Trotz eisiger Temperaturen harren noch immer mehrere Asylbewerber am Pariser Platz aus. Mit einem Hungerstreik protestieren sie gegen Residenzpflicht, Sammelunterkünfte und Asylpolitik. Die Polizei nahm den Flüchtlingen erneut Schlafsäcke weg. Nun schaltet sich auch die Politik ein.
Von den Tagesspiegel-Autoren Daniela Martens, Sigrid Kneist und Annette Kögel
Die Augenlider sind schwer. Mitten im Satz fallen sie zu, während Maiwand erzählt, wie er seit sechs Tagen und Nächten auf dem Pariser Platz ausharrt – ohne zu essen und meist auch ohne Schlaf. Bei eisigen Temperaturen. Der 20-jährige Afghane, der sich wie die meisten hier nur mit seinem Vornamen vorstellt, gehört zu den 20 Asylbewerbern, die am Mittwoch vor dem Brandenburger Tor in den Hungerstreik getreten sind, um gegen die Asylpolitik, die Residenzpflicht und die Unterbringung in Sammelunterkünften protestieren. Am Sonntagabend, als die Temperaturen unter null fallen, hat Maiwand sich eine Steppdecke umgehängt. Er zittert. „Ihm tut der Bauch weh, ein Polizist hat ihm die Nase gebrochen.
Er war im Krankenhaus, hat aber keine Anzeige erstattet“, übersetzt sein Freund Omeaiqbel, 19, ebenfalls aus Afghanistan, der gut deutsch spricht, weil er schon wesentlich länger als Maiwand – drei Jahre – auf eine Anerkennung als politischer Flüchtling wartet. Er wirkt nicht ganz so übernächtigt wie Maiwand. Der hat die Augen jetzt wieder halb geöffnet, starrt ins Leere. Dann reißt er sich zusammen und sagt in gebrochenem Deutsch: „Ich will nicht mehr im Lager leben.“ Und meint die Sammelunterkunft. Die beiden gehören zu einer Gruppe Asylbewerber, die sich Anfang Oktober in einem Protestmarsch von Würzburg nach Berlin aufgemacht hatten.
Nicht nur die Asylbewerber sehen ihre Unterbringung als Problem. Auch die Politik diskutiert darüber – allerdings nur über genügend Schlafplätze für Flüchtlinge. Denn seit Monaten steigen die Flüchtlingszahlen in Deutschland, auch in Berlin. Die vorhandenen Einrichtungen reichen nicht aus. Sozialsenator Mario Czaja (CDU) rechnet für dieses Jahr mit 3500 Asylbewerbern in der Stadt. Die Erstaufnahmestellen in der Motardstraße in Spandau und in der Lichtenberger Rhinstraße sind überlaufen. Rund 900 Plätze in Notunterkünften wurden schon geschaffen; 700 weitere werden laut Czaja kurzfristig noch gebraucht. Platz fanden die Flüchtlinge beispielsweise in einer leer stehenden Grundschule in Heiligensee, in früheren Räumen des Gesundheitsamtes Mitte in der Turmstraße und für wenige Tage auch in einer Turnhalle in Prenzlauer Berg. „In anderen Bundesländern werden Zelte aufgestellt, das wollen wir nicht“, sagt Silvia Kostner vom Landesamt für Gesundheit und Soziales. Der Hintergrund: Die Zahl der Unterkünfte war in den vergangenen Jahren überall in Deutschland drastisch abgebaut worden, weil in den Neunzigern die Asylbewerberzahlen stark gesunken waren.
Dabei geht es den Demonstranten am Brandenburger Tor gerade darum, in eigenen Wohnungen leben zu dürfen und nicht mehr in „Isolationslagern“ wie sie die Heime nennen, die oft sehr dezentral liegen und nur schlecht mit öffentlichen Verkehrmitteln zu erreichen sind.. Das ist nur eine ihrer Forderungen, die sie unter dem Begriff „Menschenrechte für Asylsuchende“ zusammenfassen. Ihre Slogans haben sie auf Schirme geschrieben und diese im Kreis auf dem Pariser Platz aufgestellt: „Kein Mensch ist illegal.“ „Mehr Menschlichkeit.“ Oder: „Ich bin ein Zelt.“ Denn gerade geht es bei ihren Protesten auch darum, in welcher Form sie überhaupt protestieren dürfen. Zurzeit ist eine Kundgebung bis einschließlich 5. November angemeldet. Das bedeutet: demonstrieren – aber ohne Protestcamp mit Zelt, wie zuvor auf dem Oranienplatz in Kreuzberg. Jeder Versuch, eine Isomatte auszubreiten und sich niederzulassen, endet mit einer Konfrontation mit der Polizei, da die sich verpflichtet sieht, die „Auflagen des Versammlungsgesetzes“ durchzusetzen.
