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Politiker müssen Anti-Sexismus-Rhetorik Taten folgen lassen

Betrachtet man die deutsche Sexismus-Debatte mit einer gewissen Distanz, etwa aus der Perspektive der USA, so wird deutlich, welche Auswirkungen derartige gesellschaftspolitische Diskussionen hier wie dort haben können. Man darf allerdings hoffen, dass die dortigen Regeln der „political correctness“ nicht bald auch hier gelten. Sie entstanden sicherlich mit besten Intentionen. Inzwischen aber haben sie Dimensionen angenommen, die für keinen der Beteiligten hilfreich sind. Statt Respekt und Verständnis füreinander zu fördern, verhärten sie die Fronten bisweilen eher noch.

Am Beispiel Rainer Brüderle zeigt sich: In Deutschland geht man mit solchen Anlässen durchaus anders um als in den USA. Er steht ganz persönlich in der Kritik, doch viele Kommentatoren haben längst und mit Recht angemerkt, dass die Debatte nicht anhand einer bestimmten Person geführt werden sollte. Denn die Beobachtungen, um die es geht, treten im Alltag zuhauf und an ganz unterschiedlichen Stellen auf. Die politische Dimension für Brüderle und die FDP ist verglichen damit zweitrangig.

In den USA hingegen sind gesellschaftspolitische Debatten noch stärker mit Personen verknüpft. Das hat einen bemerkenswerten Effekt: Insbesondere Politiker der Republikanischen Partei „üben“ in diesen Tagen verstärkt das politisch korrekte Auftreten. Der lange Wahlkampf im vergangenen Jahr hat viele unbedachte oder auch tatsächlich respektlose Äußerungen zutage gebracht, die der Partei in der öffentlichen Wahrnehmung und damit auch in der harten politischen Währung der Wählerstimmen nachhaltig geschadet haben.

Rhetorik und politisches Handeln klaffen auseinander

Den Republikanern geht es nun darum, mittelfristig wieder Wählerschichten für sich zu gewinnen, ohne die in Zukunft keine Präsidentschaftswahl mehr zu gewinnen ist: etwa Hispanics, Asiaten – oder eben Frauen. Über diese Gruppen will man nicht mehr herablassend sprechen, einem „Sensitivitätstraining“ sollten sich die Politiker unterziehen, heißt es. Und die selbst auferlegte Maßregelung nimmt absurde Züge an: Beispielsweise ist doch tatsächlich mit Blick auf mittel- und südamerikanische Einwanderer der Ratschlag zu hören: „Don’t use phrases like ’send them all back‘.“ oder; „Don’t characterize all Hispanics as undocumented and all undocumented as Hispanics.“ Dies nur als kleine Kostprobe.

Über diese republikanische Rhetorik wird in den USA gerade viel berichtet. Das politische Handeln auf diesen Themenfeldern findet dagegen oft unterhalb des nationalen (kritischen) medialen Radars statt. So werden etwa in den Staaten, in denen Republikaner reagieren, Abtreibungskliniken geschlossen. Die Amtsträger dort vertreten auch vielfach deutlich frauenfeindliche Standpunkte zu Verhütung oder Gesundheitsvorsorge. Gleichzeitig spricht die Struktur der Abgeordneten im Kongress nicht gerade dafür, dass aktiv Frauen rekrutiert werden. Die Republikaner haben sehr viel weniger weibliche Abgeordnete im Repräsentantenhaus als die Demokraten: Von den 234 Mitgliedern sind lediglich 20 Frauen; bei den Demokraten sind es immerhin 61 von 201 (mehr dazu auch in einer aktuellen Ausgabe der Rachel Maddow Show).

Über konkrete Veränderungen nachdenken

Die Diskrepanz zwischen Rhetorik und tatsächlichen politischen Positionen mag in Deutschland weniger drastisch sein, allerdings besteht sie auch hierzulande. Mit Blick auf die Sexismus-Debatte sollte man vor allem die Politik nicht nur an Worten, sondern auch an Taten messen. Wo bleiben die Frauen in den Aufsichtsräten? Wo bleibt die Quote? Wie steht es mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf? Warum haben wir im Jahre 2013 immer noch zu wenige Kita-Plätze? Auch dies sind Fragen, die im Zusammenhang mit alltäglichem Sexismus gestellt und beantwortet werden müssen.

Die derzeitige Debatte ist wichtig. Aber ihr ganzes Potenzial entfaltet sie erst, wenn wir sie zum Anlass nehmen, über konkrete Weichenstellungen zu sprechen. Nur dann kann es nachhaltige Veränderungen für unser Miteinander geben. Lasst uns über gesellschaftspolitische Positionen sprechen!

 

Schwarz-Linke Opposition

Normalerweise können sich die Anhänger von CDU und Linkspartei ungefähr so wenig leiden wie die Fans des Hamburger SV und des FC St. Pauli. Man bepöbelt sich im Wahlkampf – als „Bonzen“ beziehungsweise „Staatsfeinde“. Ansonsten geht man sich aus dem Weg.

Insofern ist das, was sich derzeit in Hamburg abspielt, schon bemerkenswert. Schwarze und Dunkelrote, in der Bürgerschaft zur Opposition verdammt, haben sich in ihrer Machtlosigkeit einander angenähert.

Letzten Mittwoch luden beide Parteien gemeinsam zu einer Pressekonferenz ein. Thema war die Großbaustelle Elbphilharmonie; Grüne und FDP waren auch als Gastgeber mit dabei. Am Freitag gelangte die Hamburger Opposition mit einem Boykott des Justizausschusses in die Schlagzeilen. Kollektiv protestierten sie so gegen eine Gefängnisreform des SPD-geführten Senats.

Linke und Christdemokraten als gemeinsame Ausschuss-Schwänzer und Boykotteure parlamentarischer Gremien? In Hessen oder NRW wäre das undenkbar!

In der Hamburger Linken ist man dagegen mächtig stolz auf diesen Schulterschluss. Hier gehe man eben „hanseatisch“, also: „respektvoll“ miteinander um, sagt die Fraktionschefin Dora Heyenn. Das habe sich die Linke erst mühsam „erkämpfen“ müssen. Anfangs hätten sie die anderen Parteien, gerade die CDU, mit „persönlichen Angriffen“ und „bösartigen Zwischenrufen“ attackiert. Aber die CDU habe inzwischen eingesehen, dass die Linke „konstruktiv und sachorientiert“ arbeite, sagt Heyenn. Und klingt dabei recht staatstragend.

