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Repression gegen russische Antifaschisten

 

Zwei angeklagte antifaschistische Aktivisten aus Russland

Auch im Störungsmelder wird immer wieder über die schwierige Situation in Russland berichtet. Immer wieder sind Angriffe der extremen Rechten auf antifaschistische Menschen zu verzeichnen, die nicht selten lebensbedrohlich sind (hier und hier zum Beispiel). Nichtsdestotrotz sind die Informationen über antifaschistische Aktivitäten in Russland spärlich.

Eine Solidaritätsaktion  am vergangenen Freitag während einer SPD-Veranstaltung in Hamburg machte nun auf eine Auseinandersetzung nahe Moskau aufmerksam: Der geplante Bau einer Autobahn zwischen Moskau und St. Petersburg durch einen der letzten verbliebenen Wälder der Region, den Wald von Chimki, rief vielfältige Proteste auf den Plan. Neben bestellten Nazi-Schlägertrupps gegen Öko-Aktivisten durch die Baufirma wird nun auch staatlicherseits massiv gegen die Waldschützer, die zu einem nicht unerheblichen Teil auch in der antifaschistischen Bewegung aktiv sind, vorgegangen.

Zu Beginn einer Veranstaltung zum Thema „Ware Mensch – Ware Frau“ der SPD Altona in der Hamburger Werkstatt 3 übergaben „Freund_innen der Geiseln von Chimki“ einen offenen Brief an den auf dem Podium vertretenen Vorsitzenden der „Delegation des Europäischen Parlaments im Parlamentarischen Kooperationsausschuss EU-Russland“, den Hamburger Sozialdemokraten Knut Fleckenstein. Freundlicherweise wurden die Aktivisten spontan vor Beginn der Veranstaltung zu einem kurzen Redebeitrag ermuntert, in dem sie vortrugen, wie die russische Zivilgesellschaft im Fall Chimki von staatlichen Stellen gegängelt wurde:

„Sie lehnten die Genehmigung von Protestaktionen ab, ließen ohne gesetzliche Grundlage Journalist_innen festnehmen und misshandeln. Unbekannte haben den Chefredakteur der lokalen kritischen Zeitung, `Chimkinskaja Prawda´ Michail Beketow, zum Krüppel geschlagen und den Layouter einer anderen Oppositionszeitung, Sergej Protazanow, ermordet“, so die Chimki-Aktivisten.

Motivation für die Aktion war neben dem Erreichen von Öffentlichkeit für die Verhältnisse in Russland jedoch auch ganz konkret die Unterstützung zweier verhafteter Aktivisten, die seit Jahren in Medien und Öffentlichkeit als Sprecher der kritischen und antifaschistischen Bewegungen auftreten. Jetzt drohen ihnen wegen einer Aktion im Juli, bei der das Verwaltungsgebäude von Chimki attakiert wurde, bis zu 7 Jahren Haft, obwohl die Beweisdecke mehr als dürftig zu sein scheint. Offensichtlich sollen gezielt kritische Stimmen mundtot gemacht werden (mehr Infos hier).

Hintergründe finden sich in dem bei der Veranstaltung verteilten „Offenen Brief“ an Knut Fleckenstein:

Es geht uns um den Fall von Chimki bei Moskau. Sie kennen „Chimki“ vielleicht schon aus den Medien. Wir möchten hier noch einmal darlegen, was für eine aktuelle Geschichte sich hinter diesem Wort versteckt.

Chimki ist eine kleine Nachbarstadt von Moskau. Seit einigen Jahren wird der Bau einer neuen Autobahn zwischen Moskau und St. Petersburg geplant. Das Bau wird größtenteils vom europäischen Konzern Vinci finanziert. Die Autobahn soll durch einen der letzten verbliebenen Wälder in der Nähe Moskaus, den Wald von Chimki, führen. Der Wald wird dabei wahrscheinlich komplett zerstört. Nicht, weil es keine andere Route und Möglichkeiten gibt, sondern weil es korrupten Interessen von Russlands hohen Beamten und der lokalen Regierung von Chimki entspricht. Für die Veränderung des Bauprojekts haben sich viele Organisationen, wie Greenpeace und WWF geäußert. Eine unabhängige Analyse von „Transparency International“2 weist klar auf die Korruptionsinteresse, die hinter denProjekt steht, hin. Die NGO „Bankwatch“ und andere europäische Institutionen haben potenzielle Investoren des Projekts gewarnt, sich nicht an diesen zu beteiligen.

