Mehr als 1.000 Menschen demonstrieren im März 2010 in Chemnitz gegen einen Aufmarsch der NPD © dpa
Als Anfang der neunziger Jahre in Mölln, Solingen, Rostock-Lichtenhagen und anderswo Ausländerheime brannten, wurde vielen Menschen klar: Dies darf nicht der Preis der deutschen Einheit sein. Dennoch begann der Bund erst Jahre später, der rechten Gewalt systematisch und präventiv an die Wurzel zu gehen: durch die Förderung von Aussteigerprogrammen, mit Beratungsnetzwerken und mobilen Beratungsteams in problematischen Regionen, mit Modellprojekten und lokalen Aktionsplänen in den Kommunen.
Von Wolfgang Thierse (SPD)
Die im Jahr 2002 erstmals aufgelegten Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus haben dazu beigetragen, dass viele zivilgesellschaftliche Initiativen und Projektträger entstanden sind, die sich für eine Stärkung der demokratischen Kultur einsetzen. Zahlreiche Menschen haben in den vergangenen Jahren in ihren Städten und Landstrichen, in denen Rechtsextreme die Jugendhäuser, Kulturzentren und Marktplätze beherrschten, öffentliche Räume zurückerobert und eine demokratische Gegenkultur geschaffen. Viele mussten angesichts der wahrgenommenen Dominanz der Rechtsextremen erst einmal ihre eigene Apathie und ihre Angst überwinden und erkennen, dass demokratischer Widerspruch nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist.
Daher war die Bundesförderung von Anfang an vor allem von einem Grundgedanken getragen: Vertrauen. Der Bund stellte Geld für zivilgesellschaftliche Initiativen bereit und vertraute darauf, dass sie selbst am besten wissen, welche Handlungsstrategien, welche Projekte mit welchen Zielgruppen den demokratischen Gemeinsinn aktivieren und den Rechtsextremen Einhalt gebieten können. Die jüngste Evaluierung der Bundesprogramme hat ihnen gute Noten ausgestellt, eine hohe Reichweite und eine breite Wirksamkeit attestiert. Gleichwohl ist das Problem des Rechtsextremismus nicht kleiner geworden. Im vergangenen Jahr, dem zwanzigsten Jahr der deutschen Einheit, zählten wir über 140 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990, die Zahlen der rechtsextremen Straf- und Gewalttaten bewegen sich seit Jahren auf einem sehr hohen Niveau. Und sämtliche Studien der letzten Jahre zeigen, dass rechtsextreme Einstellungen nicht nur am politischen Rand beheimatet sind, sondern bis weit in die Mitte der Gesellschaft reichen.
Unsere Demokratie bedarf – gerade auch in der Auseinandersetzung mit dem Extremismus – des alltäglichen Engagements der demokratischen Bürger. Deshalb ist es geradezu absurd, wenn jetzt das Bundesfamilienministerium den Leitgedanken der bisherigen Programme – Vertrauen in das demokratische Engagement der Bürger – ins Gegenteil verkehrt, den Initiativen grundsätzlich Misstrauen entgegenbringt und sie allesamt unter den Generalverdacht der Verfassungsfeindlichkeit stellt. Denn in der neuen Förderperiode (vom Jahr 2011 an) verlangt Familienministerin Kristina Schröder von den Antragstellern, dass sie eine sogenannte Bestätigungserklärung unterzeichnen. Darin sollen sie sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen und darüber hinaus dafür Sorge tragen, dass dies auch für eventuelle Kooperationspartner gilt – sie sollen also auch für die Gesinnung Dritter haften. Wer diese Erklärung nicht unterschreibt, erhält keine Förderung. Dieses Vorgehen ist demokratiepolitisch fatal, es ist kontraproduktiv, und es widerspricht dem Geist unserer Verfassung.
Die sogenannte Bestätigungserklärung – manche nennen sie auch »Extremismusklausel« oder »Misstrauenserklärung« – berührt Grundfragen der Demokratie: Was darf der Staat von seinen Bürgern verlangen? Darf er ihnen ein Bekenntnis – und sei es ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung – abringen? Oder muss er dies nicht – in Respekt vor dem Bürger – vielmehr voraussetzen? Darf der Staat seine Bürger einer Gesinnungsprüfung unterziehen und sie dazu verpflichten, die Gesinnung ihrer Mitbürger zu überprüfen? Und darf er sie, je nachdem, wie eine solche Prüfung ausfällt, mit positiven oder negativen Sanktionen belegen?