Die diensthabenden Polizisten haben keine einheitliche Strategie
Denn in der Nacht siegt oft die Müdigkeit über die Demonstranten, sie lassen sich auf Müllsäcken nieder, in die sie ihre Habseligkeiten verpackt haben: „Manche Einsatzleiter tolerieren das. Aber immer um zwei und sieben Uhr morgens geht die Polizei dagegen vor. Man kann fast die Uhr danach stellen. Manchmal kam es dabei zu unübersichtlichem Gerangel, bei dem auch einige verletzt wurden“, sagt Dirk Stegemann von der Kampagne „Zusammen handeln – gegen rassistische Hetze und soziale Ausgrenzung“. Er hat die Kundgebung angemeldet.
Auch am Montagmorgen zwischen sechs und sieben habe die Polizei wieder begonnen ihre Müllsäcke in einen Lastwagen zu tragen, sagt Omeaiqbel. Drei Stunden später, in der hellen Morgensonne, aber liegen alle Habseligkeiten wieder im Schirmkreis. Ein grüner Polizei-LKW steht leer am Straßenrand, außerdem drei Mannschafts- und ein Streifenwagen. Ein Polizist zeigt auf den Tisch voller Thermoskannen und sagt zu Stegemann: „Ein Tisch war erlaubt. Jetzt steht da ein zweiter und dann stehen da noch so viele Sachen drumherum. So viel zum Thema ‚die Dinge ausreizen‘ Das wird dann als Beweismaterial zum Vorgang genommen“ Solche Sätze verstehen hier auf dem Pariser Platz nur die deutschen Aktivisten und Stegemann. Der diskutiert als nächstes mit der Einsatzleiterin: Sie müssten einsehen, sagt die, dass sie die Straße nicht ohne Sondergenehmigung für ein Camp nutzen dürften. Einige Deutsche versuchen das für die Flüchtlinge ins Englische zu übersetzen. Einfach ist das nicht.
Unterdessen hat sich Sozialsenator Mario Czaja am Montag an den Baustadtrat in Mitte gewandt, „um zu klären, wie das Vorgehen des Bezirksamtes zu rechtfertigen ist“. Im Sozialausschuss des Abgeordnetenhauses sagte Czaja auf Nachfrage der Piraten-Fraktion „bei den niedrigen Temperaturen ist es aus gesundheitlichen Gründen nicht zu verantworten, dass sich die Menschen auf nackter Erde zu einer Demonstration“ zusammenfinden müssten. Am Nachmittag erklärte Mittes Baustadtrat Carsten Spallek seine harte Haltung: Die Straßenbehörde könne „keine dauerhaften Zeltstädte auf dem Pariser Platz genehmigen“. Natürlich dürften sich die Flüchtlinge dort versammeln, „aber alle Übernachtungsgegenstände müssen als unerlaubte Sondernutzung betrachtet werden.“
Wie die Polizisten die Regelung auslegen, scheint sehr unterschiedlich zu sein. „Das hängt immer vom Einsatzleiter ab. Und der wechselt ständig“, sagt Stegemann. „Einer sagt, man darf sich auf die Rucksäcke und Mülltüten setzen, der nächste verbietet es. Das ist doch Zermürbungstaktik.“
Der Polizist, der gerade über den Tisch gesprochen hat, steht jetzt wieder neben Stegmann und sagt: „Da liegt die ganze Zeit einer. Da werden wir bald eingreifen müssen.“ Stegemann seufzt und geht zu dem Liegenden, um ihn zu wecken. Am Dienstag werde er juristisch gegen den Bescheid vom Bezirksamt vorgehen, kündigt Stegemann an. Er werde Einspruch beim Verwaltungsgericht einlegen.
Vor allem Oppositionspolitiker solidarisieren sich währenddessen mit den Flüchtlingen. Die Abgeordnete Canan Bayram (Grüne) ist am Montagmorgen vor Ort und beteiligt sich an der Diskussion mit der Polizei. Sie hilft beim Übersetzen und will sich dafür einsetzen, dass die Flüchtlinge für ihren Hungerstreik ein Zelt aufstellen dürfen: „In Düsseldorf wurde das erlaubt. Das sollte auch in Berlin möglich sein.“, sagt sie.
