Das Bundesinnenministerium korrigiert die offizielle Statistik: 58 Morde durch Rechtsextremisten seit der Wende gelten nun als bewiesen. Doch nach Recherchen des Tagesspiegels müssten 148 Namen darauf stehen.
In der seit Jahren anhaltenden Kontroverse über die reale Zahl der Todesopfer rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung gibt es Bewegung.
Von Tagesspiegel-Autor Frank Jansen
Wie der Tagesspiegel am Montag im Bundesinnenministerium erfuhr, werden in der offiziellen Statistik jetzt 58 Tote aufgeführt – das sind elf mehr, als die Regierung im September 2011 gemeldet hatte. In der neuen Bilanz sind die zehn Toten enthalten, die auf das Konto der Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) gehen. Außerdem kommt ein Fall aus Sachsen hinzu, die Ermordung des jungen Irakers Kamal Kilade durch einen Neonazi im Oktober 2010 in Leipzig.
Vermutlich wird die Gesamtzahl demnächst noch um zwei weitere Altfälle, die Sachsen kürzlich aus den Jahren 1996 und 1999 nachgemeldet hat, auf 60 Todesopfer rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung wachsen. Allerdings steht auch dieser Wert in einem größeren Kontrast zu den Recherchen des Tagesspiegels, der Frankfurter Rundschau und ZEIT ONLINE, die eine Zahl von mindestens 148 Toten, darunter die zehn Opfer der Thüringer Terrorgruppe, ergeben. Schon lange werfen Linkspartei, Grüne und Verbände wie die Türkische Gemeinde der Regierung vor, die von ihr gemeldeten Angaben zu rechten Tötungsverbrechen seien zu niedrig.
Die plötzliche Änderung der offiziellen Statistik ist offenbar das Resultat einer Initiative von Innenministerium und Bundeskriminalamt (BKA). War es bislang üblich, dass die Landeskriminalämter die von ihnen als rechts eingestuften Tötungsverbrechen dem BKA melden, wurde nun jenseits der föderalen Prozedur gehandelt. Nach Informationen des Tagesspiegels hat das BKA die zehn Morde der Terrorzelle NSU selbst in die Statistik zu rechts motivierten Tötungsverbrechen aufgenommen – ohne die Voten der Länder oder die noch weit entfernten Prozesse gegen das NSU-Mitglied Beate Zschäpe und mutmaßliche Unterstützer abzuwarten.
„Wir können im Fall NSU nicht ausharren, bis Urteile kommen und wir die Serie von Morden als rechtsextreme Tötungsverbrechen einstufen“, hieß es in Sicherheitskreisen. Das sei kein Bruch von Absprachen mit den Ländern, da bei terroristischen Delikten in der Regel das BKA im Auftrag der Bundesanwaltschaft die Ermittlungen übernehme und dann auch Wertungen vornehmen könne. Die Experten bestritten, dass die Statistik geändert wurde, um Irritationen bei der bevorstehenden Gedenkveranstaltung in Berlin für die Opfer des rechtsextremen Terrors zu vermeiden.
Hätte das BKA allerdings bei der Einstufung der NSU-Morde als rechte Verbrechen auf die Angaben aller betroffenen Länder gewartet, wäre noch viel Zeit verstrichen. Nur Bayern habe bereits die fünf Fälle aus seinem Zuständigkeitsbereich dem BKA als politisch motivierte Delikte mitgeteilt, sagten Sicherheitskreise. Die NSU-Terroristen hatten von 2000 bis 2005 in Nürnberg und München fünf Kleinunternehmer türkischer und griechischer Herkunft erschossen.
Das Bundesinnenministerium will offenbar auch generell in der Debatte um die vom Tagesspiegel und ZEIT ONLINE genannten Todesopfer rechter Gewalt vorankommen. Initiiert vom Ministerium überprüft eine „Bund-Länder-Projektgruppe“ seit dem 14. Februar die statistische Erfassung politisch motivierter Kriminalität. Dort würden auch alle Tötungsverbrechen, die in der offiziellen Statistik nicht auftauchen, aufgerollt, sagten Experten.
Aus den Ländern kommen allerdings widersprüchliche Signale. Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) hat Anfragen von Abgeordneten der Linkspartei und der Grünen zu neun Todesopfern aus der Liste des Tagesspiegels und ZEIT ONLINE abschlägig beschieden. In allen Fällen erkennt Henkel kein rechtes Motiv. Ähnlich sieht es in Nordrhein-Westfalen aus, wo das Landeskriminalamt zwei Dreifachmorde, begangen von Neonazis, weiterhin nicht als politisch motiviert werten will. Innenminister Ralf Jäger (SPD) wirbt jedoch für eine Statistik, die sämtliche Taten erfasst, die Rechtsextremisten verüben, auch wenn sie unpolitisch sind wie ein Ladendiebstahl. Das halten Sicherheitsexperten jenseits von Nordrhein-Westfalen für überzogen. Unterdessen prüfen in Sachsen-Anhalt Innen- und Justizministerium neun Altfälle, die bislang nicht als rechte Tötungsverbrechen eingestuft sind.