesine Schwan 503, Peter Sodann 91 und Frank Rennicke 4. Alles andere ist pure Spekulation. Selbst die Aussage von Silke Stokar von den Grünen, sie habe Horst Köhler gewählt, ist eine nicht überprüfbare Behauptung. Tatsache ist, dass das Abstimmungsverhalten der Mitglieder der Bundesversammlung geheim ist und solange bleibt, bis der Abstimmungsmodus auf „offene Wahl“ umgestellt wird. Bis dahin haben alle Aussagen über das Abstimmungsverhalten den Status des Lesens von Kaffeesatz. Keine Frage, das macht Spaß, aber das ist auch alles.

Bezüglich (2) scheiden sich die parteipolitischen Geister: Während die Spitzen des bürgerlichen Lagers (natürlich) einen Einfluss sehen, verneinen das die Spitzen von SPD und Grünen mit Nachdruck. Die Bürger sehen dies entspannter. In einer Online-Umfrage unter rund 1.200 Deutschen sehen rund die Hälfte der Deutschen eher keinen Einfluss, ein Viertel der Befragten dagegen vermutet einen Einfluss der Präsidenten- auf die Bundestagswahl, ein weiteres Viertel gibt an, das nicht einschätzen zu können. Im Gegensatz zu den Parteien sind die Unterschiede in der Bevölkerung dabei vergleichsweise klein – zwischen Anhängern der SPD und Anhängern der Union etwa gibt es nur unmerkliche Unterschiede diesbezüglich. Von den Bürgern wird mal wieder nichts so heiß gegessen, wie die parteipolitischen Spitzen es kochen.

Bleibt drittens die Frage nach dem zukünftigen Wahlmodus für das Amt des Bundespräsidenten. Bundespräsident Köhler hat diesbezüglich einen Vorstoß in Richtung Direktwahl gemacht. Wie es sich für einen Bürgerpräsidenten gehört – durchaus im Einklang mit dem Stimmungsbild in der Bevölkerung, denn auch in der Bevölkerung stößt dies mehrheitlich auf Zustimmung. Selbst die Anhänger der Union (die bei dieser Frage am skeptischsten sind) stehen einer Direktwahl mehrheitlich positiv gegenüber. Ob die Bürger an einer solchen Wahl teilnehmen würden, steht allerdings auf einem anderen Blatt: Europawahlen, Landtagswahlen, Kommunalwahlen, gerade auch Direktwahlen von Oberbürgermeistern (siehe hierzu den Beitrag zur OB-Wahl in Kiel) erreichen zunehmend geringere Wahlbeteiligungsraten. Wäre es dem Amt des Präsidenten wirklich würdiger, wenn – sagen wir – 33 Prozent der Wahlberechtigten sich an der Bestellung des Inhabers beteiligten?

 

Mehr Demokratie wagen? Nein, wir haben schon genug…

Diese Forderungen sind populär und es verwundert nicht, dass auch Horst Köhler direkt nach seiner Wiederwahl in dieses Horn stößt: Man solle doch bitte schön den Bürger (noch) mehr entscheiden lassen: Der Bundespräsident solle demnächst direkt gewählt werden und die Bürger sollten bitte schön auch in anderen Fragen direkt entscheiden dürfen – ein Plädoyer für Volksbegehren, Volksentscheide und dergleichen.

Warum eigentlich? Unsere parlamentarische Demokratie bietet den Bürgern viele Möglichkeiten der Partizipation. Auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Kontexten können sie am politischen Prozess teilhaben: regional, lokal und europäisch sowie auf unterschiedliche Themen und Formate bezogen. In den letzten Jahren ist es der Politik jedoch immer weniger gelungen, Bürger hierfür zu begeistern. Austritte aus den Parteien und wenig Wahlbeteiligung – insbesondere auch auf kommunaler Ebene – waren die Folgen. Wie es in knapp zwei Wochen um die Wahlbeteiligung in Europa stehen wird, werden wir sehen.

Dies hat jedoch nichts mit einer mangelnden Engagement-Bereitschaft der Bürger zu tun. Aus der Sozialkapitalforschung wissen wir, dass Bürger durchaus bereit sind, sich zu engagieren – etwa im Sportverein, im Chor oder im Kindergarten. Schon einige wenige Zahlen verdeutlichen die Partizipationsbereitschaft der Deutschen: 6,5 Millionen Mitglieder zählt allein schon der Deutsche Fußball-Bund, knapp 500.000 Menschen sind ehrenamtlich im katholischen Wohlfahrtsverband der Caritas tätig und eine Allensbach-Umfrage aus dem letzten Jahr schätzt, dass ca. jeder fünfte Deutsche ehrenamtlich tätig ist.

