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Thomas Middelhoff ist nicht der einzige Häftling, der leidet

 

Warum bedarf es eigentlich eines Thomas Middelhoff oder eines Uli Hoeneß, damit sich eine breitere Öffentlichkeit für das Innenleben deutscher Gefängnisse interessiert? Es wäre schön, wenn nicht nur Voyeurismus dieses Interesse leiten würde. Schön wäre es zudem, wenn das Interesse sich auch auf die Schicksale der weniger prominenten Häftlinge erstrecken würde, der Zehntausenden von Untersuchungs- und Strafhäftlingen. Auch die Zustände in anderen geschlossenen Einrichtungen wie den Alters- und Pflegeheimen oder in der Psychiatrie finden nur selten große Aufmerksamkeit. Man horcht nur hin, wenn Spektakuläres passiert. Also will ich diese rare Gelegenheit nutzen.

Der Fall von Uli Hoeneß weckte vor allem die niederen Instinkte der Boulevardmedien: Wie groß ist seine Zelle? Welche Vergünstigungen erhält er? Kann er die Champions-League-Spiele seines FC Bayern live schauen, obwohl sie zur Nachtzeit stattfinden? Diejenigen, die Hoeneß für sein Lebenswerk verteidigten und vor diesen medialen Angriffen in Schutz nahmen, schauten weniger auf die Zustände in bayrischen Haftanstalten und seine Mithäftlinge, obwohl die es verdient hätten. Empathie empfanden sie nur für den ihnen bekannten Insassen.

Warum wurden so wenige grundsätzliche Fragen gestellt, obwohl sich einige aufdrängt hätten? Welchen Sinn hat die Gefängnisstrafe im Allgemeinen – und im Besonderen im Falle des bestens in die Gesellschaft integrierten Hoeneß? Sind wir da nicht einem Automatismus von Strafen verfallen? Schadet das Gefängnis nicht mehr als es nützt – dem Einzelnen ohnehin, aber auch der Gesellschaft in deren Namen Menschen Haft verbüßen?

Diese Fragen hat niemand gestellt. Das Licht, das für einen kurzen Moment auf den Strafvollzug gerichtet war, war keines der Aufklärung. Wenn man sich der Frage nach dem Zweck der gesamten Institution nicht stellen mag, warum nehmen nicht wenigstens mehr Leute Anstoß daran, dass die Verhältnisse auch in deutschen Gefängnissen – von den viel schlimmeren anderswo auf der Welt gar nicht zu reden –  nicht dazu dienen, dass die Menschen die dort einsitzen als Bessere, als Geläuterte herauskommen.

Warum herrschen stattdessen Bedingungen, angesichts derer die Häftlinge von Glück reden können, wenn der in Haft angerichtete Schaden – der Verlust von Freunden und Familien, der berufliche und gesellschaftliche Abstieg, der Schaden an körperlicher und geistiger Gesundheit – nicht zu groß wird? Nein, darüber redet niemand.

Im Fall von Thomas Middelhoff werden immerhin die psychischen und körperlichen Schäden durch die Haft ausführlich diskutiert. Um einen Suizid zu verhindern, wurde 28 Tage lang alle 15 Minuten das Licht in seiner Zelle eingeschaltet, was es Middelhoff laut seinen Anwälten unmöglich machte, zu schlafen. Dass eine solche Behandlung unmenschlich ist, sollte außer Frage stehen. Doch der eigentliche Skandal ist, dass es des Falles Middelhoff bedurfte, um diese Praktik ins Licht der Öffentlichkeit zu bringen, die laut dem Vorsitzenden der Gewerkschaft Strafvollzug in Nordrhein-Westfalen allein in der JVA Essen im Schnitt bei 20 bis 30 Häftlingen gleichzeitig angewandt wird.

Im Fall Middelhoff, der sich ja nicht von dem vieler anderer Häftlinge unterscheidet, drängt sich noch eine weitere Frage auf: Warum muss jemand, der erstmals zu einer Haftstrafe verurteilt wird, der gegen diese Strafe Rechtsmittel eingelegt hat, bei einer Strafhöhe von drei Jahren eigentlich seit fünf Monaten in Untersuchungshaft sitzen? Selbst wenn es bei der verhängten Strafe bleibt, wird vermutlich nur die Hälfte oder zwei Drittel verbüßen, und die im Offenen Vollzug. Was hat so jemand fünf Monate lang in einer Untersuchungshaftanstalt zu suchen?

Nichts hat er da zu suchen – genauso wenig wie viele andere Untersuchungshäftlinge. Wir sollten keine Freude, auch keine klammheimliche, über den tiefen Fall von Menschen empfinden, die uns nicht sympathisch sein müssen und die möglicherweise viel Kritik ob ihrer Geschäfte verdienen. Ich wünsche beiden, dass sie so schnell wie möglich auf freien Fuß gelangen und ich wünschte mir, dass sie dann aufgrund ihrer Erfahrungen in Zukunft Solidarität für die weniger prominenten Menschen zeigen, die weniger Zugänge zu guten Anwälten und Medien haben und deren Schicksal meist niemanden interessiert.

Wolfgang Kaleck ist Berliner Rechtsanwalt und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Kaleck hat sich in den vergangenen Jahren mit Menschenrechtsverletzungen in Argentinien bis Abu Ghraib und Kolumbien bis Philippinen beschäftigt; aktuell ist der NSA-Whistleblower Edward Snowden einer seiner Mandanten.