Die Geschichte der Kritik an der Extremismustheorie ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Dass die Kritik dabei häufig an den tatsächlichen Argumenten der Extremismustheoretiker meilenweit vorbeigeht, zeigt ein Blick in deren Schriften.
Seit nunmehr zwei Jahrzehnten werden – ohne erkennbaren Fortschritt – die immer selben Kritikpunkte gegen die Extremismustheorie vorgebracht. Im Kern lassen diese sich auf vier Punkte reduzieren:
1. Gleichsetzungsvorwurf: Die Extremismustheorie setze angeblich so unterschiedliche Phänomene wie Links- und Rechtsextremismus gleich.
Einen ernstzunehmenden Extremismustheoretiker, der behauptet, dass Rechts- und Linksextremismus identisch wären, dürfte man allerdings kaum mit Erfolg aufspüren können. Vielmehr ist das Gegenteil wahr: Schon in ihrem wohl wirkungsmächtigsten Buch „Der politische Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland“ haben Eckhard Jesse und Uwe Backes darauf hingewiesen, dass Links- und Rechtsextremismus eben nicht identisch seien und die Behauptung einer solchen Identität auch keinesfalls aus der Extremismustheorie folge: „Die Gemeinsamkeiten der Extremismen in Gegenüberstellung zum demokratischen Verfassungsstaat dürfen die fundamentalen Unterschiede nicht überdecken.“1 Der Hintergrund für diese differenzierte Position ist schlicht die auch innerhalb der Extremismustheorie anerkannte Tatsache, dass Linksextremisten aufgrund ihrer Haltung zum Postulat menschlicher Fundamentalgleichheit in einem anderen Verhältnis zur bürgerlichen Mitte stehen als Rechtsextremisten: „Während die politisch linke Variante diese bejaht, aber im antidemokratischen Sinne ideologisch integriert, lehnt die rechte Variante diesen Gleichheitsgrundsatz zugunsten ihres antiegalitären Differenzprinzips ab.“2 Somit erweist sich auch die immer wieder geäußerte These als falsch, mit der Extremismustheorie würde behauptet, Links- wie Rechtsextremisten seien gleich weit von der demokratischen Mitte entfernt. Dies gilt zwar, sofern die Betrachtung allein auf das Demokratiekriterium eingeschränkt wird, nicht jedoch dann, wenn es um die Beurteilung des Verhältnisses der genannten Ideologiegruppen zueinander, also einschließlich ihrer inhaltlichen Unterschiede, und zur demokratischen Mitte geht. Nicht die Extremismustheoretiker setzen also Links- und Rechtsextremismus gleich, sondern ihre Kritiker behaupten lediglich – in der Regel ohne textlichen Beleg –, dass diese dies tun würden.
Woraus sollte die Gleichsetzung eigentlich auch folgen? Die Behauptung, dass Links- und Rechtsextremismus völlig identisch, mithin gar keine verschiedenen Phänomene sind, sondern nur ein einziges, wäre eine solche Absurdität, dass darüber zu diskutieren die damit verbundene Anstrengung nicht wert wäre. Übrig bleibt somit schon aus logischen Gründen nur die weitaus schwächere These, dass Links- und Rechtsextremismus gewisse Ähnlichkeiten, also partielle Übereinstimmungen aufweisen – ohne dass deshalb die Unterschiede zwischen beiden Phänomengruppen geleugnet werden müssten. Wer aber sogar die abgeschwächte These nach partiellen Übereinstimmungen für sachlich falsch hält, lädt sich selbst eine erhebliche Beweislast auf – und nicht umgekehrt. Nehmen wir doch einfach die historischen Beispiele des Nationalsozialismus und des Bolschewismus: In beiden Systemen gab es eine geschlossene, fundamentalistische Ideologie mit allumfassendem Welterklärungsanspruch, in beiden Systemen folgte hieraus ein totalitäres Einparteiensystem mit Überwachungsapparat und in beiden Systemen wurden unliebsame Mitglieder der Gesellschaft in Lagersysteme verbracht. Selbstredend werden an eben dieser Stelle aufgrund unterschiedlicher Struktur und Zweckbestimmung der Lagersysteme zugleich fundamentale Unterschiede der beiden Systeme deutlich, allerdings ändert dies nichts an den ebenso offenkundigen partiellen Übereinstimmungen in substanziellen Fragen. Die partielle Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Bolschewismus rechtfertigt sich somit aus der Tatsache, dass sich beide totalitäre Systeme durch wesentliche Strukturidentitäten in fundamentalen Merkmalen selbst gleichgesetzt haben. Die Notwendigkeit zu einer vollständigen Gleichsetzung folgt daraus weder sachlich noch logisch.