Die CDU reagiert nicht ganz so fröhlich, wenn sie mit dem Thema konfrontiert wird. Es gebe „keine strukturelle oder gezielte bilaterale Zusammenarbeit“, sagt der Fraktionschef Dietrich Wersich. Aber eben auch „keinen Ausschluss“ wie in anderen Bundesländern, räumt er ein.

Und, was sind das so für Partner, die Linken? Kann man mit denen zuverlässig zusammenarbeiten? Schließlich hatte die CDU im letzten Hamburger Wahlkampf noch vor einer gefährlichen Chaostruppe gewarnt, wenn es um die ehemalige PDS ging.

Dem Fraktionschef Wersich ist diese Nachfrage etwas unangenehm. Beim ersten Anlauf ignoriert er sie einfach. Beim zweiten Mal fällt die Antwort knapp aus, unfreundlich ist sie aber nicht: Die Kooperation mit der Linken laufe „ordentlich“, sagt der CDUler. Kein Grund zur Klage.

 

Erkenntnisse aus Davos

Von Torsten Oltmanns

Derzeit findet in Davos das Jahrestreffen des World Economic Forum statt. Traditionell richten sich die Augen der Weltöffentlichkeit auf dieses Zusammenkommen von Vertretern aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und den Medien. Die hier diskutierten Herausforderungen und Lösungsansätze werden in den kommenden Monaten die globale Agenda prägen. Einige der wichtigsten Botschaften bisher sind:

1. Europa hat das Schlimmste hinter sich – so der generelle Konsens in Davos. Das Lob dafür teilen sich Angela Merkel und Christine Lagarde (Stichwort: „Leadership“), die Regierungschefs der Südländer und Irlands („harte Arbeit“) und Mario Draghi („Risikobereitschaft“).

2. Auch wenn die Teilnehmer also eine gewisse Ruhe ausstrahlen, kreisen die meisten Gespräche noch immer um die Krise – was lief falsch, was wurde repariert, was ist noch zu tun. Viele ahnen, dass es „nach der Krise“ nicht weiter geht, wie „vor der Krise“. Aber wie die neue Normalität beschaffen sein wird, dazu gibt es bislang wenige Beiträge.

3. Wer in Davos nach vorne dachte, der dachte zumeist über Wachstum nach. Die Aussichten für China und die USA werden von den meisten Rednern und Teilnehmern als gut bewertet – damit lastet die Aufmerksamkeit der Davoser erneut auf Europa. Dieses bleibt nicht nur im Urteil von David Cameron hinter seinen Möglichkeiten und Wettbewerbern zurück, es droht damit auch zum Hemmschuh eines nachhaltigen Aufschwungs zu werden. Einige Experten warnten daher vor einem Jahrzehnt des langsamen Wachstums.

4. Die wichtigste Herausforderung an Europa ist die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit. Darin waren sich Ökonomen und Politiker – allen voran Angela Merkel – einig. Die Kanzlerin will die Schwächen und Barrieren auf den Märkten Land für Land identifizieren und das Ausräumen dieser Schwächen zum Gegenstand eines weiteren Pakts machen. Davos forderte außerdem die Stärkung der Innovationskraft und eine bessere Mobilität der Fachkräfte in der EU.

5. Ein weiteres Mal stand Europa am Donnerstag der Woche im Focus, als David Cameron auf Angela Merkel traf. Camerons Vorstoß einer Volksabstimmung über den Verbleib in der EU wurde als Beispiel kurzfristiger und kurzsichtiger Taktik eingeordnet. Die Idee schaffe Unsicherheit und sei damit geeignet, die britische Erholung zu verzögern. Allerdings hatte der Regierungschef viele Davoser hinter sich, als er die Leistungsfähigkeit Europas in Frage stellte.

6. Der freie Verkehr von Waren und Dienstleistungen ist sicher ein Hebel, um das Wirtschaftswachstum zu fördern. Allerdings zeichnete sich hier in Davos ein Kurswechsel ab: Die Ära multinationaler Ansätze sei gescheitert, hieß es, nun breche jene der bilateralen Verträge an. Wie zum Beweis besiegelten China und die Schweiz ihr neues Abkommen während dieser Woche.

7. Ein weiteres „Buzz-Word“ in Davos: Re-Sourcing. Bei Arbeitskosten, die nur noch 10 Prozent über denen Chinas liegen, avancieren die USA zum neuen Produktionsstandort der Wahl. Viele US-Unternehmen bereiten die Rückkehr bereits vor, europäische Unternehmen diskutieren die Verlegung in die USA.

8. Ein wichtiger Motor des Re-Sourcing sind die Energiekosten. Während die USA offenbar planen, die neuen technischen Möglichkeiten voll auszuschöpfen und niedrige Energiepreise zu garantieren, haben deutsche Unternehmen erneut Kritik an der schnellen Energiewende verlauten lassen – hier würden mühsam erworbene Wettbewerbsvorteile geopfert.

9. Viele Teilnehmer empfinden einen Mangel an Gästen aus den USA, China und Indien – nicht nur auf der Spitzen- sondern auf allen Ebenen. Damit einher geht die Frage, ob das World Economic Forum seinen globalen Anspruch auf Dauer behalten können werde.

10. Bei einem Thema wurde dieser globale Anspruch allerdings von allen geteilt und bekräftigt: Frauen brauchen gleichberechtigte Teilhabe an allen Bereichen des Lebens und bessere Chancen auf Gleichstellung im Beruf. Soviel Einigkeit war selten. An konkreten Schritten allerdings fehlt es derzeit noch.

 

Dr. Torsten Oltmanns ist Ökonom und Journalist, heute Partner und Director Global Marketing & Communications bei Roland Berger Strategy Consultants. Als Honorarprofessor lehrt er an der Universitaet Innsbruck, ausserdem ist er Visiting Fellow der Oxford University. Seine Beobachtungen aus Davos finden Sie hier.

