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Solidarität statt Selbstgerechtigkeit

 

Eigentlich wollte ich den 9. November unkommentiert verstreichen lassen, berichteten doch nicht nur alle deutschen, sondern auch viele ausländische Medien über den 25. Jahrestag des Mauerfalls. Doch meine Freunde vom telegraph forderten mich auf, für ihre Jubiläumsausgabe einen Beitrag zum Thema Geheimdienste beizusteuern. Der telegraph nimmt für sich in Anspruch, „die letzte authentische Zeitschrift der linken DDR-Opposition“ zu sein, „unbestechlich, unbequem, kritisch, behörden- und unternehmerunfreundlich – Eigenschaften, die vielen heute prominenten sogenannten DDR-Bürgerrechtlern gründlich abhanden gekommen sind“.

Ich bin der Redaktion erstmals kurz nach der Wiedervereinigung als junger Anwalt im damaligen Haus der Demokratie und Menschenrechte in der Friedrichstraße 165 begegnet, dem ehemaligen Hauptquartier der SED-Kreisleitung in Berlin. Dort hatte ich gemeinsam mit meinen Kollegen Räume im ersten Stock bezogen, gegenüber dem Büro des Bürgerkomitees 15. Januar und der Redaktion von Horch und Guck, zwei Stockwerke unter dem Neuen Forum. Als Rechtsanwälte vertraten wir seinerzeit nicht nur Opfer rechtsradikaler Gewalt in den neuen Bundesländern. Wir unterstützten auch Stasi-Opfer bei der Akteneinsicht, begleiteten sie in die Stasi-Archive und erörterten mit ihnen rechtliche Möglichkeiten, namentlich die Einleitung von Strafverfahren und die Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche.

Wir Westanwälte hatten wenig mehr als Zeitungswissen über das Ausmaß und die Alltäglichkeit von Überwachung und Repression durch die Staatssicherheit in der DDR. Und so hörten wir Geschichten über Geschichten von denen, die vor 1989 viel riskiert hatten, um eine andere Kultur oder eine andere Politik zu leben. Es waren mitunter Kleinigkeiten wie lange Haare oder ein A mit einem Kreis darum, die zu Verfolgung führten. Ich vertrat auch Schwule, die zum Teil Jahre in Haft saßen, wegen sogenannten asozialen Verhaltens, und natürlich viele Menschen, die aufgrund ihres politischen Engagements ins Visier der Staatsmacht gerieten.

So weit, so schlecht – und so lehrreich für mich. Ich begriff damals, dass wir als undogmatische Westlinke vehementer und früher Position hätten beziehen müssen. Denn es waren eben nicht nur die DDR-Bürokraten auf der einen und die Antikommunisten auf der anderen Seite, Eduard Schnitzler (Der schwarze Kanal) versus Gerhard Löwenthal (Deutschlandmagazin). Es waren Leute, die wie wir leben und Politik machen wollten, die wir hätten unterstützen müssen. Hätten wir das früher verstanden, hätten wir uns früher mit ihnen zusammengeschlossen, dann hätten wir vielleicht gemeinsam die kleine politische Chance nach dem Mauerfall nutzen können, über die heute nur noch wenige reden: Die Chance, für eine wirkliche Alternative zum Nominalsozialismus, aber auch zum neoliberalen Kapitalismus zu kämpfen.

Stattdessen stehen wir vor einem ökonomischen und politischen Weltsystem, in dem die Nord- und Mitteleuropäer und die Nordamerikaner sich selbstgerecht dafür feiern, mit den Profiten, die sie im Rest der Welt erwirtschaften, Gesellschaften zu unterhalten, in denen ja tatsächlich sowohl historisch als auch im Weltmaßstab vergleichsweise hohe Lebensstandards und vergleichsweise demokratische Zustände herrschen. Der Preis dafür aber sind verheerende Zustände in vielen Teilen der Welt, nicht zuletzt an den Rändern unseres Kontinentes.

Doch kein Lamento über verpasste Chancen soll dies sein. Vielmehr eine Aufforderung an uns alle, Solidarität mit denen zu üben, die heute jenseits der Mauern leben, die wir – wenn auch nicht selbst errichten – jedenfalls nicht genügend bekämpfen.

Wolfgang Kaleck ist Berliner Rechtsanwalt und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Kaleck hat sich in den vergangenen Jahren mit Menschenrechtsverletzungen in Argentinien bis Abu Ghraib und Kolumbien bis Philippinen beschäftigt; aktuell ist der NSA-Whistleblower Edward Snowden einer seiner Mandanten.