2. Verharmlosungsvorwurf: Der Verharmlosungsvorwurf besteht aus zwei Dimensionen: Zunächst wird regelmäßig argumentiert, dass die Extremismustheorie, da der Rechtsextremismus eben der gefährlichere und „schlimmere“ Extremismus sei, durch eine Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus zugleich eine Verharmlosung rassistischer und nationalistischer Gewalttaten vornehme. Da sich allerdings der Gleichsetzungsvorwurf als nicht haltbar erweist, löst sich hiermit zugleich diese Dimension des Verharmlosungsvorwurfes von selbst auf. Relevanter ist daher die zweite Dimension des Verharmlosungsvorwurfes, nämlich die Behauptung, die Extremismustheorie verbanne antidemokratisches oder problematisches Gedankengut an die extremen Ränder der Gesellschaft und spreche so die politische Mitte heilig. Im Gegensatz hierzu sei jedoch bspw. der Rassismus bis tief in die Mitte der Gesellschaft verbreitet, man müsse mithin von einem „Extremismus der Mitte“ ausgehen.
Diese Fassung des Verharmlosungsvorwurfes gehört zu den erstaunlichsten Kritikpunkten an der Extremismustheorie – und dies gleich aus mehreren Gründen. Zunächst impliziert sie eine insgeheime Anerkennung der Extremismustheorie, denn was soll ein „Extremismus der Mitte“ sonst sein, wenn nicht eine Form von Extremismus? Zweitens verwechselt, wer zugunsten eines „Extremismus der Mitte“ argumentiert, schlicht zwei verschiedene Wissenschaften miteinander. Natürlich ist es soziologisch betrachtet richtig, dass zahlreiche Angehörige der sozialen Mittelklassen politisch extreme Auffassungen vertreten können. Nur: Das Gegenteil wurde mit der Extremismustheorie auch noch nie behauptet. Die Extremismustheorie ist keine soziologische, sondern eine politikwissenschaftliche Theorie. Sie beschreibt nicht soziale Gruppen der Gesellschaft (z.B. Ober-, Unter- und Mittelschicht), sondern versucht politische Ideen begrifflich zu fassen und systematisch zu ordnen. Sie handelt auf der grundsätzlichen theoretischen Ebene nicht von konkreten Menschen, sondern politischen Idealtypen. Wolfgang Kraushaar folgend sollte daher besser von „Mittelklassen-Extremismus“3 gesprochen werden, wenn der Umstand angesprochen wird, dass auch Vertreter sozialer Mittelklassen anfällig für extremistische politische Ideologien sein können.
Die These vom „Mittelklassen-Extremismus“ steht dabei alles andere als im Gegensatz zur Extremismustheorie. Im Gegenteil. Würden die Texte der Extremismustheorie von ihren Kritikern aufmerksam gelesen, ließe sich sogar feststellen, dass diese selbst die soziologische These vom „Extremismus der Mitte“ in einer Art und Weise zuspitzen, wie sie den meisten Kritikern der Extremismustheorie kaum recht sein dürfte. Denn Letztere verbinden, zumal in politischen Kontexten, mit ihrer These vom „Extremismus der Mitte“ nicht selten eine Autoimmunisierung: So werden zwar alle anderen Vertreter der soziologischen Mitte dem Verdacht ausgesetzt, gegebenenfalls Träger rassistischer Vorurteile zu sein, der Kritiker der Extremismustheorie selbst jedoch nimmt sich hiervon in aller Regel aus. Rassisten gibt es nach dieser Lesart zwar überall, aber zum Glück sind es letztlich immer die Anderen.
