„Das sind sie, holt sie euch!“, riefen die rund 30 vermummten Angreifer, als sie am vergangenen Samstag auf die Besucher einer Geburtstags-Grillparty an der Stroginskij-Brücke im Nord-Westen Moskaus zustürmten. Sie riefen Nazi-Parolen und schlugen auf jeden ein, der nicht schnell genug wegrennen konnte. Am Ende blieb der 27-jährige Student Dmitrij Kashizyn erstochen liegen. Opfer des rechten Angriffs wurden die jungen Leute offenbar allein deshalb, weil sie äußerlich der alternativen Musikszene zuzuordnen waren.
Das Mädchen, das an dem Abend mit Freunden seinen Geburtstag feierte, schildert im Internet die dramatischen Szenen:
„Einer der Typen schoss mit einer Pistole, wahrscheinlich einer Schreckschusspistole. Ich hörte mindestens drei Schüsse. Wir sind dann abgehauen und in verschiedene Richtungen gerannt. Das Geschrei und der Lärm dauerten ungefähr zwei Minuten und verstummten dann. Als wir zurückkehrten, sahen wir, dass einer von uns es nicht geschafft hat wegzulaufen. Es war mein Freund Dmitrij Kashizyn. Er sah schlimm aus: sein Gesicht und Kopf waren zerschlagen, die Hand verdreht, und sein Rücken übersät mit Messerstichen. So wie er aussah, wurde er mehrmals von hinten in der Nähe des Herzens mit einem langen, dünnen Messer getroffen.“
Die Freunde von Dmitrij Kashizyn betonen, dass er nichts mit Politik zu tun gehabt habe. Was ihn sein Leben gekostet hat, war offensichtlich nur, dass er Hardcore- und Punkmusik mochte und tätowiert war. Sie bitten jetzt um Spenden für die Familie des Toten.
Brutale Szenen, wie die vom Samstag und die ständige Furcht, von Neonazis angegriffen zu werden, sind für den Moskauer Pavel Kuraev und seinen Freundeskreis nicht neu. Sie tragen Nietengürtel und abgewetzte Turnschuhe, ihre Haare sind gefärbt und ihre Arme von bunten Tattoos bedeckt. Lachend laufen sie die lang gezogenen Rolltreppen hinauf. In Berlin, London oder New York würden sie wahrscheinlich kaum auffallen, doch hier in den endlosen Moskauer U-Bahnstationen ernten sie reihenweise skeptische Blicke. Für das schrille Erscheinungsbild hat in Russland kaum jemand Verständnis.
Doch daran haben sich die sieben Punkfans schon lange gewöhnt. Äußerlich unterscheidet sie kaum etwas von alternativen Jugendliche in Europa oder den USA. Die Globalisierung hat auch vor der Punkszene nicht Halt gemacht. Über das Internet bestellen sie die neusten CDs und T-Shirts ihrer Lieblingsbands. Ausgelassen unterhalten sie sich über die neusten Punkalben und über das letzte Konzert bei dem sie gemeinsam waren, während sie durch die breiten Gänge schlendern.
Doch plötzlich ändert sich die Stimmung. Die Jungs verstummen, ihr Blick wird ernst. Auf der gegenüberliegenden Rolltreppe kommt ihnen ein kahlgeschorener Mann in sportlicher Hooligankleidung entgegen. Mit scharfem Blick musterte er die Gruppe. „Hatemachine“ prangt auf seinem T-Shirt, der Name einer amerikanischen Neonaziband. Schnellen Schrittes gehen die Punks weiter und steigen zügig in die U-Bahn. „Der hatte mit Sicherheit ein Messer dabei“, sagt Kuraev. „Und er würde es auch ohne zu zögern benutzen“. Ein Leben als Punkrocker in Russland kann tödlich sein. Der 20-Jährige weiß wovon er redet. Erst im November wurde in Moskau ein Freund von ihm von Neonazis vor der eigenen Haustür erschossen. Zwei Schüsse trafen ihn aus nächster Nähe in den Hinterkopf. Der 26-Jährige Iwan Chutorskoi gehörte zu den antirassistisch aktiven „Red and Anarchist Skinheads“ und organisierte mit anderen Punks und Skinheads den Schutz bei linken Konzerten, die häufig von militanten Neonazis angegriffen werden. Fast jeder in der überschaubaren Moskauer Punkszene kannte ihn.
Brutale Angriffe auf Menschen ausländischer Herkunft, Journalisten, Gewerkschafter und andere politische Gegner des rechtsextremen Spektrums gehören in Russland zum traurigen Alltag. Nach Schätzungen der russischen Menschenrechtsorganisation Sova wurden seit 2004 mindestens 300 Menschen von Neonazis getötet und mehr als 1300 verletzt. Wie viele es ganz genau sind weiß niemand. Meist werden rechte Morde von den russischen Behörden als private Streitigkeit mit tödlichem Ausgang oder Auseinandersetzung unter „Rowdies“ verharmlost. Nur in den wenigsten Fällen konnte die Polizei Tatverdächtige ermitteln. Der fehlende Fahndungsdruck scheint die Rechten zu weiterer Gewalt zu ermutigen. 2007 hatten russische Neonazis ein Exekutionsvideo im Internet veröffentlicht. Darin ist zu sehen, wie vermummte Täter zwei gefesselten Muslimen die Kehle durchschneiden. Immer wieder lassen sich mit Schusswaffen ausgerüstete Nazigruppen voller Stolz bei ihren Wehrsportübungen in den Wäldern von Fernsehjournalisten begleiten.