 

Von wegen Neustart: Drei ganz normale Tage bei den Piraten

Am Abend der Wahlniederlage von Niedersachsen waren sie sich alle einig, die Piraten. Es müsse jetzt Schluss sein mit der ständigen Selbstbespiegelung. Stattdessen: „Themen mit Köpfen“ verbinden, wie Parteichef Schlömer das nannte. Eigene Inhalte nach vorne bringen. Sachpolitik machen. Sich als Alternative präsentieren. Was also ist passiert seitdem?

An diesem Mittwoch gegen halb vier konnten die Piraten einen kleinen Erfolg verbuchen. Im Landtag von Nordrhein-Westfalen stellten sie den ersten Antrag aller Fraktionen zu einem Thema, das in dem Bundesland gerade die Gemüter erhitzt und die Titelseiten füllt. Nach der Abweisung eines Vergewaltigungsopfers in zwei katholischen Kölner Kliniken wollen die Piraten die kirchlichen Häuser per Gesetz zwingen, niemanden mehr abzuweisen. Ob man diesen Antrag nun gut findet oder nicht: Die Partei mischt damit vorne in der Debatte mit, die anderen müssen nun nachziehen. Ein kleiner, alltäglicher Erfolg.

So weit, so gut. Zur gleichen Zeit aber macht ein Interview mit dem politischen Geschäftsführer der Partei, Johannes Ponader, die Runde, das ausgerechnet die NRW-Piraten vom Podcast „Krähennest“ führten. Darin spricht sich dieser dafür aus, den Bundesvorstand der Partei, dem er selbst angehört, auf einem Sonderparteitag möglichst bald neu zu wählen. Beim Parteitag im November hatten die Piraten genau eine solche vorgezogene Neuwahl noch abgelehnt – und zwar auf Initiative von Parteichef Bernd Schlömer. Das Gremium, so Ponader jetzt, sei zu intransparent, und er stelle sich außerdem die Frage: „Wird es gelingen, einen guten, mutigen, inspirierten, provokanten Wahlkampf zu führen mit diesem Bundesvorstand?“

Und schon war sie wieder da, die Personaldebatte und Selbstbeschäftigung. „In welcher Parallelwelt sind fehlende Personaldebatten schuld am aktuellen Parteizustand und eine solche Debatte Lösung für irgendwas?“, twitterte Ponaders Vorstandskollege Klaus Peukert genervt. Was ihm wiederum die Frage einbrachte, warum er das nicht erst intern mit Ponader bespreche. Alles war wieder so wie immer.

Ähnlich festgefahren scheint die Situation im für die Partei vielleicht wichtigsten Streit: Wollen sie die „Ständige Mitgliederversammlung im Internet“ (SMV) einführen, mit der sie auch zwischen den Parteitagen Beschlüsse fassen können? Peukert fragte: „Warum stimmt die sogenannte Internetpartei immer noch nicht im Internet ab?“ In der Tat könnte die SMV bestenfalls einlösen, was die Piraten ja seit ihren ersten Tagen versprechen: die neuen Techniken für ein „Update der Demokratie“ nutzen.

Weil die SMV aber noch unausgegoren ist und viele befürchten, dass sie missbraucht werden könnte, kämpfen viele Piraten vehement gegen sie. Unter ihnen der stellvertretende Parteichef Sebastian Nerz, der am Dienstag in der taz prompt seinen Kollegen Peukert entgegnete, man solle „nicht den Fehler machen, auf demokratische Grundprinzipien zu verzichten, nur weil es hip oder modern wäre“. Es gebe „schlicht keine technische Lösung für solche Online-Abstimmungstools“.

Das bemerkenswerte ist nicht der Konflikt im Vorstand, der ist so alt wie das Thema selbst. Bemerkenswert ist, dass die beiden es jetzt durch ihre Äußerungen wieder auf die Tagesordnung heben, obwohl sie doch wissen, dass die Fronten hier verhärtet sind und es keine kurzfristige Lösung geben wird. Sie konnten also nichts erreichen, außer ein weiteres Mal den Eindruck zu bestätigen, dass sich Ober-Piraten uneinig sind und offen (sie würden sagen: transparent) streiten.

Fragt man Birgit Rydlewski, die als Piraten-Abgeordnete in NRW den Antrag zum Krankenhaus-Skandal mit eingebracht hat, was sie von den Personaldebatten und Streitereien hält, die so oft ihre Arbeit verdecken, seufzt sie erst einmal. Dann sagt sie: „Jetzt eine Personaldebatte aufzumachen, das ist, naja, eine schwierige Sache.“ SPD und Grüne werden ihrem Antrag heute nicht zustimmen, sie haben als Reaktion noch schnell ein eigenes Papier eingebracht, dass ein bisschen anders klingt. „Das geht wohl aus parteipolitischen Gründen nicht, dass sie mit uns gemeinsame Sache machen“, sagt Rydlewski. Sie will diese „Spielchen“ nicht mitmachen und deshalb mit SPD und Grünen stimmen. „Mir geht es ja um die Sache“, sagt sie.

Eigentlich ein gutes Beispiel für gelungene Piraten-Politik. Doch selbst im Piraten-Kosmos auf twitter ist der Antrag längst kein Thema mehr, sondern er ist überdeckt von Ponaders Neuwahl-Vorstoß.

Sicher, es sind erst drei Tage vergangen seit ihrer ersten Niederlage. Doch so sieht er bisher aus, der Neustart der Piraten.

 

Wahlrecht mit Restrisiko

Von Christian Hesse

Am vergangenen Montag fand im Innenausschuss des Bundestages eine Anhörung von Experten zum Wahlrecht statt. Der favorisierte Gesetzentwurf, auf den man sich fraktionsübergreifend (mit Ausnahme Der Linken) geeinigt hatte, ist eine Kombination aus Überbleibseln des alten Wahlrechts und dem früheren SPD-Vorschlag. Dieses Vier-Fraktionen-Modell (4F-Modell) sieht eine Kompensation von Überhangmandaten durch Ausgleichssitze vor.

Eine Analyse des Wahlrechts ist generell anspruchsvoll, weil dafür sowohl staatsrechtlicher und politikwissenschaftlicher als auch mathematischer Sachverstand nötig ist. Zwar ist das Wahlrecht keine Relativitätstheorie, doch braucht man immerhin so viel quantitative Kompetenz, dass eine nur juristische Beurteilung unvollständig bleibt und zu Fehldiagnosen führen kann. Das wurde beim letzten Wahlrechtsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht deutlich und spiegelt sich in dessen Urteil wieder.

