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Die Zumutung der Einwanderung

 

Paul Scheffer ist ein Pionier des Nachdenkens über Einwanderung und Integration. Sein Essay über „Das multikulturelle Drama“ in unseren Städten ist vor genau zehn Jahren erschienen. (Eine deutsche Version, allerdings gekürzt, hier.) Vieles von dem, was Scheffer 2000 beschrieben und analysiert hat, ist uns in der vergangenen Dekade zum täglichen Thema geworden: Segregation, Selbstabschottung, Extremismus im Namen des Islam, der Aufstieg des Rechtspopulismus.

Heute morgen habe ich Paul Scheffer in Triest getroffen. Bei einer Tagung der Bundeszentrale für politische Bildung hielt er einen Vortrag über die Einwanderungsgesellschaft und ihre Konflikte – und was dies für eine Herausforderung für alle europäischen Gesellschaften bedeutet. Beim Frühstück hatten wir Gelegenheit, über die Lage in den Niederlanden zu reden, in der die etablierten Parteien auf einen Zustand der Unregierbarkeit zusteuern. (Ich war der Moderator der anschließenden Diskussion.)

Paul Scheffer wäre eigentlich der Denker der Stunde, finde ich, weil er als erster ein Modell entwickelt hat für die Prozesse, die in allen Einwanderungsgesellschaften unvermeidbar ablaufen. Diese Konflikte – und dazu dient ja auch ein Blog wie dieses hier (in den guten Momenten) – müssen wir annehmen und als etwas (möglicherweise) Produktives anzusehen lernen, statt sie vermeiden zu wollen, weil sie oft genug hässlich sind.

Scheffer sagt, in allen von ihm studierten Einwanderungsprozessen findet sich das Muster segregation – avoidance – conflict – accomodation. Also etwa: Segregation, Vermeidung, Konflikt, Verständigung. Unzweifelhaft stecken wir mitten in der Konfliktphase. (Was allerdings leider nicht bedeutet, dass die Segregation aufgehört hat. Sie geht parallel weiter und lässt künftige Konflikte ahnen.)

Die Segregationsphase zeichnet sich dadurch aus, dass sowohl die Immigranten, als auch die aufnehmende Umwelt unter sich bleiben wollen. Die Bildung von ethnischen Kolonien hat Vorteile für Neuankömmlinge ebenso wie für die Aufnahmegesellschaft: Sie reduziert die Kosten und den Stress. Die Einwanderer finden billigen Wohnraum und Netzwerke, die sie tragen, die Einheimischen bleiben von sozialem und kulturellem Wandel verschont – und von Konkurrenz. Man meidet sich wechselseitig, unterstützt oft durch gezielte Separationspolitik (Wohnungsbau, Schulwesen).

In dieser Phase klammern sich beide Seiten an „den Mythos der Rückkehr“.

Wenn dieser nun zusammenbricht, sagt Scheffer, (und die Einwanderer sich eingestehen, dass sie welche sind und damit das Einwanderungsland zwingen zuzugeben, dass es eines ist), ist nicht plötzlich alles gut, weil man sich nun ehrlich gemacht hat. Im Gegenteil: Vermeidung ist jetzt unmöglich geworden, man sitzt im gleichen Boot und sieht einer gemeinsamen Zukunft ins Auge, die man vorher beidseitig geleugnet hat. Jetzt kommt es zum Konflikt, weil man sich genauer anschaut und sich fragt: Was, mit denen sollen wir ein WIR bilden? Jetzt wird das Andere des anderen zum Problem.

Und jetzt muss neu verhandelt werden, was daran akzeptabel ist und was nicht. Das bedeutet accomodation: Nicht Hinnahme des Anderen per se als gut und wunderbar und bereichernd, sondern lange und zähe Verhandlung über ein neues Wir. Wechselseitige Vorwürfe und Unterstellungen gehören notwendig dazu. Extremes Mißtrauen auch: Die Iren in Amerika haben 120 Jahre gebraucht, bis sie einen Präsidenten stellen durften, und JFK musste an jeden Tag seines Wahlkampfes klarmachen, dass seine Loyalität nicht Rom galt, sondern der Verfassung der USA. (Erinnert an etwas, nicht wahr?)

Scheffer ist einer der ersten Kritiker des Begriffs der Multikulturalität, weil er diesen Begriff schlicht für eine Falle und im Effekt für rassistisch hält: Er sperrt eine ganze Gruppe in ein Konzept von „Kultur“ ein, er errichtet die Schranken, die er eigentlich überwinden will. Der Begriff der Multikulturalität stammt aus der Phase der Vermeidung, die wir nolens volens überwunden haben – die Phase, in der man sich wechselseitig keine Fragen stellte.

