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Amerikanisches Krisentagebuch VIII

 

Spam macht ein Comeback. Nicht im Sinne des Email-Mülls – nein, der Fleischersatz, der den belästigenden Emails seinen Namen gab, ist zurück auf amerikanischen Tellern. Die Büchsen der Marke „Crazy Tasty“ kosten $2.40 (bei 340 Gramm Inhalt). Spam ist eine glibberige, rosige, fleischartige Masse („Something posing as meat“, wie es der Volksmund verhöhnt) aus Schinken, zerkochtem Schweinefleisch, Gelatine und Gewürzen. Es wurde während der Great Depression erfunden. Bei Hormel, dem Haupthersteller in Minnesota, werden seit dem Sommer Doppelschichten gefahren. Einen solchen Boom wie jetzt hat man dort seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt.

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Der Bostoner Investment-Riese Fidelity Investments – größte Fondsmanagement-Firma der Welt –  wird bis zum nächsten Frühjahr 3.000 Angestellte entlassen. Das sind 7 Prozent der Belegschaft. Die Firma hat in den letzten Wochen einen 13-prozentigen Wertverlust der von ihr verwalteten Vermögenswerte hinnehmen müssen.

Die Verkausfszahlen für Damendüfte sind in den letzten vier Wochen (verglichen mit dem Vorjahr) um 39 % gefallen. Gefrorenes Gemüse (billiger als frisches) verkaufte sich hingegen um 48 % besser.

Die reichsten Bosse in den USA (die jeweils als Gründer der Firmen große Anteile an den Aktien halten), haben bis zum 27. Oktober 2008 folgende Verluste hinnehmen müssen: Warren Buffett 16 Milliarden Dollar, Larry Ellison (Oracle) 8 Milliarden, Steven Ballmer (Microsoft) 2,5 Milliarden, Jeff Bezos (Amazon) 4,3 Milliarden, Eric Schmidt (Google) 3,4 Milliarden, Rupert Murdoch (News Corp.) 2,5 Milliarden.

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Die LA Times, bei der ich mich wegen einer Archivrecherche angemeldet habe, bietet mit per Mail „großartige Gelegenheiten“ auf dem Immobilienmarkt in Nordkalifornien an. „Neue Enteignungen“ werden auf einer zentralen Auktion angeboten, die man online mitverfolgen kann. Häuser mit einem Listenpreis von 120.000 Dollar werden ab 40.000 Dollar angeboten. (Ich würde mein Auge auf dieses Haus in den Oakland Hills werfen, nahe dem Sequoia Country Club,  das ursprünglich 460.000 kosten sollte und jetzt ab 160.000 zu haben wäre.) Die Krise ist eine gigantische Umverteilungsmaschine. Wer jetzt noch Geld hat, kann Schnäppchen machen.

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Jeder will jetzt ran an den Bail-out-Fund des Henry Paulson. General Motors steht ja schon seit langem Schlange. Die Städte Philadelphia, Phoenix und Atlanta wollen 50 Milliarden Dollar aus dem Fond haben. Philadelphie wird Büchereien und Schwimmbäder schliessen und 2220 städtische Angestellte entlassen, um zu sparen. Aber es reicht hinten und vorne nicht. Die Times meint heute beobachten zu können, dass die Chancen für den größten Autohersteller der Welt sinken, dass er mit Steuergeld aus Paulsons Fond am Leben erhalten werden wird. Die Republikaner wollen die Firma offenbar sterben (Bankrott gehen) lassen. Bei manchen scheint dahinter der Glaube an kapitalistische Prinzipien zu stehen. Schlechte Management-Entscheidung müssen auch vom Markt bestraft werden. Schöpferische Zerstörung ist das A und O eines freien Marktes, etc. Nebenbei hätte die Sache noch den schönen Effekt, dass dem neuen Präsidenten Obama eine nationale Katastrophe in den Schoß fiele, gegen die der 11. September ein Klacks wäre.

Überhaupt interessant in diesen Tagen: Die Selbstzerstörungskräfte unseres Systems sind heutzutage offenbar viel größer als die äußeren Gefahren. Was wir uns durch eine falsche Risikokultur, schlechtes Management und durchgeknallten Konsumismus antun können, kann niemand überbieten, der in einer afghanischen Höhle sitzt.

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Im zweiten Quartal 2008 sind die Benutzerzahlen für öffentliche Verkehrsmittel um 5,2 % angestiegen (wegen der hohen Spritpreise). Bei Straßenbahnen sogar um 12,3 Prozent. Mehrer amerikanische Städte versuchen vom autozentrierten Verkehr umzusteuern auf die Öffentlichen, die meist in den 50er und 60er Jahren aus den Innenstädten eliminiert wurden (teilweise aufgrund von Lobbyarbeit der Autoindustrie). Die Tram, eine amerikanische Erfindung, ist die billigste Möglichkeit, neue Infrastruktur aufzubauen. Allerdings gibt es keine amerikanischen Trambauer mehr. Und darum kommen nun die Europäer zum Zuge, die weltweit Marktführer sind. Siemens hat in diesem Jahr zwei Megaprojekte in USA an Land gezogen: einen $277 Mio Vertrag in Utah, und einen für $184 Mio in Denver.