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Vor wenig mehr als 50 Jahren…

 

Eine spannende Begegnung in London, in der vergangenen Woche: Mark Sealy, Direktor der Vereinigung schwarzer Fotografen (ABP), führt mich durch die von ihm kuratierte Ausstellung „Human Rights Human Wrongs“. Sealy hat aus den mehr als 290.000 Fotos der Black Star-Collection auswählen dürfen. Black Star wurde 1935 in New York von den exilierten jüdischen Fotografen Ernest Mayer, Kurt Safranski und Kurt Kornfeld gegründet und belieferte viele Zeitschriften mit mittlerweile legendären Schwarz-Weiß-Aufnahmen, vor allem das Life-Nachrichtenmagazin.

Im Foyer der Photographer’s Gallery lesen Dutzende von Schülerinnen die dort an die Wand geschriebenen Artikel der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948. Sealy stellt Artikel 6 in den Mittelpunkt seines eigenen Vortrags: „Jeder hat das Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden.“

Die Allgemeine Menschenrechtserklärung als Gegenmodell zur Barbarei der Nazis – das ist eine weit verbreitete Lesart dieses epochalen Normprogrammes von 1948. Doch Sealy wählt einen anderen Zugang, einen aus der postkolonialen Theorie – die etwas andere Geschichte des Zweiten Weltkrieges, die der sogenannten Dritten Welt im Zweiten Weltkrieg.

Um Hitler-Deutschland zu besiegen, mobilisierten die Alliierten auch ihre Kolonien. So standen auf der Seite der alliierten Sieger zahlreiche andere Staaten, die ebenfalls einen hohen Blutzoll zur Befreiung der Welt vom Faschismus leisteten. Und in den Reihen der französischen, englischen und US-amerikanischen Armeen kämpften Abertausende Schwarze aus den USA, aus Kamerun oder Algerien. Sie alle waren inspiriert von der egalitären und antirassistischen Rhetorik der Alliierten.

Selbstbewusst und um Kampferfahrung reicher, wollten sie nach dem Krieg die Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker als universale Prinzipien durchsetzen. Doch das Erwachen hätte nicht böser sein können: In Thiaroye bei Dakar wurden 1944 bei einer Demonstration heimgekehrter senegalesischer Soldaten, die mit den Franzosen gekämpft hatten, Dutzende von ehemaligen Weltkriegskämpfern von französischen Truppen erschossen oder verletzt. Noch Schlimmeres spielte sich in Algerien ab, wo die französische Kolonialarmee brutal auf Siegesfeiern am 8. Mai 1945 reagierte und in nur einem Monat Zehntausende Algerier tötete.

Die gewaltsame Unterdrückung der aufstrebenden Befreiungsbewegungen in französischen, britischen, belgischen und holländischen Kolonien kostete bis zur Entkolonialisierung noch Millionen Menschen aus Afrika und Asien ihr Leben. In der Ausstellung in London sind nun Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Folterungen, rassistischer Gewalt und geschändeten Körpern zu sehen – Folgen dieser westlichen Bigotterie.

Dazwischen bedrückende Fotos aus dem Süden der USA, Schilder mit der Aufschrift „Nigger, you cannot vote“ etwa, oder Polizisten die auf schwarze Demonstranten einschlagen: Weiße mit Schlagstöcken auf unbewaffnete Schwarze einprügelnd; weiße Männer, die an Autos lehnen und in deren Gesichtern der Wille zur Gewalt ebenso wie die Verunsicherung ob der kommenden Zeit zu lesen sind.

Doch der Widerstand formiert sich schon: die Bürgerrechtsbewegung in den USA, immer wieder Bilder von Martin Luther King und nicht zuletzt die beeindruckende Szene, in der ein junger schwarzer Mann am 29. Juni 1960 während eines Autokorsos dem in seiner Staatskarosse in weißer Uniform stehenden belgischen König Baudouin I. sein Zeremonienschwert abnimmt, den Inbegriff kolonialer und patriarchaler Macht. Entmachtet die Belgier, jedenfalls für einen Moment!

Die ehemaligen Kolonialherren schlagen indes zurück: Der belgische König preist an diesem Tag in seiner Rede seinen Großonkel, den kolonialen Massenmörder König Leopold II. Diese Ansprache erwidert der gewählte Präsident des jungen Kongos, Patrice Lumumba mit einer leidenschaftlichen antikolonialen Rede – und besiegelt damit sein Todesurteil: Sieben Monate später, am 17. Januar 1961, wird Lumumba unter Mitwirkung der Belgier von seinen Widersachern ermordet.

All das geschah vor wenig mehr als fünfzig Jahren und wird, wie viele andere der auf den Bildern der Ausstellung dargestellten Ereignisse, allzu oft vergessen – es ist das Verdienst Mark Sealys, diesem für das Verständnis der Gegenwart so verhängnisvollen Vergessen entgegenzuwirken.