Das Problem, mit dem wir es zu tun haben, ist nicht ein Mangel an Partizipationsmöglichkeiten. Es muss vielmehr die Aufgabe der Politik in den nächsten Jahren sein, das vorhandene Partizpationspotential auszuschöpfen. Die Bürger müssen den Weg vom Fußballplatz zurück in die Politik finden und verstehen, was das eine mit dem anderen zu tun hat…

 

10 Dinge, die Sie schon immer über die Wahl des Bundespräsidenten wissen wollten

Am Samstag, den 23. Mai 2009, findet die 13. Bundesversammlung statt. Ihr alleiniger Zweck ist es, das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland, den Bundespräsidenten, zu wählen. Hier zehn Dinge, die Sie schon immer über die Wahl des Bundespräsidenten und die Bundesversammlung wissen wollten:
 

» Der Präsident der ersten Bundesversammlung hieß Köhler (er war – wie immer – zugleich der Präsident des Bundestages).
» Die erste Bundesversammlung 1949 war zugleich auch die kleinste, 804 stimmberechtigte Mitglieder versammelten sich damals in Bonn; die Bundesversammlung 1999 war die bislang größte: 1.339 Mitglieder.
» Die SPD stellte bislang nur einmal die stärkste „Fraktion“ in der Bundesversammlung – 1999 mit 566 Mitgliedern (gegenüber 547 Mitgliedern von CDU/CSU).
» In der Bundesversammlung 1974 waren nur drei „Fraktionen“ vertreten: CDU/CSU mit 501, SPD mit 470 und FDP mit 65 Mitgliedern. Es gab kein einziges Mitglied, das von einer anderen Partei entsandt wurde.
» Die FDP ist 2009 erstmals seit 15 Jahren wieder drittstärkste Kraft in der Bundesversammlung.
» CDU/CSU hatten in den Bundesversammlungen 1979 und 1984 eine eigene absolute Mehrheit.
» Bei der Wahl 1954 wurde SPD-Mitglied Alfred Weber – gegen seinen Willen – von der KPD vorgeschlagen. Er erhielt 12 Stimmen. Zu den Kandidaten gehörte auch Konrad Adenauer, er erhielt eine Stimme. Wiedergewählt wurde Theodor Heuss mit 85,6 Prozent der Stimmen – das beste Ergebnis bisher. Er war damit sogar besser als Richard von Weizsäcker, der 1984 ohne Gegenkandidaten mit 84,9 Prozent wiedergewählt wurde.
» 1959 wurde Heinrich Lübke zum Bundespräsidenten gewählt – im zweiten Wahlgang. Zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang hatte es dabei keine Änderungen der Kandidatenlage gegeben, es gab jeweils drei Kandidaten (neben Lübke noch Carlo Schmid (SPD) und Max Becker (FDP)). Identisch war das Szenario 1999: Johannes Rau wurde im zweiten Wahlgang zum Bundespräsidenten gewählt (gegen Dagmar Schipanski und Uta Ranke-Heinemann).
» Obwohl es 1969 nur zwei Kandidaten gab (Gustav Heinemann (SPD, vorgeschlagen von SPD und FDP) und Gerhard Schröder (CDU, vorgeschlagen von CDU und CSU)), waren trotzdem drei Wahlgänge nötig. Aufgrund von Enthaltungen, ungültigen und nicht abgegebenen Stimmen hatte zunächst keiner der beiden Kandidaten die nötige absolute Mehrheit der Mitglieder der Versammlung erreicht. Auch im dritten Wahlgang erreichte Heinemann nur 49,4 Prozent der Stimmen – ab diesem Wahlgang reicht allerdings die einfache Mehrheit.
» Richard von Weizsäcker und Johannes Rau unterlagen zunächst bei Bundesversammlungen (von Weizsäcker 1974 gegen Walter Scheel, Johannes Rau 1994 gegen Roman Herzog), um dann von einer späteren Bundesversammlung (1984 bzw. 1999) gewählt zu werden.