Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Amerikanisches Krisentagebuch IV

 

Cambridge/ Massachusetts Klaus Scharioth, der deutsche Botschafter in Washington, ist eigentlich schwer zu verblüffen, seit er einst im Krisenstab die Tsunami-Hilfe koordiniert hat. Doch der Finanz-Tsunami der letzten Wochen hat Scharioth nach zwei Amtsjahren in Washington noch einmal ein völlig neues Amerika-Gefühl beschert.
Elf Tage vor der Wahl soll er an der Kennedy School of Government in Harvard vor künftigen Diplomaten, Managern und Politikern erläutern, welche Weltprobleme den neuen Präsidenten erwarten. Als die Einladung ausgesprochen wurde, war das ein Routinetermin. Doch inzwischen hat sich vieles gedreht: „Noch vor vier Wochen“, so Scharioth, „reagierten die Amerikaner auf den Begriff ‚Regulierung’, als hätte ich ein schmutziges Wort benutzt. Doch jetzt hat Washington selbst die Welt zu einem Gipfel eingeladen, bei dem es um die Regulierung der globalen Finanzmärkte gehen soll. Still und heimlich sind viele heilige Kühe geschlachtet worden in den letzten Wochen.“
Der Karrierediplomat Scharioth, der als Staatssekretär im Auswärigen Amt mit Schröder und Fischer für das Nein zum Irakkrieg verantwortlich war, ist alles andere als ein Rechthaber. Doch er kann sich das Wort von einer „ermutigenden Lernkurve der letzten Wochen“ nicht verkneifen. Das bezieht sich vor allem darauf, dass der US-Finanzminister Paulson mit seinem Rettunsgpaket dem europäischen Krisenmanagement gefolgt ist.
Doch damit nicht genug: Scharioth erntet auch keinen Widerspruch, wenn er nun eine neue Weltfinanzarchitektur, Klimaschutz und Energiewende zu den obersten Prioritäten des kommenden Präsidenten erklärt – und im Gegenzug Irak, Iran, Aghanistan, den islamistischen Terrorismus und den Nahostkonflikt fast schon wie Nebensachen behandelt. Daran hätte sich vormals der kleine transatlantische Unterschied festgemacht: Hier die softe europäische Venus, da der strenge amerikanische Mars. Setzt jetzt etwa Venus die Agenda? „Multilateralismus“ jedenfalls ist auf einmal keine europäische Marotte mehr, sondern eine schlichte Notwendigkeit der neuen weltpolitischen Situation.
Wie der Botschafter müssen sich viele Europäer dieser Tage daran gewöhnen, dass sie neuerdings in Amerika fast mit einer Art Demut behandelt werden. Auch hier in Harvard – weiß Gott ein unwahrscheinlicher Ort für intellektuelle Bescheidenheit…
Amerikas älteste, wohlhabendste und renommierteste Hochschule ist unverhohlen stolz auf ihren Einfluß. Harvard sieht sich als Amerikas Hirn – im selbstbewußten Rückblick auf 372 Jahre, die sieben Präsidenten und mehr als 40 Nobelpreisträger hervorgebracht haben. Für Politik und Wirtschaft der Vereinigten Staaten ist Harvard der größte Think Tank von allen, der immer noch die brilliantesten Experten hervorbringt.
Aber etwas ist anders hier, in diesen fiebrigen Wochen zwischen dem Finanzdesaster, das Amerikas Rolle in der Welt gefährdet und einer Wahl, die möglicherweise eine historischen Machtwechsel bringt. Ein manisch-depressiver Hauch haftet dieser Tage den Diskussionen in Harvard an: Das Selbstbild schillert zwischen einem demokratisch revitalisierten Amerika, das sich durch die Wahl eines Schwarzen zum Präsidenten über das dunkelste Kapitel seiner Geschichte erheben könnte – und einem global blamierten Amerika, dessen Scheck geplatzt ist, weil es über seine Mittel gelebt hat und nun auch noch den Globus mit in den Abgrund reißt.
Die Selbstsicherheit der intellektuellen Elite ist für den Moment jedenfalls angeschlagen wie lange nicht mehr. Die produktive Kehrseite davon ist eine neue Offenheit, auch gegenüber Europa. Und es sind gerade die zuvor oftmals verhöhnten Seiten an Europa, die jetzt interessieren: ein risikoscheues Rentensystem, das Bausparermodell, eine regulierte Bankenwelt, Umweltschutzrichtlinien. Wer hätte das gedacht: das Konzept Wüstenrot und der EU-Multialteralismus sind plötzlich sexy.