Bei der Experten-Anhörung wurde das 4F-Modell als im Wesentlichen verfassungsfest beurteilt. Einige Experten konzentrierten sich darauf, primär die positiven Eigenschaften des Entwurfs herauszuarbeiten. Das dürfte den Gesetzgeber in dieser kritischen Zeit ohne gültiges Wahlrecht gefreut haben, war seine Ausgangssituation wegen immer detaillierterer Vorgaben aus Karlsruhe doch überaus kompliziert.

Das 4F-Modell hat aber Licht- und Schattenseiten. Ausgesprochen positiv ist zu werten, dass alle Wahlkreissieger in den Bundestag einziehen und dass der Proporz der Parteien nach Zweitstimmen sichergestellt ist. Positiv ist auch zu sehen, dass sich föderale Verzerrungen in Grenzen halten. Bis auf kleinere handwerkliche Mängel sind diese Aspekte gut realisiert.

Negativ zu werten ist die starke Variabilität der Bundestagsgröße. Sie besitzt eine Eigenschaft, die mathematisch als sensible Abhängigkeit vom Input bezeichnet wird. Mathematiker haben diese Eigenschaft als eine Voraussetzung für die Entstehung von mathematischem Chaos identifiziert. Wenn man in bestimmten Konstellationen ein wenig am Input wackelt (= kleine Änderungen an den Stimmenzahlen vornimmt), so ändert sich der Output erheblich (= werden große Änderungen bei der Bundestagsgröße ausgelöst).

Beispiele sind schnell zur Hand, etwa für das Bundestags-Wahlergebnis von 2009: Hätte Die Linke in Hamburg nur 8000 Stimmen mehr erhalten, dann würde sich, bliebe alles andere gleich, unter dem 4F-Modell die Hausgröße von 671 auf 666 Sitze reduzieren. Das ist eine 50-fache, zudem gegenläufige Hebelwirkung. Sie kann sich natürlich auch in die umgekehrte Richtung auswirken. Diese und andere Verstärkungsmechanismen führen dazu, dass bei Simulationen von realistischen Wahlergebnissen die Modelle mit Ausgleichssitzen für Überhangmandate nicht selten zu Bundestagsgrößen von um die 800 Mandaten führen.

Ein zweiter bedenklicher Punkt ist das negative Stimmgewicht. Ganz klassisch bezeichnet es die Paradoxie, dass eine Partei für hypothetisch mehr errungene Zweitstimmen weniger Sitze im Bundestag bekäme, oder umgekehrt. Das Bundesverfassungsgericht drückt es im letzten Wahlrechts-Urteil begriffserweiternd so aus: Die Zahl der Mandate einer Partei darf nicht erwartungswidrig mit der Stimmenzahl für diese Partei oder für eine konkurrierende Partei korrelieren. Dabei ist es für das Vorliegen des Tatbestandes unerheblich, ob er durch Überhangmandate, Ausgleichssitze oder Rundungen verursacht wird.

Auch das 4F-Modell lässt negative Stimmgewichte zu: Verfolgt man die Auswirkungen der 8000 zusätzlichen Stimmen für Die Linke in Hamburg, so ergibt sich unter dem 4F-Modell für diese Partei auf Bundesebene ein Mandatsverlust. Dieses von mir schon im Dezember in die Diskussion eingebrachte Beispiel spielte auch bei der Anhörung im Innenausschuss eine Rolle. Es ist nicht angemessen, den im Beispiel beschriebenen Fall als nur dem negativen Stimmgewicht ähnlich umzudeklarieren oder ihn formal-juristisch (aber quantitativ nicht überzeugend) als gutartig umzudeuten.

Angesichts dieses Beispiels ist die verbreitete Meinung überraschend, das 4F-Model sei frei von negativem Stimmgewicht. Weiter gehende Analysen zeigen sogar, dass dieser Effekt nicht nur in seltenen Ausnahmefällen auftritt. Allerdings könnten nur aufwendige Simulationen letztlich die Größenordnung der Wahrscheinlichkeit dieses Effekts ermitteln. Auch hinsichtlich negativer Stimmgewichte ist der Gesetzentwurf damit noch risikobehaftet.

Was bleibt als Fazit? Zu begrüßen ist, dass sich fast alle Bundestagsfraktionen auf ein Wahlrecht geeinigt haben. Positiv ist auch, dass bei den maßgeblichen Staatsrechtlern der Entwurf auf überwiegende Zustimmung trifft. Aus meiner Sicht kann es aber nur ein Übergangswahlrecht sein, das wegen der angesprochenen Punkte noch Korrekturbedarf aufweist.

 

Weitere Literatur:

Hesse, Christian (2012): Gutachten zum neuen Bundeswahlrecht, BGBl 2011 Teil I S. 2313.

 

Christian Hesse ist Professor für Mathematische Stochastik im Fachbereich Mathematik der Universität Stuttgart und zur Zeit Gastprofessor in den USA. Beim Wahlrechtsverfahren im Sommer 2012 hatte ihn das Bundesverfassungsgericht als Sachverständigen hinzugezogen.

 

 

Flügelkämpfe helfen den Piraten

Das einzig wirklich dämliche an der neu gegründeten Piraten-Untergruppe ist ihr Name: „Frankfurter Kollegium“ – das klingt in seiner altdeutschen Gestelztheit wie eine Mischung aus Burschenschaft und Adorno-Fanclub.

Sonst aber gibt es gegen den Verein, der sich als sozialliberaler Flügel in der Partei versteht, wenig zu sagen. Die Piraten wollen eine Vollpartei sein, das haben sie auf ihrem jüngsten Parteitag eindrücklich gezeigt, und in einer solchen geht es nicht ohne Flügel. Es ist das Natürlichste in der Parteienwelt, dass ihre Mitglieder miteinander um den Kurs ringen – wenn sie groß genug sind und ihre Positionen entsprechend vielfältig. Was ist schlimm daran, wenn sie sich dafür organisieren?

