Die Motive der schärfsten Parallelgesellschaften- und Migranten-Kritiker sind nicht gerade fortschrittlich. Das zeigt eine Studie zum Rechtsextremismus. Die Kritik an Fehlentwicklungen in migrantischen Parallelgesellschaften ist sicherlich oft berechtigt. Chauvinistische und Frauen verachtende Einstellungen müssen kritisiert werden ebenso ein totalitär-religiöses Weltbild, wenn es zu konsequenter Ablehnung aller liberalen Errungenschaften westlicher Zivilisationen führt.
Von Tanja Dückers
Leider wird der Ausdruck „migrantische Parallelgesellschaft“ jedoch derzeit fast nur negativ konnotiert – als gäbe es nicht auch vollkommen unauffällige, friedfertige migrantische Parallelgesellschaften, wie es sie seit jeher in der Geschichte der Menschheit gegeben hat. Ferner wird diese Kritik ungerechterweise selten an den nicht-migrantischen Parallelgesellschaften geübt, von denen es ebenfalls nicht wenige hierzulande gibt. Schließlich leben wir in einer hoch individualisierten, äußerst heterogenen Gesellschaft, die sich aus vielen Parallelgesellschaften zusammensetzt – und diese verschiedenen nicht-migrantischen Parallelgesellschaften und gesellschaftlichen Randgruppen gehen ebenfalls keineswegs nur friedfertig miteinander um, wie auf Demonstrationen, in Fußballstadien und andernorts beinahe täglich sichtbar wird. Überhaupt: Wer definiert, was in einer Gesellschaft die vermeintliche „Haupt-Gesellschaft“ und was eine Parallelgesellschaft ist?
Hört die Haupt-Gesellschaft wirklich noch auf Goethe und Gutenberg oder doch eher auf Dieter Bohlen und Eminem? Folgt man der aktuellen, geradezu hysterisch geführten Debatte, so könnte man glauben, eine unisono liberale, aufgeklärte, gebildete, gewaltfeindliche, friedfertige, frauen-, kinder- und umweltfreundliche, hochmoderne und doch sanft am Christentum orientierte, und vor allem: homogene Gesellschaft verteidige ihre Werte und ihr Wesen gegen eine fundamentalistisch-rückständige Bedrohung muslimisch-migrantischer Provenienz. Doch dieser Dualismus ist vollkommen wirklichkeitsfremd.
Nach dem die sogenannte Integrationsdebatte, befeuert von den populistischen und zum Teil sachlich schlicht falschen Äußerungen vom ehemaligen Bundesbank-Vorstandsmitglied Thilo Sarrazin, quer durch alle Lager diskutiert wurde, ist gerade eine bemerkenswerte Studie erschienen: Die Studie „Die Mitte in der Krise. Rechtsextremismus in Deutschland 2010“ haben Leipziger Wissenschaftlicher im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführt. Ihre Vorläufer hat sie in den Studien zu rechtsextremen, Gewalt verherrlichenden und menschenverachtenden Einstellungen in Deutschland – „Vom Rand zur Mitte“ (2006) und „Ein Blick in die Mitte“ (2008).
Der derzeitigen öffentlichen Debatte um die mangelnde Integrationsbereitschaft einiger Migranten und um die geistige Verfasstheit eines großen Teils der Nicht-Migranten, in deren Mitte erstgenannte sich bitteschön ordentlich hinein integrieren sollen, geben die Ergebnisse dieser Studie eine unerwartete Pointe: Ein paradoxer Befund der Studie ist, dass die Motive der schärfsten Migranten-und-Parallelgesellschaften-Kritiker oftmals selbst alles andere als fortschrittlich sind.
Demnach speist sich die Ablehnung vieler Deutscher vor allem gegen muslimische Migranten selbst aus zutiefst undemokratischen und oft menschenverachtenden Ressentiments. Sie singen nicht das Hohelied der Aufklärung und der „open society“, sondern machen mit zum Teil rechtsextremen Vorstellungen gegen eine angebliche Überfremdung mobil (über die vor allem diejenigen klagen, in deren Regionen die wenigsten Ausländer in Deutschland leben). Sie sind nicht viel weniger antisemitisch und chauvinistisch gesinnt, als die von ihnen als fremd empfundenen und abgelehnten muslimisch geprägten Migranten.