Professor Jay Light, der Dekan der Harvard Business School, hätte sich kaum träumen lassen, ein solches Bekenntnisse vor tausenden Studenten abzugeben: „Auch mein Haus wurde immer wertvoller in den letzten Jahren. Ich hielt das für eine Folge meiner Brillianz als Immobilieninvestor. Spät habe ich erkannt, dass 15 Millionen Hauskäufer sich ebenfalls für brilliante Investoren hielten. Sie ritten auf der gleichen Blase wie ich selber.“ Dies Mea Culpa sprach der Professor nicht im Stillen, sondern im prachtvollen Sanders Theatre, dem repräsentativen Votragsraum der Universität. Harvards Rektorin Drew Faust hatte die prominentesten Ökonomen ihrer Uni aufs Podium gebeten, um die Krise zu erklären. Seit der Zeit des Vietnamkriegs, erinnern sich ältere Kollegen, hat es eine solche  ausserordentliche Debatte nicht mehr gegeben.
Auch Kenneth Rogoff, Harvards Spezialist für Geldpolitik und ein Berater John McCains, sah sich dort zu einer Bescheidenheitsgeste genötigt: „Ich habe zwar seit einem Jahr prophezeit, dass eine große Investmentbank zum Opfer der Subprime-Krise werden würde. Dass aber keine einzige unabhängige Investmentbank übrig bleiben würde, hätte ich mir nie vorstellen können.“ Er sei letztens von einem Studenten gefragt worden, so Rogoff, „ob man sich nun etwa – da es an Wall Street ja etwas eng geworden sei – nach einem ‚echten Job’ umsehen solle.“
Die anwesenden Studenten lachten zwar darüber. Doch in Wahrheit hat den exklusiven Klub der Harvard Business School längst die nackte Angst ergriffen angesichts der Aussicht, dass die großen Investmentbanken nicht mehr Schlange stehen werden, um die Absolventen abzuwerben. Und musste sich nicht gerade erst George W. Bush – selbst ein Alumnus dieser kapitalistischen Kaderschmiede – ausgerechnet vom venezuelanischen Öl-Sozialisten Hugo Chavez als „Genosse Bush“ verhöhnen lassen, weil er nun löblicher Weise endlich die Banken verstaatlicht habe?
Eine bedrohliche, unverständliche Welt tut sich da auf, in der die staatsferne, marktfreundliche und unternehmerzentrierte Wirtschaftswissenschaft, wie sie in Harvard seit jeher gelehrt wird, unter enormen Rechtfertigungsdruck gerät. Wer es an die Harvard Business School geschafft hat, möchte einst am großen Rad mitdrehen – als Unternehmer, Spitzenmanager oder Wirtschaftspolitiker im Dienst des freien Markts. Und nun das: Es könnte sein, dass die nächsten Abschluss-Jahrgänge gewissermassen als Dissidenten in eine Welt entlassen werden, die den Staat wieder lieben gelernt hat und Regulierung für die Rettung hält.
Die Studenten haben im Zeichen der Krise begonnen, sich von den privaten Spitzenunis ab- und den kostenlosen staatlichen Hochschulen zuzuwenden. Harvard muss sich als weltweiter Ranglistenführer zwar noch keine Sorgen um den Andrang machen. Doch die Kreditkrise hat es vor allem für Begabte aus unteren Schichten schwieriger gemacht, die fast 50.000 Dollar aufzubringen, die ein Jahr Harvard kostet. College-Darlehen sind immer schwerer zu bekommen. Die Universität wird also selbst mehr Geld für Stipendien ausgeben müssen und entsprechend weniger für Forschung und Lehre übrig behalten.
Dennoch: Mit einem Stiftungsvermögen von fast 38 Milliarden Dollar – freilich vor dem Crash berechnet – ist Harvard besser gegen die Krise abgeschirmt als der Rest des Landes.
Für sein Personal gilt das zwar im Prinzip auch. Doch wer dieser Tage mit amerikanischen Kollegen beim Lunch sitzt, merkt schnell, daß nicht nur die Armen einer ungewissen Zukunft entgegensehen. Mancher hat in diesen Wochen den Auszug der betrieblichen Alterversorgung erhalten und dabei feststellen müssen, dass in der aktiengestützten Pensionsplanung häßliche Lücken klaffen – bei dem einen sind es 30.000 Dollar, beim älteren Kollegen gar 100.000 Dollar. „Wie macht ihr das eigentlich in Deutschland?“ wird nun mit echtem Interesse gefragt.
Von der Altersplanung bis zur Geopolitik ist es in den Gesprächen dieser Tage nur ein kleiner Schritt: Es ist, als hätte das ganze Land mit der Krise einen ernüchternden Kontoauszug über seinen Stand in der Welt zugestellt bekommen.
