Die umstrittene Statistik wird trotz der Liste von Tagesspiegel, DIE ZEIT und ZEIT ONLINE mit 137 Toten nicht geändert. Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau zeigte sich empört.
Von Tagesspiegel-Autor Frank Jansen
Die Polizei in Bund und Ländern sieht trotz zahlreicher Hinweise auf Mängel bei der Erfassung von Todesopfern rechter Gewalt keine Notwendigkeit, ihre umstrittene Statistik zu ändern. Auch durch die Recherche von Tagesspiegel, DIE ZEIT und ZEIT ONLINE, wonach seit der Wiedervereinigung Neonazis und andere rechte Täter mindestens 137 Menschen getötet haben, sei die offizielle Zahl von 47 Opfern „nicht in Zweifel zu ziehen“, heißt es in einer am Dienstag übermittelten Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage von Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) und ihrer Fraktion. Die beiden Zeitungen hatten im September 2010 eine Liste veröffentlicht, auf der die 137 Todesopfer rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung mit Details zu jedem Fall genannt werden. Im März 2011 schickte die Linksfraktion der Regierung die Anfrage, in der die 90 Todesopfer aufgelistet sind, die in der offiziellen Statistik fehlen. Außerdem wurden 14 Verdachtsfälle genannt, die Tagesspiegel, DIE ZEIT und ZEIT ONLINE ebenfalls recherchiert hatten.
Laut Bundesinnenministerium, das die Antwort verfasst hat, haben „polizeiliche Bund-/Länder-Fachgremien“ die Differenz zwischen der offiziellen Zahl von 47 Toten und den Recherchen von Tagesspiegel und „Zeit“ untersucht. Das Ergebnis: es bestehe kein „Aktualisierungsbedarf“, da die Thematik bereits umfassend in der Antwort der Regierung auf eine Große Anfrage der Linksfraktion aus dem Jahr 2009 aufgearbeitet worden sei. Bundestagsvizepräsidentin Pau reagierte empört. Die Begründung der Regierung „lässt sich zusammenfassen mit ,nicht zuständig, nicht fähig, nicht willens’“, sagte Pau am Mittwoch dem Tagesspiegel. Sie frage sich, wie weit die Regierung das Parlament ernst nehme, wie auch das Problem der mörderischen rechten Gewalt.
In der Antwort der Bundesregierung bleibt unerwähnt, dass die Große Anfrage der Linksfraktion vom Februar 2009 einen anderen Ansatz hatte als die, um die es jetzt geht. Vor zwei Jahren wollte die Linksfraktion nur wissen, wie viele rechte Tötungsdelikte seit der Wiedervereinigung bekannt wurden. Die Linksfraktion nannte keine speziellen Fälle, sondern fragte lediglich nach den Zahlen in Bund und Ländern. Aber auch da zeigte schon die Antwort der Bundesregierung vom Oktober 2009, dass die offizielle Bilanz zu niedrig war. Die Landeskriminalämter von Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt meldeten insgesamt vier rechte Tötungsdelikte nach. Diese Fälle hatte zudem der Tagesspiegel bereits im Jahr 2000 genannt, als gemeinsam mit der „Frankfurter Rundschau“ in einer ersten Recherche zu Todesopfern rechter Gewalt die Defizite in der offiziellen Erfassung beschrieben wurden.
Im Unterschied zu der alten Anfrage der Linksfraktion ging es nun in der vom März 2011 um spezielle Fälle aus der Liste, die Tagesspiegel, DIE ZEIT und ZEIT ONLINE vor einem Jahr geschildert hatten. Dennoch erweckt die Bundesregierung in ihrer aktuellen Antwort den Eindruck, es habe bei der zweiten Großen Anfrage keine neuen Aspekte gegeben, die eine andere Antwort als die aus dem Jahr 2009 nötig machen könnten.
Die Regierung sagt auch, sie habe (im Unterschied zu 2009) diesmal „davon abgesehen“, jene Bundesländer um eine Stellungnahme zu bitten, die in der Opferliste von Tagesspiegel und „Zeit“ mit offiziell nicht registrierten rechten Tötungsverbrechen erwähnt wurden. Als Grund nennt die Regierung eines Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Juli 2009, wonach sich „der parlamentarische Informationsanspruch der Mitglieder des Bundestages nicht auf Gegenstände erstreckt, die sich außerhalb der Zuständigkeit und damit außerhalb des Verantwortungsbereichs der Bundesregierung befinden“. Das scheint allerdings in der Antwort vom Oktober 2009 auf die erste Große Anfrage der Linksfraktion noch keine Rolle gespielt zu haben.
In der aktuellen Antwort der Regierung findet sich allerdings eine Passage, die aufhorchen lässt. Insgesamt elf Fälle rechter Tötungsverbrechen, die in der offiziellen Statistik fehlen, wurden dennoch von der Polizei in „Täglichen Lagemeldungen“ zu politisch motivierter Krminalität genannt. Sieben dieser Fälle seien auch „unmittelbar nach der Tat“ in den Lagemeldungen als „rechtsextremistisch beziehungsweise politisch rechts motiviert bezeichnet worden“. Warum dann aber eine endgültige Einstufung als rechts motivierte Tötungsverbrechen ausblieb, bleibt offen.
Bei den elf genannten Fällen geht es unter anderem um dieTötung der drei jugendlichen Spätaussiedler Viktor Filimonov, Waldemar Ickert und Aleksander Schleicher durch einen Skinhead in Heidenheim (Baden-Württemberg). Der Täter hatte die Opfer im Dezember 2003 vor einer Diskothek erstochen. Erwähnt wird auch der Tod des Punks Thomas Schulz, den ein junger Rechtsextremist im März 2005 an einer Dortmunder U-Bahn-Haltestelle mit einem Stich ins Herz umbrachte.
Nach Ansicht der Bundesregierung ist auch die Kritik am Erfassungssystem der Polizei nicht berechtigt. Im Jahr 2001 hatte die Polizei das Definitionssystem „Politisch Motivierte Kriminalität (PMK)“ mit den Untergruppen „Rechts“, „Links“, „Ausländer“ und „Sonstige“ eingeführt. Dass dennoch die Zahl der offiziell nicht als rechte Tötungsverbrechen registrierten Gewalttaten weiter zunahm, hatte Fragen nach der Effizienz der PMK-Definition hervorgerufen – und danach, ob die Polizei dieses System bundesweit akzeptiert habe. Die Regierung sieht das in ihrer Antwort so: Das PMK-System „bildet das heute wahrgenommene Aufgabengebiet des Polizeilichen Staatsschutzes realistisch und umfassend ab“. Frank Jansen