Seit 2007 gibt es Proteste einer Bürger_innen-Initiativen dagegen. Deren Aktivitäten werden mit enormer Brutalität unterbunden. So haben die Behörden im Chimki gemeinsam mit den Bauträgern mehr als einmal Gewalt gegen die Waldschützer_innen angewandt: Sie lehnten die Genehmigung von Protestaktionen ab, ließen ohne gesetzliche Grundlage Journalist_innen festnehmen und misshandeln. Unbekannte haben den Chefredakteur der lokalen kritischen Zeitung, „Chimkinskaja Prawda“ Michail Beketow, zum Krüppel geschlagen und den Layouter einer anderen Oppositionszeitung, Sergej Protazanow, ermordet. Ende Juli dieses Sommers bekam die Auseinandersetzung eine neue Qualität. Die Rodung des Waldes wurde begonnen und die Waldschützer_innen haben ein Camp im Wald errichtet. Daraufhin engagierte die Baufirma Neonazi-Schläger zur Auflösung friedlicher Proteste von Umweltschützer_innen und lokaler Bevölkerung.

Öko-Aktivist_innen versuchten mehrmals die Administration der Stadt Chimki zu überzeugen, dass sie die Meinung der Menschen nicht dauernd ignorieren kann. Die Regierung hat alle Verhandlungsversuche sabotiert. Daraufhin haben am 28. Juli etwa 300 bis 400 Menschen vor allem aus dem antifaschistischen und linken Spektrum eine Spontandemonstration in der Stadt Chimki durchgeführt. Die Aktion erhielt in der Öffentlichkeit viel Zustimmung und Aufmerksamkeit. Das Problem kam dadurch in die Medien und wurde in ganzen Russland bekannt. Chimki ist in Russland zur Metapher geworden. Zu einer Metapher, welche für die Entstehung aktiver Zivilgesellschaft steht, in der sich die Leute für ihre Rechte, für die Umwelt und für Aufklärung engagieren.

Chimki steht aber leider nicht nur für den Kampf, sondern auch für die brutale und wahllose Repression. Die Behörden nutzten die Aktion am 28. Juli als Anlass eine neue Verfolgungswelle gegen kritischen Aktivist_innen einzuleiten.

Am 29. Juli wurden Aleksej Gaskarow und Maxim Solopow festgenommen. Sie treten seit Jahren in Medien und Öffentlichkeit als Sprecher der kritischen Bewegungen auf. Wegen antifaschistischer Aktivitäten stehen beide seit langem an der Spitze der Todeslisten auf extrem rechten Internet-Seiten. Jetzt drohen ihnen bis zu 7 Jahren Haft, obwohl keinerlei Beweise für ihre Beteiligung an der vorgeworfenen „Organisation von Massenhooliganismus“ vorliegen. Das ist ein Vorzeigeprozess für alle, die versuchen sich in Russland zu engagieren.

Die Repression richtet sich aber nicht nur gegen Alexey und Maxim. Ein sogenanntes Extremismusbekämpfungszentrum der Polizei und die FSB verschleppen die Menschen, die durch Vorkontrollen und Massenfestnahmen auf politischen Veranstaltungen und sogar zufällig auf Listen geraten sind. Vor allem trifft die Repression diesmal die Antifaschist_innen und die Linke. Es handelt sich um Hunderte Fälle inMoskau und in der Moskauer Region. Mehrmals wurde von Folter und Misshandlungen berichtet.