Nun aber schlägt dem neu gegründeten Flügel Empörung aus der eigenen Partei entgegen. Unter anderem gibt es bereits ein kritisches „Watchblog“ voller Verschwörungstheorien und mehrere Satire-Seiten, Twitter ist voll von wütenden Wortmeldungen. Das ist bestenfalls unterhaltsam, meist aber allzu reflexhaft und naiv. Denn diese Wut wird getragen von Piraten, für die es nur eine Maxime gibt: bloß nicht werden wie die anderen Parteien. Bloß keine „herkömmlichen“ Machtkämpfe und Grüppchenbildungen.

Dabei gibt es diese Kämpfe, die Grüppchen und Flügel auch bei den Piraten längst. Das zeigt jeder Parteitag und besonders beispielhaft der erbitterte Streit um das Bedingungslose Grundeinkommen. Diese Netzwerke organisieren Mehrheiten, bestimmen Debatten, ringen um Posten. Aber sie tun all das völlig im Verborgenen, weil es sie bei den ach so basisdemokratischen Piraten ja offiziell eigentlich nicht geben darf. Das ist das Gegenteil der Transparenz, die die Piraten im Brustton der Avantgarde von der Restgesellschaft einfordern.

Das „Kollegium“ ändert das. Sein Mitgründer, der stellvertretende Bundesvorsitzende Sebastian Nerz, hat deshalb völlig Recht, wenn er twittert: „Wir arbeiten damit – ganz bewusst – um Welten transparenter als große Teile der Netzwerke in der Partei.“

Einige Piraten haben nun Angst, dass nun bald eine sozialliberale Elite die Partei beherrschen könnte. Schließlich sind viel namhafte Funktionäre aus Bundes- und Landesvorständen und von Wahllisten Mitglied im Kollegium. Doch anstatt zu jammern, sollten die Kritiker dem etwas entgegensetzen: Am besten gute Argumente und eigene Themen.

Noch entscheidet die Gesamtheit der (auf Parteitagen anwesenden) Mitglieder über Programm und Posten. Dort können die Piraten die Anträge des Kollegiums (hoffentlich aus inhaltlichen Gründen) ganz einfach durchfallen lassen und ihre Vorreiter aus den Ämtern wählen. Die Frankfurter Flügel-Gründung schadet der parteiinternen Demokratie nicht. Wenn sie aber dazu beitragen würde, das naiv-romantische Politikverständnis und Selbstbild vieler Piraten zurechtzurücken, hätte es sich schon gelohnt.

 

Machst du Peer mal auf? Die Wahlkampfstrategie der SPD auf dem Prüfstand

Die SPD stellt die Weichen für den Wahlkampf 2013. Hierbei gilt es, zwei zentrale Botschaften zu vermitteln: Peer Steinbrück muss als Person für Wähler attraktiv(er) dargestellt werden; dabei müssen jedoch auch die Inhalte in den Vordergrund gestellt werden. Der jüngste DeutschlandTrend hat klar gezeigt, dass Wählerinnen und Wähler die SPD primär aufgrund ihrer inhaltlichen Ausrichtung wählen würden.

Steinbrück hat die soziale Gerechtigkeit, das „Wir-Gefühl“ in der Gesellschaft, in den Mittelpunkt seiner Parteitagsrede gestellt. Angegriffen hat er die regierende Koalition gleich in mehreren Punkten: Familienpolitik, Betreuungsgeld, Frauenquote, Rente und die Europapolitik. Hieraus ergibt sich im Umkehrschluss das Programm, für das Steinbrück und die SPD in den Wahlkampf ziehen als klare inhaltliche Alternative zu Union und FDP.

Nun möchte Steinbrück sich und sein Programm den Wählerinnen und Wählern am liebsten persönlich vorstellen. Die SPD setzt auf Sofagespräche: Peer bei uns zu Hause, im Wohnzimmer. Wie ist das aus sozialwissenschaftlicher Perspektive zu beurteilen? Wir wissen aus der Wahlkampfforschung, dass die interpersonale Kommunikation verglichen mit anderen Instrumenten den größten Effekt auf die Wählerinnen und Wähler haben kann. Dies wurde in einer nach wie vor beeindruckenden Studie von Paul Lazarsfeld, Bernard Berelson und Hazel Gaudet aus dem Jahr 1944 nachgewiesen, zahlreiche neuere Studien bestätigen dies. Über persönliche Gespräche können Bürgerinnen und Bürger am ehesten für Politik begeistert werden, ihre Meinungen zu bestimmten Themen bilden oder gar ihre Meinung ändern – und dann wiederum andere überzeugen. In Zeiten, in denen Bürgerinnen und Bürger weniger über Politik sprechen, sich weniger dafür interessieren und auch in den Massenmedien weniger Politik verfolgen, kann das eine gewinnbringende Strategie sein.

Genau hier lag auch der Schlüssel zum Erfolg des Obama-Wahlkampfs in diesem Jahr: Das „get out the vote“ war eine Priorität der Kampagne, also die direkte Ansprache von Wählerinnen und Wählern, die möglicherweise noch nicht entschieden hatten, ob (und wenn ja, für wen) sie zur Wahl gehen würden. In einem ausgefeilten „ground game“, das in den letzten vier Wochen vorbildlich orchestriert wurde, nahm das Obama-Team persönlichen Kontakt auf – sei es telefonisch, via E-Mail oder eben auch durch Hausbesuche. So hatte das Obama Team beispielsweise in den Regionen, in denen die Wahl vermutlich entschieden werden würde, eine deutlich breitere Organisation in Form von „field offices“ vorzuweisen. In Ohio standen den 123 der Obama-Kampagne gerade einmal 40 aus dem Romney-Lager gegenüber, auch in Colorado war der Unterschied mit 59 zu 15 deutlich. Korrespondierend damit waren in den letzten Wochen vor der Wahl Sozialwissenschaftler und Internet-Experten in der Wahlkampfzentrale damit beschäftigt, große Datenmengen zu analysieren (Stichwort: „data mining“) und so die unentschlossenen Wählerinnen und Wähler auszumachen, um sie mit zielgruppengenauen Botschaften ansprechen zu können.

