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Deutschsein kann man lernen

 

Meine wärmste Leseempfehlung für das neue Buch von Zafer Şenocak (aus der ZEIT von morgen):

Ein verblüffendes Buch. Poetisch, grübelnd und doch hochpolitisch. Deutschsein ist ein Beitrag zur leidigen »Integrationsdebatte« – erstaunlicherweise in der Form einer Liebeserklärung. Hier will einer wissen, warum »ein attraktives Land sich hässlich macht«.
Selten hat ein Autor in jüngerer Zeit so warmherzig über die Deutschen geschrieben wie der Dichter Zafer Şenocak, der mit acht Jahren aus Istanbul nach Oberbayern kam, in München aufwuchs und seit zwei Jahrzehnten Berliner ist. Er erzählt von seiner »Geborgenheit« als Kind in Bayern, von der Liebe zur Sprache Thomas Manns, Ingeborg Bachmanns und Paul Celans. Er nennt es ein »Privileg«, in Deutschland zu leben.
Dies Buch handelt also von der Liebe des Einwanderers zu seinem Deutschland, die heute oft nicht erwidert wird. Şenocak bringt den Blick derjenigen zur Sprache, über die heute in unseren Debatten viel geredet wird: die Türken, die Muslime als das andere schlechthin. Er fragt sich besorgt, was mit den Deutschen los ist, zu deren Selbstverständigung diese Debatten ja dienen sollen. Es gibt nicht einen einzigen schiefen, selbstgerechten, vorwurfsvollen Ton in diesem Buch. Im gegenwärtigen Meinungsklima wirkt das befreiend.
Schon Urgroßvater Şenocak trug den Werther neben dem Koran im Tornister, als er fürs Osmanische Reich in den Ersten Weltkrieg zog. Und der Vater kam als frommer, doch moderner Türke, der von preußischen Tugenden besessen war, nach Deutschland. Die Mutter war eine begeisterte Lehrerin, die von Atatürks Reformen profitierte. Der Westen war kein Feindbild. Im Gegenteil, seine universalen Werte öffneten den Weg aus der Entmündigung durch die Tra­di­tion. Die Modernisierungsgeschichten dieser Menschen, die unser Land mit geprägt haben, kommen in Deutschlands Selbstbild bisher nicht vor. Ebenso wenig wie diejenigen, die heute unter den Bedingungen der Freiheit des Westens einen neuen Aufbruch in die islamische Spiritualität versuchen. Eine grobschlächtige »Islamkritik« stellt sie unter Verdacht. Wer aber Frauen im Namen der Religion unterdrücke, stelle sich nicht nur außerhalb westlicher Werte, sondern auch der türkischen Modernisierungsgeschichte, sagt Şenocak.
Die stärksten Passagen seines Buches handeln von den Schwierigkeiten der Einheimischen mit dem Deutschsein. Mit großem Einfühlungsvermögen schreibt er von der »speziellen Brüchigkeit und Verletzlichkeit der deutschen Identität«. Er vermutet, dass die Deutschen in letzter Zeit auch deshalb so viel vom Fremden und von seiner fremden Kultur und Religion reden, weil sie selbst nur in »gebrochenem Deutsch« übers Deutschsein reden könnten. Als Einwandererkind habe er erlebt, dass die Deutschen »auch heimatlos waren in diesen Aufbaujahren der Bundesrepublik«.
Ihre schöne Sprache sei mit Schuld beladen gewesen: die stärksten Wörter »außer Atem oder gar in Leichentüchern« – wie Heil, Blut, Volk. Heute trifft eine gehemmte Sehnsucht nach Heimat und Zugehörigkeit bei den Einheimischen auf die Modernisierungskrise der eingewanderten Muslime. Integration würde bedeuten, dass beide Seiten ihren Anteil an der Krise des deutschen Nationalgefühls er­kennen.
Was heißt es eigentlich, dass Deutschland Einwanderungsland geworden ist? »Es bedeutet, dass auch die Deutschen in ihr eigenes Land einwandern müssen.«

„Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift“. edition Körber Stiftung, 190 Seiten, 16 €.