Ganz anders liest sich das allerdings in den Schriften der Extremismustheorie. So spricht Backes der These vom „Extremismus der Mitte“ trotz ihrer begrifflichen Selbstwidersprüchlichkeit zumindest den Wert zu, auf die „dynamischen Wechselbeziehungen“ zwischen demokratischer Mitte und Extremismen hinzuweisen. Der Extremismus sei also so etwas wie „ein Spiegelbild sozialer Entwicklungen“ und lasse daher „Rückschlüsse auf den Zustand der Mehrheitsgesellschaft zu“. Backes formuliert schließlich selbst eine Fassung der These vom „Extremismus der Mitte“, die die der Kritiker an Radikalität sogar noch überbietet: „Die Mesoteslehre vermittelt die Einsicht, dass die Mitte etwas von den Extremen enthält. Diese überdehnen jene Prinzipien, die in temperierter und balancierter Form von Nutzen sein mögen.“4 Betroffen von dieser These könnte bspw. die Einsicht sein, dass sich menschliche Gesellschaften nicht ohne ein Minimum an verbindenen kulturellen und politischen Normen erfolgreich organisieren lassen. In überdehnter Form jedoch kann diese Einsicht in einen rassistisch geprägten Nationalismus und damit in politischen Extremismus von rechts umschlagen. Backes macht damit allerdings nicht – wie die Vertreter der These eines „Extremismus der Mitte“ – lediglich bestimmte Teile der Mittelschichten, sondern letztlich in gewisser Hinsicht alle menschlichen Subjekte zu Quellen des Extremismus. Zugespitzt: Nach seiner Ansicht stecken in uns allen auf potenzielle und gewisse Weise Hitler und Stalin – selbst im eifrigsten Antifaschisten.
3. Unterkomplexitätsvorwurf: Die Extremismustheorie sei durch ihre „Eindimensionalität“ unterkomplex. Sie könne weder die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen extremistischer Gruppierungen erklären noch wirksame Gegenstrategien ableiten.
Schon rein erkenntnislogisch ergibt der Vorwurf, die Extremismustheorie sei „eindimensional“, wenig Sinn. Denn mittels einer einzigen Merkmalsdimension wären die Phänomene Links- und Rechtsextremismus nicht einmal begrifflich ableitbar. Bereits in ihrem ersten Aufsatz aus dem Jahre 1983 haben Uwe Backes und Eckhard Jesse den Extremismus-Ansatz vielmehr als zweidimensionales Modell angelegt, mit dem durch die Merkmale Demokratie/Anti-Demokratie sowie links/rechts der politische Raum grob in eine Vierfelder-Matrix eingeteilt wird.5 In jüngeren Arbeiten wurde der Extremismus-Ansatz schließlich gar zu einem „dreidimensionalen politischen Raum“6 ausgebaut.
Aus der objektiv nicht bestehenden „Eindimensionalität“ der Extremismustheorie wird sodann auf ihre mangelnde gesellschaftliche Erklärungskraft geschlossen. Aber auch dieser Vorwurf ergibt nur Sinn, sofern die Unterscheidung verschiedener wissenschaftlicher Ebenen schlicht ignoriert wird. Mit der Extremismustheorie wird mitnichten der Anspruch erhoben, sämtliche den Extremismus betreffenden Phänomene hinreichend erklären zu können. Es geht vielmehr lediglich darum, zunächst einmal die Erkenntnisgegenstände der Extremismusforschung im Rahmen einer „normativen Rahmentheorie“7 willkürfrei zu bestimmen. Erstaunlich ist dabei lediglich, dass Uwe Backes diesen Zusammenhang in aller nötigen Klarheit bereits vor über 20 Jahren der interessierten Öffentlichkeit in seiner Dissertation dargelegt, indem er zwischen vier Ebenen unterschieden hat – offenbar ohne nachhaltige Wirkung:
I) Wissenschaftstheoretische Grundlagen: Bevor ein Forscher mit seiner Forschung beginnen kann, muss er seinen Forschungsgegenstand willkürfrei bestimmen. Hierzu sind begriffliche Konzepte auszuarbeiten, die letztlich die Identifizierung des Forschungsgegenstandes entscheidend steuern, und die Methoden festzulegen, mit denen die Erkenntnisobjekte untersucht werden sollen.
II) Phänomenologie: Erst nach der Bestimmung der Begriffe und Methoden ist es möglich, einzelne extremistische Doktrinen und Organisationen sowie ihr Verhältnis zum politischen System zu analysieren und zu beschreiben.