Es gibt in der Tat zwei Fälle, in denen der Staat ein solches Bekenntnis verlangen darf, mit gutem Recht. Beide Konstellationen sind – aufgrund der Bedeutung des staatlichen Verlangens – gesetzlich normiert: Sie betreffen die Verbeamtung und die Einbürgerung. Bei der Verbeamtung rechtfertigt sich dieses Bekenntnisverlangen aus der besonderen politischen Treuepflicht des Beamten gegenüber der Verfassung. Für die Einbürgerung gilt, dass ein Bekenntnis zu den Grundwerten unserer Demokratie als Voraussetzung für eine glücklich verlaufende Integration zu begreifen ist.
So gerechtfertigt ein Bekenntnisverlangen in diesen klar umrissenen Konstellationen ist, so wenig darf es eine Verwaltungsbehörde im Bereich der bloßen Fördermittelvergabe einfordern. Dies zeigen zwei Rechtsgutachten, die sich mit der Bestätigungserklärung befasst haben. Bereits im Dezember hat der Berliner Verfassungsrechtler Ulrich Battis festgestellt, dass die Bestätigungserklärung gegen den Gleichheitssatz des Grundgesetzes verstößt. Seit einigen Tagen nun liegt ein weiteres Rechtsgutachten vor: Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat die vom Bundesfamilienministerium verlangte Erklärung ebenfalls auf Verfassungskonformität geprüft. Diese Prüfung zeigt zwei Dinge sehr klar. Erstens: Der Staat missachte die verfassungsrechtlich garantierte Meinungsfreiheit, wenn er Bürger bereits bei der bloßen Vergabe von Fördermitteln zu einem Bekenntnis zwinge. Zweitens: Der Staat habe kein Recht, seine Bürger zur Gesinnungsschnüffelei gegenüber Mitbürgern zu verpflichten. Auch wenn es sich nicht um unmittelbare Grundrechtseingriffe handele, so gelte doch: Auch im Bereich freiwilliger Leistungen ist staatliches Handeln an die objektive Werteordnung des Grundgesetzes gebunden. Auch im Zuwendungsrecht darf der Staat nicht machen, was er will.
Damit kein Missverständnis entsteht: Es geht nicht darum, über die Gefahren des Linksextremismus naiv-blauäugig hinwegzusehen. Und diese Kritik richtet sich auch nicht gegen die Absicht, eine ungewollte Unterstützung extremistischer Strukturen zu vermeiden. Das ist legitim und geboten. Doch ein so prinzipielles Misstrauensvotum eines staatlichen Ministeriums gegenüber potenziell allen Bürgern – das können und sollten sich selbstbewusste Demokraten nicht gefallen lassen. Demokratie muss sich verteidigen – wer dürfte diese Lehre aus dem Ende der Weimarer Republik vergessen. Aber zunächst einmal beruht Demokratie auf Vertrauen. Wenn der Staat erwartet, dass Bürger für eine demokratische Kultur, also für die Grundlagen des demokratischen Staates selbst eintreten, so tut er gut daran, diesen Bürgern nicht a priori mit Misstrauen zu begegnen. Und wer den Initiativen gegen Rechtsextremismus die Beweislast für die demokratische Gesinnung ihrer Mitbürger übertragen will, der sät eine Kultur des Misstrauens, der erzeugt ein Klima, in dem Engagement und Zivilcourage nicht gestärkt werden, sondern erlahmen.
Das Gefühl wechselseitiger Kontrolle, des sichtbaren, unsichtbaren oder nur vermuteten Überprüfens der Menschen untereinander, vergiftet die Atmosphäre – ein sicheres Mittel, nicht nur junge Menschen von demokratischem Engagement abzuhalten. Wer Demokratie stärken will, sollte gerade auch junge Menschen einladen, sich in ihr zu engagieren, und sie nicht allesamt unter den Generalverdacht der Verfassungsfeindlichkeit stellen. Es geht um eine Kultur der Anerkennung für Engagement, um Vertrauen statt Misstrauen, um Ermunterung statt Kontrolle.
Wolfgang Thierse, geboren 1943, ist Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Von 1990 bis 2005 war er stellvertretender Vorsitzender der SPD