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Guter Gauck, böser Gauck

 

Joachim Gauck mit seiner Lebensgefährtin Daniela Schadt © Wolfgang Kumm/dpa

Noch ist er nicht zum Bundespräsidenten gewählt, doch Joachim Gauck polarisiert schon jetzt. Oder besser: Seine tatsächlichen oder vermeintlichen Aussagen zu Sarrazin, Holocaust und Occupy-Bewegung, teilweise Jahre alt, tun es.  Kritiker werfen Gauck einen undifferenzierten Umgang mit Rassismus und der deutschen Geschichte vor. Neurechte Kreise nehmen die Kritik dankend auf und versuchen Gauck als einen der ihren darzustellen. Die umstrittene rechtskonservative Wochenzeitung Junge Freiheit hob Gauck prompt mit der provozierenden Schlagzeile „Wir sind Präsident“ auf die Titelseite. Dass Kritiker wie Befürworter sich größtenteils auf Zitatfetzen stürzen und diese völlig unterschiedlich interpretieren, geht dabei unter.

In Zeitungen, Online-Medien und sozialen Netzwerken tobt seither ein zäher Kampf um die Deutungshoheit über Gaucks Aussagen. Vor allem seine These zum Thema Holocaust sorgt für heftige Diskussionen. Das Original-Zitat stammt aus einem Vortrag Gaucks bei der Robert-Bosch-Stiftung zum Thema „Europa bauen, den Wandel gestalten“. Darin heißt es:

„Unübersehbar gibt es eine Tendenz der Entweltlichung des Holocausts. Das geschieht dann, wenn das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine Einzigartigkeit überhöht wird, die letztlich dem Verstehen und der Analyse entzogen ist. Offensichtlich suchen bestimmte Milieus postreligiöser Gesellschaften nach der Dimension der Absolutheit, nach dem Element des Erschauerns vor dem Unsagbaren. Da dem Nichtreligiösen das Summum Bonum – Gott – fehlt, tritt an dessen Stelle das absolute Böse, das den Betrachter erschauern lässt.

Das ist paradoxerweise ein psychischer Gewinn, der zudem noch einen weiteren Vorteil hat: Wer das Koordinatensystem religiöser Sinngebung verloren hat und unter einer gewissen Orientierungslosigkeit der Moderne litt, der gewann mit der Orientierung auf den Holocaust so etwas wie einen negativen Tiefpunkt (…) Würde der Holocaust aber in einer unheiligen Sakralität auf eine quasireligiöse Ebene entschwinden, wäre er vom Betrachter nur noch zu verdammen und zu verfluchen, nicht aber zu analysieren, zu erkennen und zu beschreiben. Wir würden nicht begreifen.“

Taz-Autor Deniz Yücel sieht darin ein „Bedürfnis nach Schuldabwehr“ und kritisiert gleichzeitig Gaucks „permanente Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus“. „Der Holocaust, meint er, ist eine Ersatzreligion der Gottlosen“, schreibt Yücel über Gaucks Zitat. „Damit stellt er sich in die Tradition von Leuten, die ein Leben und Denken ohne Gott für unvorstellbar halten und den Nationalsozialismus gerne für ein Produkt der Gottlosigkeit halten, anstatt darin auch das in Ideologie wie Praxis modernisierte und radikalisierte Ergebnis des christlichen Antijudaismus zu erkennen.“ Für Yücel ist Gauck ein „reaktionärer Stinkstiefel“.

Jürgen Trittin, Fraktionschef der Grünen und Gauck-Befürworter, reagierte am Donnerstag in der Talkshow Maybrit Illner. Er warf der taz eine unfaire Berichterstattung und einen „Schweinejournalismus“ vor.

„Der Holocaust wird nach Gauck überhöht“, schreibt Blogger Bastian84 auf der Webseite der Wochenzeitung Freitag. „Und zwar in eine Einzigartigkeit, die ihm nach Gauck nicht innewohnt. Das machen ‚bestimmte postreligiöse Milieus‘. Gauck bezeichnet den Holocaust als Ersatzreligion für die Atheisten der Moderne.“

Gaucks Ansichten würden ein Feld öffnen, „das an altbekannte rechte Diskurse über angeblich notwendigen Tabubruch und Political Correctness anschlussfähig sind“, kritisiert Ralf von Raden von den Ruhrbaronen. Er hofft auf eine deutliche Reaktion der Opposition. „Zumindest bei den Grünen muss nun doch noch über die Gauck-Nominierung durch die Parteispitze diskutiert werden. Sollte die zum Teil polemische und überspitzte Kritik in den sozialen Netzwerken das Ihre dazu beigetragen haben, dann ist das zu begrüßen.“

Aber woher kommt plötzlich all die scharfe Kritik an Deutschlands designiertem Bundespräsidenten?

„Die Kritik an Gauck ist weder neu, noch kommt sie einzig aus dem scheinbar ominösen Internet“, kommentiert Andrej Reisin auf Publikative.org. „Die Wahrheit ist: Die Kollegen und ihr politisches Spektrum sind verärgert, weil sie in ihrer Begeisterung für den Kandidaten Gauck dessen für ihre eigene Klientel teilweise hochgradig problematischen Positionierungen schlichtweg übersehen, verdrängt, vergessen haben.“ Reisin befürchtet, dass sich mit Gauck „der politische Diskurs exakt im Sinne der Neuen Rechten verändert – ein fatales Signal für den gesellschaftlichen und politischen Fortschritt in diesem Land.“

Sascha Lobo nimmt Gauck hingegen in Schutz und wirft seinen Kritikern vor, sich auf aus dem Zusammenhang gerissene Zitate zu berufen. „Im weiteren Verlauf der Rede wird klar, dass Gauck mit dem Halbsatz eigentlich meinte, dass es gefährlich sei, so zu tun, als könne sich ein Holocaust sowieso nie wieder ereignen und man daher gar nicht besonders erinnern, analysieren, aufarbeiten müsse – das Gegenteil einer Verharmlosung.“

Welt-Online-Autor Tim Slagman meint indes, den Grund für die Angriffe auf Gauck gefunden zu haben: „Wenn man nicht für einen anderen Kandidaten sein kann, dann ist man gegen Gauck“, schreibt er.

„Wie das Netz den bösen Gauck erfand“, lautet der Titel eines Artikels des Politikmagazins Cicero. Christian Jakubetz wirft darin den Gauck-Kritikern vorschnelle Urteile und fehlende Faktenkenntnis vor. „Er gilt im Internet plötzlich als Antidemokrat, Sarrazin-Freund, Occupy-Gegner und Befürworter der Vorratsdatenspeicherung. Die Mär vom bösen Gauck ist ein Paradebeispiel dafür, wie aus journalistischer Verkürzung und der rasenden Schnelligkeit des Netzes eine Welle wird. Auf Faktentreue kommt es dabei längst nicht mehr an.“

Die rechtskonservative Junge Freiheit ist sich weiterhin sicher: „Die Nominierung Joachim Gaucks ist ein Glücksgriff.“ Das mag stimmen, aber die Hoffnungen des ultra-rechten Milieus, das die Zeitung bedient, wird ein Bundespräsident Gauck wohl dennoch enttäuschen.