Kann das auch für die SPD funktionieren, können die angekündigten Hausbesuche ähnlich viele Stimmen bringen? Die Situation hinsichtlich der Verfügbarkeit von Daten und deren Nutzung ist in Deutschland sicher eine andere als in den USA. Somit sind die entscheidenden Haushalte schwieriger zu ermitteln. Auch die Finanzierung der Wahlkämpfe funktioniert hierzulande anders. Aber: Deutsche Parteien punkten verglichen mit den amerikanischen Pendants ganz stark in Sachen Infrastruktur. Insbesondere die beiden großen Parteien sowie auch die Grünen sind flächendeckend organisiert – das „ground game“ lässt sich somit ganz anders orchestrieren.

Der entscheidende Vorteil hierbei sind die Parteimitglieder. Im Gegensatz zu Wahlkampfhelferinnen und -helfern in den USA, die vorzugsweise für bestimmte Personen und somit oft einmalig aktiv sind, bekennen sich Parteimitglieder in Deutschland dauerhaft. Nicht zuletzt zahlen sie jeden Monat einen Mitgliedsbeitrag. Das ist nicht unwichtig, ist doch aus der Partizipationsforschung bekannt, dass Bürgerinnen und Bürger deutlich eher bereit sind, sich zu engagieren, wenn sie bereits einen Einsatz gelistet haben und sodann eine klare Aufgabe zugeteilt bekommen.

Natürlich wird dies nicht ausreichen. Moderne Kampagnen müssen unterschiedliche Instrumente integrieren: Hausbesuche, TV-Werbung, Plakate und Botschaften in den sozialen Medien müssen aufeinander abgestimmt sein. Dann können sie die kommunikativen Stützen des Wahlkampfes sein, die Kernbotschaften vermitteln, welche die Wählerinnen und Wähler mobilisieren können.

Steinbrück und der SPD kann zugutegehalten werden, dass sie in Zeiten medialer Dauerbeschallung den Wert des direkten Gesprächs erkannt haben. Allerdings wird entscheidend sein, wie dieser Gedanke umgesetzt und in die Wahlkampfstrategie integriert werden kann. Hier ist mit Blick auf die doppelte Zielsetzung der persönlichen und thematischen Profilbildung ein kluges Vorgehen gefragt. Am Ende wird es darum gehen, zu mobilisieren um zu mobilisieren. Davor müssen aber Botschaften entwickelt werden, die den Kandidaten und seine Partei unterscheidbar machen und im Wohnzimmer auf dem Sofa vermittelt werden können.

 

Beck, P./Dalton, R./Greene S. und Huckfeldt, R. (2002): The social Calculus of Voting: Interpersonal, Media, and Organizational Influences on Presidential Choices, in: American Political Science Review 96, S. 57-74.

Lazarsfeld, P./Berelson, B./Gaudet, H. (1944): People’s Choice. How Voters Make up their Mind in a Presidential Campaign. Sloan and Pearce, New York.

Römmele, A. (2005, 2. Auflage): Direkte Kommunikation zwischen Parteien und Wählern. Wiesbaden, Westdeutscher Verlag.

 

 

Was ist bloß aus den US-Medien geworden?

Es war eine große Show, eine Serie von medialen Großereignissen. Aber man fragt sich nach drei intensiven TV-Debatten zwischen dem republikanischen Herausforderer Mitt Romney und US-Präsident Barack Obama dann doch: Was haben wir daraus eigentlich gelernt? Nicht ganz so einfach – denn die Erwartungen an diese Rededuelle im Wahlkampf sind enorm. Nähern wir uns der Antwort, indem wir zunächst grundsätzlich nach der Wirkung solcher Formate fragen.

Die empirische Forschung spricht dazu eine klare Sprache: TV-Duelle haben – wenn überhaupt – nur einen geringen Effekt. Mehr noch: Nach drei bis vier Tagen ist dieser normalerweise verblasst. Das gilt zumindest, wenn sich beide Kandidaten keine gravierenden Schnitzer erlauben. Im Falle der Debatten zwischen Obama und Romney jedoch zeigt sich ein differenziertes Bild: Die erste Runde konnte der Herausforderer überraschend positiv gestalten und für sich verbuchen. Die beiden folgenden Duelle hat Umfragen zufolge zwar Obama gewinnen können. Aber der Eindruck des ersten Duells bleibt nun schon seit mehreren Wochen der dominante: Obama und Romney bewegten sich auf Augenhöhe und tun dies nun auch in den Umfragen.

Zurück zur Ausgangsfrage: Was haben wir inhaltlich gelernt? Die erste Antwort muss lauten: nicht viel. Die Narrative der Debatte lassen sich wohl folgendermaßen darstellen: „Was Sie, verehrter Herr Kandidat, heute sagen, stimmt in keinster Weise mit dem überein, was Sie vor vier Wochen zu diesem Thema gesagt haben.“ – „Dies ist eine glatte Lüge.“ – „Die Zahlen, verehrter Herr Präsident, die Sie hier präsentieren, stimmen in keinster Weise mit den kürzlich veröffentlichten Zahlen aus Ihrem Hause überein.“ – „Ihre Additionen stimmen hinten und vorn nicht“ … Man kann den Gesprächsfaden beliebig weiterspinnen.

Den Mächtigen widersprechen

Dennoch war die Show erhellend, denn sie hat in einer seltenen Deutlichkeit die schwache Rolle der amerikanischen Medien gezeigt. Dass wir uns hier im Heimatland des kritischen, aufgeklärten Journalismus befinden, wurde in dieser Debattenphase in keiner Weise deutlich. Denn ebenso wichtig wie die Präsentation der Kandidaten selbst ist es, deren Aussagen hinterher einzuordnen und der Öffentlichkeit eine ausgewogene Einschätzung zu den diskutierten Themen zu bieten.

Wo aber waren hier die kritischen Journalisten in der Nachlese der Debatten (aber auch während der gesamten Kampagne)? Seit sich die Gründer der USA gegen den britischen König stellten, galt das „speaking truth to power“ als Lebenselixier, als Manifest der amerikanischen politischen Kultur: Unbequeme Wahrheiten müssen ausgesprochen werden, auch wenn sie den Mächtigen widersprechen mögen. Dies galt auch und vor allem als zentrales Element einer kritischen Presse – und genau dieser Aspekt ist über die vergangenen Jahre verlorengegangen.