Ohne ein gemeinsames Wir, das auch gemeinsame Werte und Regeln beinhaltet, kann eine ausdifferenzierte Gesellschaft nicht überleben, ja sie kann noch nicht einmal ordentlich miteinander streiten. Paul hat auch ein anschauliches Beispiel für gelungene Integration in ein neues Wir. In einer Diskussion mit Haci Karacer von der Milli Görüs über die niederländische Rolle in Srebrenica kam es zu dem Punkt, dass Karacer Scheffer sagte: „Wir haben in Srebrenica versagt!“ Dass der konservative Amsterdamer  Muslim von den holländischen Soldaten in diesem Plural sprach, war ein Zeichen dafür, dass er sich mit dem Land identifizierte – und das bedeutet eben auch mit den Schattenseiten und dem Versagen.

Bei dem neuen Wir geht es um geteilte Verantwortung für eine gemeinsame Zukunft, nicht bloß um das Wissen um die Geschichte, das politische System, die holländischen Werte etc.

Für ein solches Wir braucht man aber bestimmte Fähigkeiten. Darum reden wir jetzt seit Jahren darüber, dass die Landessprache so existenziell wichtig ist.  Und darum ist es mir auch nach wie vor unverständlich, wieso türkische Lobbygruppen allen Ernstes gegen die Sprachtests für Neueinwanderer protestieren können, als wäre das eine fiese Schikane. Wer so agiert, schürt den Verdacht, er habe an der Teilhabe in dieser Gesellschaft, die nur durch Sprache möglich wird, kein Interesse – und so ist ja leider auch bei vielen der Eingeheirateten.

Auf solchen Voraussetzungen zu insistieren ist die Pflicht aller, die an diesem Wir interessiert sind. Es kann, so argumentierte Scheffer, nicht durch Kompromisse entstehen – durch ein Treffen in der Mitte – dieses Wir. Kein „middle ground“, bei dem sich alle ein bisschen aufeinander zu bewegen. In einer Stadt wie Amsterdam (oder Berlin, oder Stuttgart) mit über 100 Herkunftskulturen gibt es keinen „middle ground“, den man per Kompromiss finden könnte.

Für die Einwanderer heißt das auch, dass es keinen automatischen Anspruch auf „Respekt“ für ihre Eigenheiten gibt. Wer die Vorurteile der Einheimischen anprangert, wird automatisch mit seinen eigenen konfrontiert werden. Eine Religionsgemeinschaft, die Religionsfreiheit in Anspruch nimmt, wird sofort mit der Frage konfrontiert, wie sie es denn selbst mit den Grundfreiheiten hält. Das Gesetz der Reziprozität ist unerbittlich. Es trifft allerdings auch die Mehrheitsgesellschaft. Wenn sie die grundlegenden Freiheiten einer Minderheit beschneidet (Minarettverbot), wird sie es schwer haben, ihrerseits glaubwürdig die Treue zu den Grundwerten zu verlangen. Das Minarettverbot ist kein Beispiel dafür, wie eine Gesellschaft ein ein neues Wir aushandelt. Das Burkaverbot ist ein anderer Fall, weil es hier um ein allgemeines Gesetz geht, das den gleichberechtigten Verkehr in der Öffentlichkeit gerade ermöglichen will. (Jedenfalls auf dem Papier.)

Paul Scheffer hat in seinem Vortrag noch viel mehr Punkte gestreift, die ich hier nicht erwähnen kann.

Er macht sich Sorgen um die wachsende Segregation in den Städten und  Schulen seines Landes. In Deutschland sieht es nicht besser aus.

Und er sorgt sich um die größer werdende Schere zwischen dem Kosmopolitismus einer Elite und dem „tribalism of the locals“ – womit sowohl die Einwanderer als die Unterschichten gemeint sind, die mit ihnen zusammen leben müssen. Ein immer wiederkehrender Gedanke in seinen Schriften: Die Gefühle von Verlust und Angst, die durch den Wandel ausgelöst werden – auch bei den Alteingesessenen, dürfen nicht einfach abgetan und diskreditiert werden. Ein falsch verstandener Kosmopolitismus kann den Populismus der einfachen Antworten auf die Fragen der Einwanderungsgesellschaft befördern, gerade weil er die Schmerzen nicht ernst nimmt. Die Spaltung der Gesellschaft in eine Caffelatte-Fraktion derjenigen, die alles als Bereicherung begrüßen, was die Filterkaffetrinker als Zumutung empfinden, wäre fatal. Sie ist schon weit vorangeschritten, wie die Sarrazin-Debatte hierzulande zeigt.

Das ist eine Gefahr unserer Debatte über Sarrazin (die ich hier im Eifer wahrlich auch nicht immer vermieden habe): dass man bei der Kritik an seinen Argumenten und an dem Ton mancher seiner Fans die rationalen Ängste und Befürchtungen überspringt, die in der Debatte berücksichtigt und bearbeitet werden müssen.

Die politische Mitte trägt nicht mehr, wenn sie das nicht vermag. Das ist ein Phänomen überall in der westlichen Welt – in den Niederlanden derzeit besonders dramatisch. Scheffer glaubt, dass das politische System in seinem Land überhaupt nicht auf die Herausforderung eingestellt ist, die Balance zwischen „heritage and openness“ (Erbe und Offenheit) und „tolerance and belonging“ (Toleranz und Bindung“) neu auszutarieren. Aber das ist kein Den Haager Problem. Morgen ist Geert Wilders in Berlin.