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Ägypten: Schweinekeulung als antichristlicher Kulturkampf?

 

Ägypten hat unter dem Eindruck der Schweinegrippe damit begonnen, alle Schweine des Landes zu töten. Professor Günter Meyer von der Universität Mainz vermutet hinter der Aktion einen Versuch, der christlichen Minderheit die Lebensgrundlage zu nehmen. Doch auch Muslime halten Schweine in Ägypten.

Aus einer Pressemitteilung der Uni Mainz:

„Bei dem gewaltsamen Widerstand der Müllsammler in Kairo gegen die behördlich angeordnete Schlachtung ihrer Schweine wurden am Sonntag 14 Personen verhaften und zahlreiche Menschen verletzt. Diese Auseinandersetzungen markieren den vorläufigen Höhepunkt der staatlichen Bemühungen, das Ärgernis der Schweinehaltung durch meist christliche Familien in dem überwiegend muslimischen Land zu beseitigen.
 
Professor Meyer, der Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt an der Universität Mainz, untersucht seit den 1980er Jahren die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den sechs Müllsiedlungen am Rande der ägyptischen Metropole. Nach seiner Ansicht „hat die Schweinegrippe nur den willkommenen Anlass für die Entscheidung der ägyptischen Regierung geliefert, den gesamten Schweinebestand des Landes töten zu lassen. Dabei wird die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz von mehr als 150.000 Menschen in Kauf genommen.“
 
Die Weltgesundheitsorganisation hat nachdrücklich unterstrichen, dass von den in Ägypten gehaltenen Schweinen keine Grippegefahr ausgeht. Es ist deshalb offensichtlich, dass die tatsächlichen Gründe für die Massenschlachtung ganz anderer Art sind:
 
Den ägyptischen Behörden waren die überwiegend christlichen Müllsammler schon lange ein Dorn im Auge. Diese erzielen den größten Teil ihre Einkünfte durch die Haltung von Schweinen, die vor allem mit Speiseresten und Küchenabfällen aus wohlhabenden Haushalten gefüttert werden. Für konservative Muslime ist jedoch die Schweinehaltung nicht akzeptabel, da der Koran den Genuss von Schweinefleisch verbietet. „Dass dort Schweine gehalten werden, ist eine Schande für das ganze Land“, bekam der Mainzer Geograph immer wieder zu hören, wenn er außerhalb der Müllsiedlungen seine Untersuchungen erwähnte.
 
Dennoch wurde bisher die Schweinehaltung toleriert, da sonst das gesamte System der Abfallentsorgung in den Stadtteilen der gehobenen Mittel- und Oberschicht zusammengebrochen wäre. Deren relativ wertvolle Haushaltsabfälle sicherten allein in Kairo das wirtschaftliche Überleben von rund 2000 Müllsammlerfamilien.
 
In den letzten Jahren haben sich jedoch mehrere private Großunternehmen der Abfallwirtschaft etabliert, die bisher vor allem den Müll aus den ärmeren Stadtteilen einsammeln. Die dortigen Abfälle enthalten jedoch zu wenig wertvolles Material, das eine profitable Wiederverwertung in modernen Recyclinganlagen lohnt. Diese Unternehmen werden jetzt die großen Gewinner sein, wenn sie auch die Abfallentsorgung in den wohlhabenden Stadtteilen übernehmen können, weil sich dies für die kleinen traditionellen Müllsammlerbetriebe nach dem Wegfall ihrer wichtigsten Einnahmequelle aus der Schweinehaltung nicht mehr lohnt.
 
Vor dem Hintergrund der Vogelgrippe hatte der ägyptische Präsident schon 2008 die Tierhaltung – insbesondere von Geflügel und Schweinen – aus hygienischen Gründen in dicht besiedelten Gebieten verboten. Diese Anordnung ließ sich im vergangenen Jahr nicht durchsetzen. Jetzt dagegen liefert die Schweinegrippe ein scheinbar überzeugendes Argument für die schon lange angestrebte Ausschaltung der Schweinehaltung.
 
Ein weiterer Grund, weshalb sich gerade konservative muslimische Parlamentarier vehement für diese gesetzliche Regelung einsetzen, ist darin zu sehen, dass die Schweinehaltung keineswegs nur von Christen, sondern auch von Muslimen betrieben wird – was in der Regel als schwerer religiöser Frevel angesehen wird. Bei Befragungen jedes zehnten Müllsammlerbetriebes im Großraum Kairo konnte Meyer feststellen, dass rund 20 Prozent der Müllsammlerfamilien Muslime waren, die ebenso wie ihre christlichen Nachbarn Schweine hielten. Auf die erstaunte Frage des Wissenschaftlers, wie dies mit dem Koran in Einklang zu bringen sei, war die Antwort jedes Mal die gleiche: „Der Prophet hat nur den Genuss von Schweinefleisch verboten, nicht die Haltung von Schweinen!“
 