III) Aitiologie: Nachdem die Phänomene bestimmt und ausführlich beschrieben worden sind, kann sinnvoll nach den Ursachen der Entstehung dieser Phänomene geforscht werden, da die Suche nach den Ursachen entscheidend von der Beschaffenheit der Phänomene abhängt.
IV) Therapien: Sind die Ursachen zur Entstehung der verschiedenen Formen von politischem Extremismus bestimmt, können analog zu diesen Erkenntnissen Gegenstrategien abgeleitet werden.
Die Extremismustheorie bewegt sich nun als politikwissenschaftliche Theorie zum größten Teil auf den ersten beiden Ebenen. Um alle vier Ebenen angemessen zu bearbeiten, ist hingegen ein interdisziplinäres Forschungsprogramm aus politischer Philosophie, Politikwissenschaft, Soziologie, Pädagogik, Rechtswissenschaft, Psychologie etc. vonnöten. Der Extremismustheorie als politikwissenschaftlicher Teildisziplin also vorzuwerfen, dass sie nicht alles erklären könne – ein Anspruch, der ihr allerdings von interessierten Kritikern untergeschoben wird, um anschließend in großer Geste die Unmöglichkeit dieses Unterfangens als „Eindimensionalität“ oder „Unterkomplexität“ zu geißeln –, käme somit dem Vorwurf an die Politikwissenschaft gleich, das zu sein, was sie ist: eben Politikwissenschaft. So wie die empirische Sozialwissenschaft auf dem Gebiet der Aitiologie ohne die Politikwissenschaft kaum etwas Fruchtbares zustande bringen dürfte, da ihr mit den politikwissenschaftlichen Begriffen und phänomenologischen Analysen auch die Erkenntnisgegenstände fehlten, über die sie kausale Analysen anstellen könnte, kann die Politikwissenschaft ohne sozialwissenschaftliche Kausalanalysen wenig zur Formulierung von Therapien beitragen. Ohne theoretisches Konzept des „Extremismus“ gibt es also auch keinen Untersuchungsgegenstand „Rechtsextremismus“, ohne begriffliches Korsett keine wissenschaftliche Forschung. Irgendeine Form von Extremismus-Theorie ist für jede Rechtsextremismus-Forschung unhintergehbar – mag sie sich dies nun eingestehen oder nicht. Die Extremismustheorie erscheint somit lediglich aus Sicht derjenigen Kritiker als „unterkomplex“ und „eindimensional“, die selbst die vier Dimensionen bzw. Ebenen der Extremismusforschung ignorieren (wollen?) und dieses Feld somit selbst „eindimensional“ und „unterkomplex“ beschreiben, nämlich als eine einzige Ebene, die mit einer ebenfalls einzigen (sozialwissenschaftlichen) Großtheorie vollständig erklärbar ist.
4. Politisierungsvorwurf: Mit dem wahrscheinlich häufigsten Vorwurf wird schlicht die Wissenschaftlichkeit der Extremismus-Theorie in Frage gestellt. Es handele sich letztlich gar nicht um einen wissenschaftlich begründeten Ansatz, sondern um eine Legitimationsideologie staatlichen bzw. politischen Handelns. Die Extremismusforschung degradiere sich so zur dienstgefälligen Magd der Politik.
Dieser Politisierungsvorwurf lässt sich zunächst als Missbrauchsvorwurf konkretisieren. Und gewiss: Die Extremismustheorie wird zu politischen Zwecken missbraucht – übrigens ebenso wie die Kritik an derselben. Das vielleicht bundesweit unterhaltsamste dieser Beispiele liefert seit geraumer Zeit die Junge Union (JU) der Hansestadt Rostock. In einer Linksammlung findet sich so bspw. auch ein Hinweis auf www.endstation-rechts.de und die Bemerkung, dass man bei uns „professionellen Linksextremismus“ finden könne. Dass dies nicht nur für uns, sondern vor allem auch für jeden Linksextremisten eine handfeste Beleidigung darstellt, bedarf dabei wohl keiner näheren Erläuterung.