So legten zum Beispiel A.W. Pachotin, E.F. Balujew und N.N.Tschernobajew ihre Aussagen unter physischem Druck seitens der zuständigen Ermittler ab. Nach der Vernehmung suchten sie um ärztliche Hilfe. Bei N.N. Tschernobajew, der vom Rettungsdienst ins Krankenhaus eingeliefert wurde, diagnostizierten die Ärzte ein geschlossenes Schädel-Hirn-Trauma, eine Gehirnerschütterung, Prellungen und Hautabschürfungen im Gesicht.

Am 31. Juli wurden in Kupawna (Moskauer Gebiet) über 50 Personen unrechtmäßig verhaftet und erkennungsdienstlich behandelt. Am 21. August sprengten Angehörige der Miliz und der Polizeisondereinheit OMON des Moskauer Gebiets ein Wohltätigkeitskonzert in Zhukowskij (Moskauer Gebiet) und nahmen ohne rechtliche Grundlage etwa 70 Personen fest, mindestens 10 davon wurden körperlich misshandelt.

Am selben Tag sprengten Angehörige der Miliz, des FSB, des Zentrum „E“ und der OMONein überregionales Festival in Kostroma, wobei durch den vorzeitigen Abzug der Security ein Konzertbesucher von einem Neonazi verletzt wurde. Über 260 Konzertbesucher wurden festgenommen, erkennungsdienstlich behandelt und geschlagen. Die Organisatorin des Konzerts erhielt Androhungen seitens Mitarbeiter des Zentrums „E“ ein Strafverfahren gegen sie einzuleiten.

Einerseits versuchen die Behörden dadurch Falschaussagen gegen Alexey und Maxim zu erzwingen, weil sie keine Beweise haben. Andererseits ist dies ein Versuch, kritische Aktivist_innen und Öffentlichkeit zum schweigen zu bringen. Alexey und Maxim erscheinen somit wie Geiseln. Wir sind hier, um Öffentlichkeit für den Fall zu erreichen.

Alexey und Maxim sind seit Ende Juli in Untersuchungshaft. Nächsten Montag, am 27. September, ist ein Haftprüfungstermin. Für den 17.-20. September wurde zu internationalen Solidaritätstagen aufgerufen. Solidaritätsaktionen fanden in mehr als 30 Städten in verschiedenen Länder statt. Wir sehen uns auch als Teil der Kampagne für die Befreiung der Geiseln von Chimki.

Wir fordern die Freilassung der verhafteten Aktivisten und die Einstellung des Strafverfahrens sowie den Stopp der Repression gegen kritischer Bewegungen in Russland.

Herr Fleckenstein, Sie haben sich als der Vorsitzende der „Delegation des Europäischen Parlaments in den Parlamentarischen Kooperationsausschuss EU-Russland“ mehrmals für die Stärkung der Zivillgesellschaft in Russland geäußert. Sie sehen, wie schockierend die Situation heute in Moskau und der Moskauer Region ist.

In Ihrer Position haben Sie auch die Möglichkeit Einiges für die Betroffenen von willkürlicher und brutaler Repression zu tun. Wir hoffen, das Sie ähnlich wie wir, einsehen, dass ohne starken Zivillgesellschaft keine demokratischer Entwicklung in Russland möglich ist. Wenn sie dafür sind, zivillgesellschaftliche Initiativen in Russland zu unterstützen, dann ist dieser Fall einer, wo es genau darum geht und wo sie ihren Partner in Osten davon überzeugen können, dass es nicht nur um ihre Profite und die Macht gehen kann.

Wir empfehlen Ihnen die Webseite khimkibattle.org, wo Sie auch auf deutsch Informationen über die Situation um Chimki finden können.

Sie können beispielsweise durch die Verschickung von Protestschreiben an die Staatsanwaltschaft des Moskauer Gebietes, das Stadtgericht in Chimki und die Administration des Präsidenten der Russischen Föderation unterstützen. Vorlagen gibt es auf oben genanner Webseite.