Die Schweinehaltung nimmt als wichtigster Wirtschaftsfaktor eine Schlüsselrolle in dem aktuellen System der Abfallwirtschaft in Kairo ein, dessen Anfänge um 1880 Jahren zu suchen sind. Damals ließen sich völlig verarmte Zuwanderer aus den Oasen in der Westlichen Wüste in Kairo nieder. Die Wahis, d.h. „die Leute aus den Oasen“ sicherten ihr wirtschaftliches Überleben, indem sie die Abfälle aus den Haushalten der reichen Oberschicht einsammelten und dafür eine Gebühr erhielten. Außerdem verkauften sie das brennbare Material vor allem an öffentliche Badehäuser zum Erhitzen des Badewassers. In den 1920er Jahren gingen jedoch immer mehr Badehäuser dazu über, Heizöl statt Abfällen als Brennmaterial einzusetzen. Damit verloren die Wahis eine ihrer wichtigsten Einnahmequelle.
 
In dieser Phase strömten zahlreiche koptische Migranten aus christlichen Dörfern in Mittelägypten nach Kairo. Sie erkannten die Möglichkeit, die Küchenabfälle der Reichen als Schweinefutter zu nutzen. Nur zu gern traten die Wahis – gegen Entgelt – die mühselige Schmutzarbeit des aktiven Sammelns und Aufbereitens der Abfälle an die mittellosen koptischen Neuankömmlinge ab, die ihr wirtschaftliches Überleben durch die Schweinehaltung sicherten. Die Wahis kassieren jedoch nach wie vor die Gebühren für die Müllabfuhr von den jeweiligen Haushalten – für eine Leistung, die nicht von ihnen, sondern von den Zabbalin, den „Schweinehaltern“, erbracht wird.
 
Zur Sicherung ihrer lukrativen Pfründe schlossen sich die Wahis in einem öffentlich registrierten Müllkontraktoren-Verband zusammen. Als Mitglieder sind nur Personen zugelassen, die in fünf Dörfern der Dachla-Oase geboren sind, und deren Nachkommen. Dem Verband gelang es noch bis vor wenigen Jahren – zum Teil mit gewaltsamen Methoden – alle Konkurrenten abzuwehren, die sich ebenfalls in diesem einträglichen Abfallsektor etablieren wollten. Nur bei der Gruppe der Hausbesitzer gelang ihnen das nicht.“

(p.s. Professor Meyer ergänzt:)

In der Praxis funktioniert das System der Müllabfuhr in Kairo folgendermaßen: Wird ein Apartmentgebäude für relativ einkommensstarke Bewohner errichtet, so verkauft der Hausbesitzer das Recht auf Müllabfuhr an einen Müllkontraktor. Dieser kassiert in Zukunft die Gebühr für die Müllabfuhr von allen Haushalten des betreffenden Wohngebäudes. Außerdem erhält er einen einmaligen Betrag von dem Müllsammler, der damit das Recht hat, fortan den Abfall täglich aus den Haushalten abzuholen und zu verwerten.
Wie Meyer bei seinen Untersuchungen zeigen konnte, beziehen die Müllsammlerfamilien im Durchschnitt zwei Drittel ihrer Einkünfte aus dem Verkauf ihrer Schweine. Die übrigen Einnahmen stammen aus dem Verkauf des Schweinemistes und der Altmaterialien. Nachdem die aktuelle Wirtschaftskrise bereits zu einem Preisverfall bei den Altmaterialien geführt hat, bedeutet die staatlich verordnete Aufgabe der Schweinehaltung für die Zabbalin die Vernichtung ihrer wirtschaftlichen Existenz. Erschwerend kommt hinzu, dass die angekündigten Entschädigungszahlungen für die geschlachteten Schweine nur etwa halb so hoch sind, wie die bisherigen Marktpreise.
Angesichts des drohenden Verlustes ihrer Lebensgrundlage ist es nur zu verständlich, dass sich die Müllsammler in ihrer Verzweiflung gewaltsam gegen die Tötung ihrer Tiere wehren und in der größten Müllsiedlung Manshiet Nasser die Sicherheitskräfte mit Steinen und Flaschen angegriffen haben. Allein in diesem Viertel werden rund 65.000 Schweine gehalten, die bisher ein wirtschaftliches Überleben für mehr als 50.000 Menschen sicherten.
Betroffen sind auch Tausende von Kleinbetrieben, die sich auf das Recyceln der Abfälle spezialisiert haben. Es bedeutet auch das Ende dieser Kleinbetriebe, wenn nach dem Ausscheiden der traditionellen Müllsammler die Großunternehmen mit ihren modernen Recycling-Anlagen die Abfallentsorgung übernehmen. Als Folge der Vernichtung der ägyptischen Schweinebestände werden mehr als 150.000 Menschen ihre wirtschaftliche Existenz verlieren.”