Anstelle kritischer Berichterstattung, die bemüht ist, Fakten auf den Tisch zu bringen, ergehen sich die amerikanischen Medien mehr und mehr im sogenannten „Horse-race“-Journalismus. Nicht Sachfragen, etwa nach den angestrebten sozialen und wirtschaftlichen Reformen oder deren Finanzierung, werden gestellt; die brennenden Fragen sind vielmehr: Wer liegt in den Umfragen vorn? Wer war Sieger der Debatte? Dies zu diskutieren ist natürlich legitim, aber wenn solche Einschätzungen die sachorientierten Analysen fast völlig verdrängen, dann werden die Medien ihrem Anspruch nicht mehr gerecht. Nicht „truth to power“ wird mehr gesprochen, sondern eher „opinion to public“. Und gerade weil amerikanische Medien traditionell meinungsstark sind und beispielsweise bestimmte Kandidaten offen unterstützen und andere heftig kritisieren, lässt diese einseitige Art der Berichterstattung viele Zuschauer ratlos zurück.

Fact Checking oft ausgelagert

Um es klarzustellen: Dies ist keine Kritik an den Moderatoren der TV-Duelle. Vor allem Candy Crowley, die CNN-Moderatorin der zweiten Debatte, hat live vor Millionen von Zuschauern Darstellungen der Kandidaten richtiggestellt. Aber dies ist die Ausnahme – das sogenannte fact checking, eine Kernkompetenz der Medien, wird zunehmend ausgelagert. Unabhängige Organisationen nehmen sich dieser wichtigen Aufgabe an. Ihnen gebührt alle Ehre, hier wird hervorragende Arbeit geleistet – etwa wenn die Aussagen der Kandidaten anhand von Statistiken und früheren Verlautbarungen darauf geprüft werden, wie zutreffend beziehungsweise realistisch sie sind.

Hier beispielsweise das aktuelle Bild, das sich auf politifact.com ergibt:

Diese Website ist zugleich eines der seltenen Beispiele für ein Faktencheck-Portal, das von einer Zeitung betrieben wird. Andere sind hingegen an Forschungseinrichtungen angesiedelt (etwa factcheck.org) oder werden von – oftmals einem bestimmten Kandidaten zugeneigten – Organisationen betrieben (etwa actually.org).

Gemein ist ihnen allen, dass diese wichtige Form der „Nacharbeit“ die breite Öffentlichkeit nicht (mehr) erreicht. Sie wird kaum noch in die mediale Berichterstattung eingespeist. So ist ihr Stellenwert verglichen mit all dem, was das „horse race“ zu bieten hat, sehr gering. Was wir aus den TV-Duellen in diesem Wahlkampf gelernt haben, ist also in erster Linie, dass die Medien zwar starke Meinungen, nicht aber starke Analysen bieten.

 

Grüne Fritzles und schwäbische Cleverles

Natürlich – es gab das erste Duell zwischen Angela Merkel und Peer Steinbrück im Bundestag.

Natürlich – Horst Seehofer und Christian Ude stehen nun auch offiziell und parteitagszertifiziert bereit für ein episches Duell um die Macht in Bayern.

Natürlich – auch das Duell zwischen Deutschland und Schweden war auf seine Weise bemerkenswert (und merkwürdig).

Und doch drehte sich die sportlich-politische Welt am vergangenen Wochenende nur um Stuttgart.

Neulich die Pressekonferenz von Bruno Labbadia war vielerorts zu einer Wutrede hochsterilisiert worden. Dabei hatte sie doch maximal sieben „Trapas“ auf der nach oben offenen Wutredenskala verdient. Aber die junge Mannschaft des VfB hat in Hamburg eine Reaktion gezeigt und den altehrwürdigen HSV mit 1:0 besiegt.

Wer hat sich am meisten gefreut? Naturgemäß natürlich das Maskottchen des VfB. Gattung: Krokodil. Farbe: Grün. Name: Fritzle. Was das Lieblingsessen von Fritzle ist, erfährt man in seinem Steckbrief nicht – aber es kann nur eines sein: Laugenbrezeln.

Ein grüner Fritz? Laugenbrezeln? Schon ist man beim zweiten Großereignis, das Stuttgart am Wochenende weltweit berühmt gemacht hat. Wobei auch hier – ähnlich wie beim VfB – der grüne Fritz die Laugenbrezel sprichwörtlich verspeist hat. Fritz Kuhn ist seit gestern erster grüner Oberbürgermeister einer deutschen Landeshauptstadt. Nachdem es vor zwei Wochen in der ersten Runde noch keinem Kandidaten gelungen war, eine absolute Mehrheit der Stimmen auf sich zu vereinen, war gestern alles klar: Mit 52,9% der gültigen Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 47,2% hat Kuhn die Wahl eindeutig für sich entschieden.

Ob es für Laugenbrezeln – für dieses Werbesymbol hatte sich Werbeprofi und überparteilicher OB-Kandidat von CDU, FDP und Freien Wählern, Sebastian Turner, entschieden – ein guter oder ein schlechter Tag war, darüber waren sich zumindest die viralen Kräfte in diesem Internet uneins. Bei einigen freuen sich die lustig geformten Gebäckstücke über die wieder gewonnene Freiheit, bei anderen dagegen war von Brezel-Suiziden die Rede. Anatomiker fragen sich übrigens noch immer, wie die Hände einer Brezel es schaffen, sich selbst zu schütteln.

Wie dem auch sei. Der neue Slogan Baden-Württembergs heißt ab sofort: „Wir können alles – vor allem Grün“. Stadt und Land sind in grüner Hand, dem Wählerwillen sei Dank. Aber die Wähler im Ländle sind auch Schalke (Sportwortspielgefahr!), haben sie den grünen Spielmachern doch als Strategie den Bau von Stuttgart21 per Volksabstimmung verordnet.

Nicht verschwiegen werden darf bei alledem die Hauptbotschaft, die am Sonntag von Stuttgart ausging. Was Insidern schon immer klar war, haben die schwäbischen Tatort-Kommissare Lannert und Bootz massentauglich gemacht:

1) PoWis (Insidersprech für Politikwissenschaftler) – das sind die ganz harten.

2) PoWi zu studieren allein macht nicht verdächtig.