Was wäre allerdings die Folge, wenn man jeden theoretischen Ansatz schon deshalb und dann vollständig verwerfen würde, sofern es in der Republik mindestens einen gibt, der diesen zu welchen Zwecken auch immer missbraucht? Als einzige sinnvolle Alternative bliebe dann letztlich nur, sämtliche Schulen und Hochschulen der Bundesrepublik unterschiedslos zu schließen. Denn irgendeiner könnte gewiss irgendetwas von dem, was an diesen Institutionen gelehrt und gedacht wird, zu irgendetwas missbrauchen. Die Missbrauchsthese mag daher angesichts der Tatsache, dass wir es mit Auseinandersetzungen im politischen Feld zu tun haben, als Korrektiv und Erinnerung an die eigentlichen Sachfragen hin und wieder nötig und auch sinnvoll sein. Als durchgreifendes theoretisches Argument allerdings taugt es nicht, weil es eben kein wirkliches inhaltliches Argument darstellt.
Der Politisierungsvorwurf lässt sich allerdings auch auf eine anspruchsvollere Weise verstehen. Dann es geht hierbei nicht um den bloßen Vorwurf des politischen Missbrauchs, sondern vielmehr um ein erkenntnistheoretisches Argument, das die Unabhängigkeit der Extremismusforschung grundsätzlich in Frage stellt. Dabei gehört zur ganzen Wahrheit der Hinweis, dass Backes und Jesse durch ihre frühen Arbeiten selbst dazu beigetragen haben, den Vorwurf der politischen oder juristischen Ableitung ihres Ansatzes mit Nahrung zu versorgen.8 Und dennoch ist dieser Vorwurf nur vor dem Hintergrund einer nicht-normativen, positivistischen Auffassung von Politikwissenschaft relevant oder überhaupt verstehbar.
Robert Scholz hat bereits darauf aufmerksam gemacht, dass eine nicht-normativ ausgerichtete Politikwissenschaft zwei schwerwiegende Konsequenzen aufweist: Erstens könnte sie, eben gerade weil sie nicht-normativ ist, keinerlei Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung leisten. Sie hätte der Gesellschaft mithin nichts Relevantes mehr zu sagen. Denn wie wollte sie praktische Ratschläge ohne jede Norm rechtfertigen? Zweitens könnte sie auch ihre Erkenntnisgegenstände nicht einmal mehr bestimmen, sie hätte folglich auch nichts mehr zu erforschen. Denn wie wollte sie im Bereich der Extremismusforschung ohne begriffliche Norm unter den 80 Millionen Bundesbürgern ihre Forschungsobjekte überhaupt willkürfrei identifizieren? Jede Extremismusforschung setzt somit logisch zwingend eine regulative „Idee des Gemeinwohls“ (Fraenkel) voraus: „Erst eine angemessene Vorstellung von einem Gemeinwesen, wie es aussehen soll, legitimiert zu einem Verständnis extremistischer Bestrebungen.“9
Die Idee der Demokratie weist sich somit als gegenüber dem Extremismus erkenntnislogisch prioritär aus, weil Letzterer eben als Abweichung von Ersterem definiert ist. Dieser Hinweis kann dabei auch den Vorwurf entkräften, die Extremismus-Theorie sei in Wahrheit juristisch oder politisch-staatlich abgeleitet. Die Vorgaben der bundesdeutschen Verfassung begründen nicht den normativen Kern der Extremismustheorie, sondern es gilt der genau umgekehrte Zusammenhang: Die regulative Idee eines demokratischen Gemeinwohls einschließlich der sie begründenden Menschenrechte bildet das Selbstverständnis der (normativ orientierten) politikwissenschaftlichen Forschung einschließlich ihrer Gegenstandskonstitution und prägt zugleich die „Minimalbedingungen demokratischer Verfassungsstaaten“.10 Die Politikwissenschaft als „Demokratiewissenschaft“11 wird hier somit nicht durch Politik, Verwaltung oder Justiz instrumentalisiert, sondern beide Bereiche erhalten umgekehrt ihre Legitimität erst aus einer „Ethik demokratischen Handelns“12, die in allen Fällen sachlich und logisch prioritär ist, das Herzstück der Extremismustheorie darstellt und vor allem auch für alle (demokratischen) Kritiker der Extremismustheorie unhintergehbar ist.