Doch Neonazigewalt ist nicht das einzige Problem, mit dem Kuraev und seine Freunde konfrontiert werden. Eigentlich wollten sie heute Abend zu einem Punkkonzert gehen, doch das wurde einen Tag zuvor von der Miliz verboten. „Die kamen einfach zum Klubbesitzer und haben ihm gesagt: Dieses Konzert findet nicht statt“, sagt Kuraev. Damit war der Fall erledigt. Kein Geschäftsmann würde es in Moskau wagen, sich mit der lokalen Miliz anzulegen. „Wenn auf einem Konzertplakat ein Logo gegen Nazis auftaucht, wird die ganze Veranstaltung von den Behörden sofort unter einen pauschalen Extremismusverdacht gestellt.“ Oft genüge ein Anruf eines Neonazis bei einem befreundeten Polizist, um ein geplantes Konzert zu kippen. Auch die Gedenkdemonstration für den ermordeten Skinhead wurde kurzerhand verboten.
„Es ist für alternative Bands sehr schwierig überhaupt einen Auftrittsort zu finden“, sagt Kuraev. Jugendzentren, die Konzerte veranstalten oder besetzte Häuser gibt es in Russland nicht. Die einzige Möglichkeit sind kommerzielle Rockklubs, aber die fordern hohe Mieten. Seit es vermehrt Probleme mit Nazis gibt, werde es immer schwieriger Klubs zu finden.
Hinzu kommt das Problem mit dem Equipment. Instrumente, Verstärker, Schlagzeug – für die meisten Jugendlichen ist das finanziell unerschwinglich. Von den knapp 25 Punkbands, die es in Moskau gibt, hat kaum eine das benötigte Equipment. Für Auftritte müssen sie sich die fehlenden Teile leihen. „Punkbands, die von der Musik leben können gibt es nur drei oder vier“, sagt Kuraev. Eine davon ist „Distemper“, die in Russland pro Abend einige hundert Zuschauer ziehen und auch regelmäßig in Europa auf Tournee gehen. Zwar kommen von Zeit zu Zeit auch bekannte ausländische Bands nach Moskau, doch dann sind die Ticketpreise mit 30 bis 50 Euro so hoch, dass sich das kaum einer der jugendlichen Punkfans leisten kann. Eine Ausnahme bildete dabei ausgerechnet eine deutsche Band: „Als die Toten Hosen hier vor kurzem gespielt haben, kamen gerade mal 500 Zuschauer“, sagt einer der Jugendlichen. „90 Prozent davon waren Deutsche.“ Gefallen hat ihm das Konzert trotzdem, auch wenn er kaum Deutsch spricht.
Normalerweise arbeitet Pavel Kuraev als Kellner, aber am Wochenende ist er meist mit seiner Band „Invisible Border“ unterwegs. Gerade haben sie ihr erstes Album veröffentlicht. Bei jedem Konzert kommt eine eigene Gruppe von linken Aktivisten mit, um Band und Publikum vor möglichen Angriffen der Rechten zu schützen. Als Reaktion kommt es regelmäßig zu Bedrohungen der Musikgruppe. „Auf mehreren Naziwebseiten gibt es Portraitfotos von mir, inklusive Mordaufrufen“, erzählt der 20-Jährige. Eine einflussreiche Zivilgesellschaft, die sich offen gegen Neonazis engagiert, fehlt in Russland fast vollständig.
Sorge macht den jungen Linken in Moskau nicht nur der starke Zulauf, den die Neonazis im Land derzeit haben, sondern auch die Auffächerung und Wandlung der Szene. Ähnlich wie in Deutschland setzt das rechte Spektrum auf modernes Aussehen, „coole Musik“ und auf den Aufbau einer rechtsextremen Erlebniswelt für Nachwuchsnazis. Besonders interessiert sind sie neuerdings an Hardcore-Musik, eine in den 80er Jahren entstandene schnelle und besonders harte Musikrichtung, als Weiterentwicklung von Punkrock. Eigentlich versteht sich die Hardcore-Bewegung als linksalternativ und vor allem als ganz klar antirassistisch. Doch die starke Betonung von Männlichkeit, Gewalt und die Idee einer verschworenen Gemeinschaft, wirkt auch auf Neonazis anziehend, die versuchen den Musikstil für ihre Zwecke zu missbrauchen. Längst gibt es rechtsextreme Bands, die nach eigener Aussage „National Socialist Hardcore“ spielen. Die Anhänger dieser Musik sind äußerlich kaum noch von linken Hardcore-Musikern zu unterscheiden. Schwarze Caps, Piercings, Buttons und jede Menge Tätowierungen bestimmen den Stil.
Auch die russische Graffitti-Szene hat mit rechtsextremen Trittbrettfahrern zu kämpfen. „Es gibt in Moskau eigene Sprayercrews, die sich ganz offen als Neonazis bezeichnen“, sagt Kuraev. Wer genau hinschaut, findet in der ganzen Stadt immer wieder rechtsextreme Schriftzüge und mit Schablonen gesprühte Nazi-Symbole.
Experten weisen schon lange darauf hin, dass in Russland genau das passiert, was Rechtsextremen in Deutschland bisher nur langsam gelingt: Die Erschaffung einer aktionistischen, vielfältigen und militanten Neonazi-Jugendkultur mit allen Facetten. Von Kleidung über Musik, bis hin zu Wehrsportübungen, Konzerten und Aufmärschen bieten die Neonazis ein breites Programm für erlebnisorientierte Jugendliche an. Im Zusammenspiel mit dem offensichtlichen Desinteresse und der Untätigkeit der Sicherheitsbehörden eine gefährliche Mischung, die vermutlich noch viele Todesopfer fordern wird.