Zusammenbruch, Krankenhaus und dann zurück zum Protest
Die Landesvorsitzenden der Grünen Berlin, Bettina Jarasch und Daniel Wesener, gaben auch eine offizielle Erklärung ab: Der Umgang der Berliner Behörden mit den Flüchtlingen, die nun schon mehrere Tage im Hungerstreik auf dem Pariser Platz ausharren, ist sei „beschämend für die Stadt.“ Der flüchtlingspolitische Sprecher Hakan Taş der Linken hat die Demonstranten ebenfalls besucht. „Insbesondere das Vorgehen der Polizei ist verantwortungslos“, sagt er. „Angesichts der Kälte geradezu schikanös.“ Er kündigte an, das im Innenausschuss zu thematisieren: „Die Flüchtlinge protestieren völlig zu Recht gegen die diskriminierenden Sondergesetze für Flüchtlinge in diesem Land. Wir unterstützen ihr Anliegen und fordern Senat und Bezirk auf, ihnen das friedliche Protestieren zu ermöglichen. Dabei muss Menschlichkeit vor Härte gehen.“ Er kritisiert die gesundheitliche Versorgung durch den Bezirk im Camp. Schon mehrere Flüchtlinge mussten wegen Verletzungen oder Unterzuckerung ins Krankenhaus gebracht werden. Die meisten kamen schnell wieder zum Pariser Platz.
Auch die Piratenpartei nimmt Anteil. Mehrere Piraten waren schon auf dem Pariser Platz, am Sonntagabend etwa Lutz Boll, der für die Piraten für den Bundestag kandidieren will. In seiner dünnen Sommerjacke über dem Hemd wirkt er neben den frierenden, dick eingepackten Hungerstreikenden seltsam fehl am Platz. Trotzdem macht er ihnen Mut: „Ihr habt Recht“, sagt er zu den Demonstranten. „Man darf diesen Protest nicht ignorieren. So etwas macht man nur aus echtem Leidensdruck.“
Am Montagmorgen ist für einige der Flüchtlinge der Leidensdruck sehr groß geworden. Einige spüren, wie die Zehen taub werden. Hamid, 29, der aus dem Iran stammt, war am Sonntagabend noch ziemlich munter. „Meine Lippen sind etwas trocken, aber sonst geht es mir gut.“ Frühestens am achten Tag werde ihm die Kraft ausgehen, hatte er vor der kalten Nacht geschätzt. Er trinke viel Wasser und Tee ohne Zucker. Am nächsten Morgen aber zittert er heftig und hat seinen Kopf in den Schoß einer Aktivistin gelegt. Von den ursprünglich 20 Hungerstreikenden ist am Montagmorgen nur etwa die Hälfte geblieben. Vielleicht sind aber einige auch nur kurz Duschen gegangen, wie Omeaiqbel am Abend zuvor. Er wirkt immer noch halbwegs munter und auch Maiwand scheint es besser zu gehen. Seine Augen wirken etwas wacher. Doch wenig später wird er zusammenbrechen und ins Krankenhaus gebracht werden – nur um so schnell wie möglich wieder zum Protest zurückzukehren, als es ihm wieder etwas besser geht.
Währenddessen hat Senator Czaja sich an die Streikenden gewandt: „Unabhängig von den gesetzlichen Rahmenbedingungen, die natürlich auch in diesem Fall einzuhalten sind, appelliere ich an die Vernunft der Protestierenden, ihre Gesundheit nicht unverantwortlich aufs Spiel zu setzen. In der nun kälter werdenden Jahreszeit stellen sowohl der Verzicht auf Nahrungsaufnahme als auch das nächtliche Verbleiben im Freien ein hohes Risiko für die Gesundheit der Flüchtlinge dar. Ich habe Gesundheitsstaatssekretärin Demirbüken-Wegner gebeten, zwischen den Organisatoren und dem Bezirk zu vermitteln. Ziel der heutigen Absprache soll es sein, dass der Bezirk Notübernachtungsmöglichkeiten in der Nähe zur Verfügung stellt, die die Protestierenden in der Nacht nutzen können.“ Die Demonstranten jedoch haben das Angebot abgelehnt, die Nacht in einem Gästehaus an der Lehrter Straße zu verbringen und am nächsten Morgen weiterzudemonstrieren. Sie werden noch eine Nacht frieren. „Bis wir eine Antwort von der Bundesregierung bekommen“, sagen Maiwand und Hamid fast unison. Es ist ihr Mantra