Nach unten treten, nach oben buckeln: Der zunehmende Hass gegen sozial Schwächere geht einher mit einer wachsenden Akzeptanz autoritärer Gesellschaftsmodelle: Gut jeder vierte Deutsche wünscht sich laut der Umfrage der Friedrich-Ebert-Studie eine „starke Partei“, die die „Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“. Mehr als jeder Zehnte sehnt sich nach einem „Führer“, der „Deutschland zum Wohle aller mit harter Hand regiert“ und hält die Diktatur für „die bessere Staatsform“.
Zurecht analysiert eine Kommentatorin die Ergebnisse der Ebert-Studie: „Während autoritäres Denken, körperliche Gewalt in der Erziehung und Antisemitismus gerade bei vielen Migranten aus muslimisch geprägten Gesellschaften verbreitet sind, werden gerade diese Muslime konfrontiert mit den Ressentiments der narzisstisch gekränkten, krisenverunsicherten Deutschen. Zwei demokratieferne Gruppen antagonisieren einander.“
Die deutsche Leitkultur schrumpft demnach zu einem sozialdarwinistischen Index, der Zugehörigkeit nur akzeptiert, wenn er vermeintliche ökonomische Vorteile mit sich bringt. Von wegen Goethe, Humboldt oder Schiller – alles, was zählt, ist das ökonomische Kalkül und die klamm-diffuse Vorstellung, etwas Besseres zu sein, während „die Anderen“ Sozialschmarotzer sind, kulturferne obendrein.
Die als gemeinsames nationales Interesse formulierte ökonomische Rationalität, heißt es dazu nüchtern in der Ebert-Studie, sei zur dominanten Argumentationsfigur geworden und habe die demokratischen Institutionen geschwächt. Daher komme es nicht zu „Solidarisierung mit den Marginalisierten und Prekarisierten, sondern zur Identifikation mit den Instanzen, die ‚zum Wohle aller‘ gegen ‚Fremde‘ und ‚Sozialschmarotzer‘ diese Sanktionen verhängt haben“. Soviel zur Aktualität der viel beschworenen „christlichen Grundwerte“ unserer Kulturnation.
Dazu passen auch die Befunde des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer, der in seiner Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ seit Jahren eine kontinuierliche Zunahme „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ konstatiert: Betroffen davon sind vor allem sozial und wirtschaftlich marginalisierte Schichten. Eine Entwicklung, die durch die Weltwirtschaftskrise in den vergangenen Jahren deutlich an Dynamik gewonnen hat.
Besonders Horst Seehofer bedient derzeit das Ressentiment mit einer Rhetorik, die aus dem 19. Jahrhundert stammen könnte. Die nationalistische Floskel von „Kulturferner Zuwanderung“ bedient ein Ressentiment, das auf ein angeblich homogenes Staatsvolk rekurriert und sehr an die Wahlkampfparole „Mehr Mut für unser Wiener Blut“ der rechtspopulistischen FPÖ erinnert.
Dabei steht der Wunsch nach einer ethnisch homogeneren Bevölkerung im völligen Widerspruch zu dem ansonsten so wirtschaftsfreundlichen Kurs der Konservativen.
Wie irrational die Debatte verläuft, zeigt sich an ganz anderen Zahlen. So hat nach Meinung von Annette Schavan, immerhin Bildungsministerin einer konservativen Partei, Deutschland nicht zu viel, sondern zu wenig Ausländer: „Nicht Einwanderung muss uns aufregen, sondern Auswanderung aus Deutschland“, erklärte sie vor wenigen Tagen angesichts der Tatsache, dass in den vergangenen zwei Jahren mehr Menschen aus Deutschland fortziehen statt einwandern. Nach Aussage der Wirtschaftsverbände fehlen heute schon rund 400.000 Fachkräfte. Es ist ein großes Versäumnis, dass erst jetzt zaghaft überlegt wird, im Ausland erlangte Abschlüsse in Deutschland mit einfacheren Verfahren anzuerkennen. Bisher sind viel zu viele gut ausgebildete ausländische Fachkräfte hierzulande Taxi gefahren oder Toiletten putzen gegangen. Bleibt es bei dem Mangel an Fachkräften, dann fehlen in wenigen Jahren Millionen Steuer- und Beitragszahler. Dann heißt es auch für Horst Seehofer: Rente gibt es erst mit 72. Bleibt abzuwarten, was Seehofer nach seiner Pensionierung machen wird – in jedem Fall dürfte er Mitglied einer kleinen, feinen Parallelgesellschaft bleiben: Der selbst ernannten Kultur- und Bildungselite dieses Landes.