Cleverles, diese Schwaben. Das Wochenende sollte selbst die größten Skeptischer davon überzeugt haben.

Der Text ist auch auf Antrobius unter http://antrobius.de/schwabische-schalke.html erschienen.

 

Wir können alles – außer einem gewöhnlichen Bewerberfeld: OB-Wahl in Stuttgart

Von Thorsten Faas und Johannes Blumenberg

Sonntagszeit ist Oberbürgermeisterwahlzeit. Zumindest in Stuttgart. Am kommenden Sonntag steht der erste Wahlgang an, insgesamt 14 Kandidatinnen und Kandidaten stellen sich zur Wahl.

Die Stuttgarter OB-Wahl ist aus mehreren Gründen brisant und bemerkenswert:

  • Die Zahl deutscher Großstädte, die von einem Bürgermeister aus den Reihen der Union regiert werden, eignet sich inzwischen als Übungsaufgabe für Erstklässler – der Zahlenraum bis 10 ist völlig ausreichend. Noch gehört Stuttgart dazu, doch Amtsinhaber Wolfgang Schuster stellt sich nicht zur Wiederwahl. Das Rathaus ist ein „open seat“.
  • Trotzdem (oder deshalb?) haben CDU und SPD darauf verzichtet, ein Mitglied aus ihren Reihen zu nominieren, sondern sich für parteilose Kandidaten entschieden. Für die Union tritt Sebastian Turner an, Publizist, Werbefachmann und in dieser Funktion auch der Erfinder des Slogans „Wir können alles außer Hochdeutsch“. Turner wird auch von der FDP und den Freien Wählern unterstützt und versucht mit dem Slogan „Ein Bürger als Oberbürgermeister“ und einem Brezel-Logo zu punkten. Die SPD vertraut auf die derzeitige Bürgermeisterin von Schwäbisch-Hall, Bettina Wilhelm (Slogan: „Die Nächste für Stuttgart.“, „Rathauskompetenz“) .Für die Grünen, die die stärkste Kraft im lokalen Parlament sind, geht Fritz Kuhn ins Rennen, aus politischer Sicht vermutlich das schwerste Gewicht im Bewerberfeld – kein unwichtiger Aspekt angesichts eines Wahlzettels, auf dem nur die Namen der Personen, nicht aber ihre parteipolitischen Verbindungen vermerkt sind.
  • Aufgemischt wird das Feld weiterhin von Hannes Rockenbauch. Bundesweit bekannt geworden ist Rockenbauch als das Gesicht des Widerstands gegen das Bahnprojekt „Stuttgart21“ im Schlichtungsverfahren mit (unter?) Heiner Geißler. Er tritt für das Bündnis „Stuttgart Ökologisch Sozial (SÖS)“ als Kandidat an und bereitet vor allem den Grünen Bauch- und Kopfschmerzen. Gegner von Stuttgart21 könnten bei „Hannes kann es“ Rockenbauch ihr Kreuzchen machen – und nicht bei Kuhn.

Zehn weitere Kandidaten ergänzen das Feld. Vertrauen wir jedoch den jüngsten Umfrageergebnissen, so werden diese am kommenden Wahlsonntag kaum ins Gewicht fallen. Die eigentliche Entscheidung wird demnach vielmehr zwischen Kuhn und Turner gefällt; um Bronze kämpfen Wilhelm und Rockenbauch.

Zwei parteilose Kandidaten, ein Kandidat aus eher unbekannten (parteipolitischen) Reihen und ein bundesweit bekannter Grüner. Wir können alles außer einem herkömmlichen Bewerberfeld, könnte man sagen.
Ein wenig Orientierung für noch Unentschlossene bietet die Stuttgarter Zeitung. Diese hat – in Anlehnung an den (nicht nur treuen Blog-Lesern) wohl vertrauten Wahl-o-mat42 Thesen formuliert, zu denen sich die örtlichen Kandidatinnen und Kandidaten positionieren sollten. Halten sie ein umfassendes Glas- und Flaschenverbot auf öffentlichen Plätzen für sinnvoll? Wird Stuttgart 21 die Stadt städtebaulich voranbringen? Und vieles mehr…
Wie bei Wahlen und den Antworten der Parteien, so lässt sich natürlich auch hier aus den Antworten der Kandidaten ablesen, wer im Mittel wem wie nahe oder fern steht, indem man einen einfachen Übereinstimmungsindex (*) berechnet. Das Ergebnis sieht wie folgt aus:

Wie die Abbildung zeigt, findet sich die größte Übereinstimmung über alle 42 Aussagen hinweg zwischen Fritz Kuhn und Hannes Rockenbauch. Die beiden, die sich bei den zahlreichen Debatten im Vorfeld der Wahl so heftig beharkt haben, wenn es um Stuttgart21 ging, sind sich letztlich in der Gesamtschau doch so nah. Umgekehrt liegt die größte Distanz zwischen Sebastian Turner und Hannes Rockenbauch. Bettina Wilhelm nimmt eine moderate Position in der Mitte ein.

Insgesamt ergibt sich aller Besonderheiten zum Trotz beim Blick auf die Positionen ein recht bekanntes Bild: Turner – Wilhelm – Kuhn – Rockenbauch. Anders würde die Reihung bei einer Landtagswahl- oder Bundestagswahl auch nicht aussehen, wenn man die unterstützenden Parteien auf einer Dimension von links nach rechts sortieren würde.

Wir können alles außer einem herkömmlichen Bewerberfeld mag der Fall sein, aber ein bisschen Ordnung braucht der Schwabe dann eben doch. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass am Ende dann doch wieder alles so ist wie früher: Der Kandidat einer Partei gewinnt.

(*) Der Index berechnet sich wie folgt: Für jedes Paar von Parteien wird über alle 42 Thesen hinweg gezählt, wie oft die Parteien übereinstimmen. Jede Übereinstimmung gibt einen Punkt, jede Kombination von “stimme zu” oder “stimme nicht zu” mit “neutral” einen halben Punkt. Addiert man diese Punkte zusammen und teilt die Summe durch 38 (die Zahl der Thesen), erhält man den Index. Die Annahme ist dabei natürlich, dass alle Thesen gleich wichtig sind.

Thorsten Faas ist Professor für Politikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Johannes Blumenberg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung.