Das Paradox ist bekannt: Seit Mitte der 1980er Jahre hat das Europäische Parlament mit jeder Reform der Verträge an Bedeutung gewonnen. Von einem weitgehend machtlosen Konsultativorgan hat es sich zu einer Institution entwickelt, die innerhalb des sogenannten „Ersten Pfeilers“ der Europäischen Union die Vorlagen von Kommission und Ministerrat modifizieren und blockieren kann, über die Verwendung eines substantiellen Teil des EU-Budgets entscheidet und bei der Wahl des Kommissionspräsidenten über ein Vetorecht verfügt. De facto bedürfen auch jede Aspirantin und jeder Aspirant für die übrigen Posten in der Kommission der Zustimmung des Parlamentes, wie einige Kandidaten leidvoll feststellen mussten.
Dennoch wird auch die siebte Direktwahl zum mächtigsten supranationalen Parlament der Erde weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Seit der ersten Direktwahl des Europaparlamentes ist die Wahlbeteiligung kontinuierlich von knapp 63 auf knapp 46 Prozent gefallen. Schätzungen auf Basis der Eurobarometer-Umfragen gehen davon aus, dass in diesem Jahr die Wahlbeteiligung erstmals unter 40 Prozent sinken könnte. Trotz der objektiven Machtzuwächse des Parlamentes und der stetig steigenden Bedeutung der europäischen Ebene für die Politik gelten Europawahlen mehr denn je als „Nebenwahlen“, bei denen die Wähler mit ihrer Stimme experimentieren und ihrer Unzufriedenheit mit der nationalen Regierung durch Nicht- oder Protestwahl Ausdruck verleihen.
Die Politik leistet dieser Wahrnehmung Vorschub: In Ermangelung europäischer Medien, einer europäischen Öffentlichkeit oder auch nur genuin europäischer Parteien finden bis zur ersten Juniwoche – nicht einmal der Wahltermin liegt einheitlich fest – 27 nationale Wahlkämpfe statt, die häufig nur sehr wenig mit Europa zu tun haben. Besonders schön ließ sich dies bei den Plakaten zur Europawahl 2004 beobachten. Die CDU, immerhin die Partei Konrad Adenauers, drängte damals darauf, die Bundesregierung abzulösen, und führte ihren Europawahlkampf unter dem Slogan „Deutschland kann mehr – bei Rot-Grün läuft was falsch“, während die Grünen flächendeckend den damaligen Bundesaußenminister Fischer plakatierten, der überhaupt nicht zur Wahl stand.
Auch im Jubiläumsjahr 2009 lohnt sich der Blick auf die Gestaltung der Plakate zum Europawahlkampf. Die mittlerweile zur Regierungspartei avancierte CDU stellt ihre diesjährige Kampagne unter das Motto „Wir in Europa“ und tritt bereits in der Gestaltung deutlich europäischer auf als bei der letzten Wahl. Anders als 2004 sind die Plakate durchgängig in europäischem Blau gehalten, das häufig mit den goldenen Sternen der Europaflagge kombiniert wird. Die Texte beschränken sich auf ein Minimum und beziehen sich auf die Kernthemen der Union (Arbeitsplätze, Wirtschaftswachstum, Sicherheit), die in einen vagen Zusammenhang mit EU und CDU gebracht werden. Auch in dieser Kampagne ist aber der nationale Fokus deutlich zu erkennen, wenn etwa ein formatfüllendes Bild von Angela Merkel mit dem Slogan „Wir haben eine starke Stimme in Europa“ kombiniert wird. Für diejenigen, die die Botschaft immer noch nicht verstanden haben, ist das „wir“ mit einer schwarz-rot goldenen Fahne unterlegt.
Ganz ähnlich, aber noch viel stärker personalisiert ist die Kampagne der FDP angelegt: Die Liberalen konzentrieren sich wie bereits 2004 ganz auf ihre Spitzenkandidatin Silvana Koch-Mehrin, die mit dem Slogan „Für Deutschland in Europa“ präsentiert wird. Die Farbgebung der Plakate kombiniert ähnlich wie bei der CDU das Schwarz-Rot-Gold der Bundesfahne mit europäischem Blau, goldenen Sternen und den Parteifarben Blau-Gelb.
Die SPD hingegen hat sich 2009 für eine klare Negativkampagne unter nationalen Vorzeichen entschieden. „Finanzhaie“ würden die FDP, „Dumpinglöhne“ die CDU, „heiße Luft“ schließlich die Linkspartei wählen. Unabhängig von der Frage, wie Fische, Löhne oder gar heiße Luft denn wählen können sollen, stellt sich hier wiederum die Frage, was dies alles mit Europa zu tun hat. Gegen den ehemaligen Koalitionspartner plakatiert die SPD bislang (noch) nicht. Ein Schelm, wer dabei an die Bundestagswahl im September denkt.
Die Grünen wiederum setzen ähnlich wie die CDU auf ihre Standardthemen Umwelt, Frieden und Bürgerrechte, die in einer Art Fußnote um den Zusatz „für ein besseres Europa“ ergänzt werden. In vielen Fällen sind die Plakate allerdings erst auf den zweiten oder dritten Blick als Wahlwerbung zu erkennen, da sie grafisch von der Parole „WUMS!“ dominiert werden, die für „Wirtschaft & Umwelt, menschlich & sozial!“ stehen soll, aber häufig zu Irritationen führen dürfte.
Dagegen bringt das Plakat „Wir wählen Bayern nach Europa“ (blau auf weißem Grund und ohne Sterne oder andere störende Designelemente) die europapolitische Botschaft der CSU in fünf Worten auf den Punkt.
Die Linkspartei schließlich plakatiert ebenfalls ihre Standardthemen („Millionäre zur Kasse bitten“, „Freiheit, Gleichheit“, „Raus aus Afghanistan“ oder „Mindestlohn europaweit“). Der europäische Bezug ist auch hier bestenfalls vage und scheint vor allem im blauen Grundton der Plakate zu bestehen, der sich deutlich vom sonst verwendeten klassenkämpferischen Rot abhebt.
Natürlich tut man den deutschen Parteien in gewisser Weise Unrecht, wenn man ihren Europawahlkampf nur an den Plakaten misst. Schließlich haben alle relevanten Parteien auch in diesem Jahr umfangreiche Wahlprogramme entwickelt, die sich mit genuin europäischen Fragen beschäftigen. Entscheidend für die Wahrnehmung der Parteien durch die Mehrzahl der Bürger sind aber die kurzen Statements auf Plakaten und Großflächen, die noch für einige Tage das Straßenbild prägen werden. Legt man diese zugrunde, so muss man den Eindruck gewinnen, dass auch die deutschen Parteien die Europawahl als nationale Nebenwahl betrachten.
Aus Sicht der Politiker ist dieser Zugang durchaus rational. Solange – zumindest in der Wahrnehmung der Bürger – die wichtigen europapolitischen Entscheidungen von den Regierungen der Mitgliedsstaaten und nicht vom Europaparlament getroffen werden, solange es nur lose Zusammenschlüsse von nationalen politischen Gruppierungen, aber keine kohärenten europäischen Parteien gibt, werden Politiker die Europawahlen im wesentlichen als einen Testlauf für nationale Wahlen betrachten, auf den man wenige Monate vor der Bundestagswahl nicht zuviele materielle und immaterielle Ressourcen verwenden sollte. Selbst wenn der europäische Gedanke darunter leiden sollte: Vor dem Hintergrund knapper Kassen und beschränkter Aufmerksamkeitsspannen wäre es politisch höchst unklug, den Europawahlkampf nicht unter nationalen Vorzeichen zu führen.