Eine normative Rahmentheorie demokratischer Verfassungsstaaten
Der Name „Extremismustheorie“ erscheint vor diesem Hintergrund nicht nur als kommunikativer Rohrkrepierer – denn immerhin löst bereits der bloße Name solche intensiven etymologischen Ausdeutungswettbewerbe aus, dass die eigentliche Sachfrage kaum noch einer Erörterung zugeführt werden kann –, sondern in der Sache sogar als falsch. Eigentlich geht es Backes Jesse und Co. nicht um den Extremismus, also die Demokratiegegnerschaft, sondern um die Demokratie. Ihr Ansatz stellt, wie es Backes bereits im Titel seiner Dissertation deutlich gemacht hat, eine „Normative Rahmentheorie“ demokratischer Verfassungsstaaten dar. Und genau hierum geht es auch auf der ersten, der wissenschaftstheoretischen Ebene der Extremismusforschung. Erst auf der zweiten, also phänomenologischen Ebene verwandelt sich dieser Ansatz in die eigentliche Extremismustheorie, insofern auf dieser Ebene die Abweichung von der regulativen Idee der Demokratie zum Analysegegenstand erhoben wird.
Es könnte daher vielleicht hilfreich sein, künftig einfach auf den Terminus „Extremismustheorie“ zu verzichten und stattdessen von einer „Normativen Theorie demokratischer Verfassungsstaaten“ zu sprechen. Gleichfalls könnte ohne Schaden die offenbar unnötig missverständliche Redeweise von „Extremisten“ aufgegeben und stattdessen von „Antidemokraten“ gesprochen werden, denn nichts anderes ist in Wahrheit gemeint. Und schließlich scheint auch der wenig spezifische Begriff der „Mitte“ – jedenfalls im politikwissenschaftlichen Kontext – völlig entbehrlich, denn dahinter verbirgt sich letztlich nichts anderes als das „demokratische Spektrum“. Gewiss: An der Sache würden diese Umbenennungen gar nichts ändern. Da allerdings bereits die im Rahmen des bisher als „Extremismustheorie“ bezeichneten Ansatzes verwendeten Worte in der Vergangenheit zu erheblicher Aufregung und vor allem unnötigen und unfruchtbaren Debatten geführt haben, könnte diese Maßnahme vielleicht „Wunder“ bewirken. Aber auch dieses könnte nur eintreten, wenn alle an der Diskussion Beteiligten zu zwei Dingen bereit wären: Erstens zur Zurückdrängung der eigenen politischen Motive und Interessen in dieser Auseinandersetzung und zweitens zur Diskussion darüber, was die Anhänger und Vertreter der „Normativen Theorie demokratischer Verfassungsstaaten“ tatsächlich geschrieben haben und nicht darüber, wovon einige Kritiker behaupten, dass es geschrieben worden sei.
1 Uwe Backes/Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1993, S. 42.
2 Armin Pfahl-Traughber, Rechtsextremismus, München 2001, S. 14.
3 Wolfgang Kraushaar, Extremismus der Mitte. Zur Geschichte einer soziologischen und sozialhistorischen Interpretationsfigur, in: Hans-Martin Lohmann (Hrsg.), Extremismus der Mitte. Vom rechten Verständnis deutscher Nation, Frankfurt am Main 1994, S. 23-50, hier S. 35.
4 Uwe Backes, Poltische Extreme. Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, 2006, S. 250.
5 Uwe Backes/Eckhard Jesse, Demokratie und Extremismus. Anmerkungen zu einem antithetischen Begriffspaar, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 44/83, S. 3-18, hier S. 7.
6 Uwe Backes, Politische Extreme – Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis in die Gegenwart, Dresden 2006, S. 246ff.
7 Uwe Backes, Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen 1989.
8 So betonten sie bspw. noch im Jahre 1983 mit Blick auf die in der Rechtsextremismusforschung bestehende Begriffsverwirrung: „Die sozialwissenschaftliche Forschung hätte sich zweckmäßigerweise am bereits vorhandenen juristischen Sprachgebrauch orientieren können. Die Unterschiede zwischen juristischer und sozialwissenschaftlicher Begriffsbildung sind konstruiert und entbehren jeglicher Grundlage.“ (Backes/Jesse 1983, S. 8 )
9 Backes/Jesse 1993, S. 14.
10 Backes 1989, S. 94.
11 Backes/Jesse 1993, S. 11.
12 Backes/Jesse 1993, S. 435ff.
Abbildung: Uwe Backes, Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen 1989, S. 33.