Das Gefühl, dass Amerikas globale Reputation auf einem Tiefpunkt ist, schlägt an einem Ort wie Harvard besonders hart durch, weil der Campus in Cambridge eine Begegnungsstätte für die internationale Elite ist. Unterschwellig bestimmt eine bange Frage alle Debatten über internationale Politik: Wie hoch wird der Preis sein, den Amerika – und der gesamte Westen – für diese Krise noch bezahlen müssen? Wie weit wird der geopolitische Machtverlust reichen?
Mancher Fremde spürt den Wandel schon im Campus-Alltag: Die chinesische Journalistin Haili Cao hat in diesem Jahr eines der renommierten Nieman Fellowships für Journalisten inne. Sie hält es für ausgemacht, dass China die Krise des amerikanischen Finanzkapitalismus als Bestätigung des eigenen Weges sehen und größeren Einfluß auf der Weltbühne fordern wird. Für sie selbst macht sich das schon ganz ohne ihr Zutun bemerkbar: Seit Beginn der Krise kommt Haili wesentlich seltener unter Druck, sich für die Demokratiedefizite ihres Landes und für seine Tibet-Politik zu rechtfertigen. Man blickt anders auf China, seit mit dem Finanzdesaster klar geworden ist, wie weit Pekings Einfluß auf seinen Schuldner Washington geht. Das macht Hailis Alltag angenehmer, irritiert sie aber auch, denn die Reporterin ist selbst eine scharfe Kritikerin ihrer Regierung. Wird im Zeichen des Krisen-Realismus, fragt sich Haili Cao, das Engegement für Demokratie und Menschenrechte zum Kollateralschaden der amerikanischen Wertberichtigung?
Die Krise ist die Stunde der wütenden alten Männer, die seit Jahren zunehmend ungeduldig der Selbstzerstörung des amerikanischen Einflusses in der Welt zugesehen haben. Professor Joseph Nye, der ehemalige Dekan der Kennedy School und Erfinder des Konzepts der „sanften Macht“ (soft power), plädiert bei seinen öffentlichen Auftritten in diesem Herbst geradezu flehentlich: „Wir Amerikaner müssen unseren guten Ruf wieder erlangen.“
Der Demokrat Nye steht Obama nahe, für den er auch als Berater arbeitet. Aber der Wunsch nach neuer moralischer Glaubwürdigkeit für Amerika ist überparteilich. Der langjährige demokratische Senator Sam Nunn hat zwei republikanische Aussenminister – Henry Kissinger und George Shultz – für eine globale Abrüstungsinitiative gewonnen. Letzte Woche sagte Nunn in Harvard in seiner Vorlesung: „Wir haben verlernt, unsere vitalen Interessen zu definieren. Wir müssen aufhören, Russen und Chinesen wie zweitrangige Mächte zu behandeln. Wir können sie nicht wie Gegner behandeln und zugleich ihre Kooperation im Kampf gegen Klimawandel, Finanzkrise und Irans Atomrüstung fordern. Und im übrigen machen wir uns etwas vor, wenn wir glauben, wie würden die Iraner bestrafen, indem wir nicht mit ihnen reden.“
Nunn glaubt, Amerika könne nur glaubhaft für einen atomwaffenfreien Iran eintreten, wenn es sich selbst wieder der Abrüstung verschreibe. Nicht nur die studentischen Zuhörer der Kennedy School stimmten enthusiastisch zu, sondern auch der Ehrengast – der fragile 92jährige Robert McNamara, der als Verteidigungsminister Kennedys und Johnsons einst den nuklearen Erstschlag propagiert und den Vietnamkrieg eskaliert hatte. Der Altersradikalismus der weisen Männer und die Sehnsucht der Jungen nach Wandel bilden eine höchst unwahrscheinliche Koalition.
Die Krise führt in Cambridge zu einer Atmosphäre, in der Schmerzhaftes über Amerikas Lage geradezu mutwillig ausgesprochen wird. Heisst das aber auch, dass das Land sich durchringen wird, den Wechsel zu wählen? Ein weißer Student sagt in einer der vielen Debatten über Wahlkampf: „Mag sein, dass manche Weiße Barack Obama wegen seiner Rasse nicht wählen werden. Ich werde ihn gerade darum wählen, weil ich endlich wieder stolz sein will auf mein Land.“ So hoch sind die Erwartung hier, dass sich daraus noch so ein Cambridge-Paradox ergibt: Die Angst vor der Enttäuschung steigt mit jeder guten Nachricht für Obama.
Eine Lust an bitteren Wahrheiten erfüllt Harvard dieser Tage zwischen Krise und Wahl. Ob sie auch dann noch anhält, wenn die Hoffnung auf den Wechsel frustriert werden sollte, steht freilich auf einem anderen Blatt.