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Die Reichsbürger: Skurril und gefährlich

 

Reichsideologie_Broschuere_CoverDie neue Broschüre „Wir sind wieder da“ der Amadeu Antonio Stiftung setzt sich intensiv mit der Reichsbürgerbewegung auseinander und gibt Handlungsempfehlungen für zivilgesellschaftliche Akteure. Wir veröffentlichen einen Auszug aus der Publikation.

Sie zahlen keine Steuern und denken sich Fantasiekönigreiche aus: Auf den ersten Blick wirken „Reichsbürgerinnen“ und „Reichsbürger“ wie eine Realsatire. Doch hinter der harmlos anmutenden Fassade verbreiten die Reichideologinnen und -ideologen rechtsextremes Gedankengut – und greifen nicht selten auch zu Gewalt zur Untermauerung ihrer Ideologie. Die neue Broschüre „Wir sind wieder da – Die „Reichsbürger“. Überzeugungen, Gefahren und Handlungsstrategien.“ der Amadeu Antonio Stiftung erklärt die vielfältige Bewegung – ein Auszug.

Von Jan Rathje

Im April 2012 schrieb eine auf den ersten Blick skurrile Meldung Schlagzeilen: Der Berliner Daniel S. weigerte sich Steuern zu zahlen – als „Reichsbürger“ unterstehe er nicht den Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland. Als die Steuerfahndung die Berliner Polizei um Amtshilfe bat, machte diese eine erschreckende Entdeckung: Daniel S. lehnte nicht nur die Forderungen des Fiskus ab, er hortete auf seinem Gelände auch große Mengen Chemikalien, die zum Bau von Sprengsätzen notwendig sind. Im Prozess, der im April 2014 eröffnet wurde, gab der selbst ernannte „Reichsbürger“ nun an, Opfer einer Sekte geworden zu sein.

So abstrus diese Episode klingen mag, sie macht doch deutlich, dass die vermeintlichen „Reichsbürgerinnen“ und „Reichsbürger“ keinesfalls unterschätzt werden dürfen – auch, wenn sie auf den ersten Blick zum Schmunzeln einladen: So erstellen sie sich eigene Ausweise und Führerscheine, gründen Fantasiekönigreiche, bauen lokale Tauschringe auf, beteiligen sich an den neuen Montagsdemonstrationen oder schwadronieren auf einem der zahllosen Blogs über die Nicht-Existenz der Bundesrepublik Deutschland. Hinter der Maskerade aus Verschwörungsdenken, Esoterik und Regierungsspielchen steckt jedoch eine handfeste rechtsextreme und menschenfeindliche Ideologie. Aus diesem Grund soll im Folgenden nicht die Selbstbezeichnung „Reichsbürgerin“ bzw. „Reichsbürger“ genutzt werden. Vielmehr soll der Begriff Reichsideologin/-ideologe auf das geschlossene Weltbild dieser Personen hinweisen. Darin finden sich nicht nur rechtsextreme und antidemokratische Einstellungen. Anhängende der Reichsideologie neigen ebenfalls dazu, für die Durchsetzung ihrer politischen Ziele Gewalt anzuwenden.

Reichsideologinnen und -ideologen glauben, die Bundesrepublik Deutschland existiere nicht, verweigern die Zahlung von Steuern und wollen ein Deutschland wiedererrichten, das weite Teile Polens einschließt. Unklar sind sich die unzähligen Einzelpersonen und Gruppierungen allerdings darüber, ob sie zum Kaiserreich, der Weimarer Republik oder dem „Dritten Reich“ zurück wollen – oder gleich auf einen neuen Staat setzen sollen. Das Landesamt für Verfassungsschutz Brandenburg bezeichnet diese Menschen als „Reichsideologen und Selbstverwalter“, sie selbst sich unter anderem als „Reichsbürger“, „natürliche beseelte Menschen“ oder „Germaniten“. Selbstverwalter/innen unterscheiden sich von Reichsideolog/innen dadurch, dass sie nicht unbedingt auf ein Deutsches Reich fixiert sein müssen. Sie glauben, dass sie aus der Bundesrepublik Deutschland durch eine Erklärung austreten könnten. Die dafür genutzten Argumente sind nahezu deckungsgleich mit denen der Reichsideologinnen und -ideologen.

Problemursache: Reichsideologie

Die genaue Anzahl von Reichsideologinnen und -ideologen in der Bundesrepublik kann niemand angeben. Ganz allgemein lässt sich jedoch feststellen, dass dieses Phänomen bundesweit auftritt. Auch bei staatlichen Stellen war in der Vergangenheit eine Erhebung schwierig. Das lag zum einen daran, dass reichsideologische Aktionen kaum eingeordnet werden konnten. Zum anderen führte das mangelnde Wissen der Mitarbeitenden zu der dürftigen Datenlage. Seit dem Jahr 2012 gibt es diesbezüglich erste Schulungen durch Verfassungsschutzämter. Auch in der Öffentlichkeit rücken Reichsideologinnen und -ideologen verstärkt in den Fokus. Diese war einigen spektakulären Aktionen geschuldet, denen eine breite Berichterstattung in den Medien etwa seit dem Jahr 2012 folgte. Mehrere dieser Aktionen finden auch in dieser Handreichung Erwähnung. Darüber hinaus haben einige Menschen bereits seit Jahren unangenehmen Kontakt mit ihnen – sei es als Angehörige jüdischer oder muslimischer Religionsgemeinschaften, Mitarbeitende von Finanzämtern oder Leitende in Schulen. Auch Abgeordnete von Landtagen und des Bundestages stellen inzwischen Anfragen zu den „Reichsbürgern“. Reichsideologinnen und –ideologen überfluten zunehmend staatliche Institutionen mit Schreiben, in denen sie seitenlang ihre Ideologie darlegen. Ziel des Ganzen: Vermeidung der Zahlung von Steuern oder Bußgeldern. Andere gehen noch weiter. Sie verschicken Morddrohungen und Todesurteile im Namen des „Reiches“. Dabei hängen nicht alle Reichsideologinnen und -ideologen einer Gruppe, „Reichsregierung“ oder gleich einem König an. Manche fechten zum Teil seit Jahren als Einzelpersonen einen Kampf mit Verwaltungen und Behörden der Bundesrepublik.

Zivilgesellschaftliche Intervention

Nicht nur der Verfassungsschutz setzt sich mit der Reichsideologie auseinander. Seite Jahren beobachten engagierte Einzelpersonen das Treiben im Internet. So sind im Laufe der Zeit umfangreiche Informationen zu Personen, Gruppen und Argumentationen entstanden. Für die Aufklärung bezüglich der Reichideologie sind diese Arbeiten von besonderer Bedeutung. Sie bieten potenziellen Einsteigerinnen und Einsteigern eine kritische Perspektive auf die Reichsideologie.

Die Handreichung soll dieses zivilgesellschaftliche Engagement weiter befördern, indem sie Aufschluss darüber gibt, worum es sich bei der Reichsideologie überhaupt handelt. Wie ist sie entstanden? Was sind ihre grundsätzlichen Elemente? Und was kann gegen die Verbreitung ihres rechtsextremen Gedankenguts getan werden? Zudem werden Aktionen von Reichsideologinnen und -ideologen sowie ganz konkrete Fälle vorgestellt. Ebenso bietet das Gespräch mit dem Experten Andreas Vorrath tiefere Einblicke in die Reichsideologie. Abgerundet wird die Broschüre durch Links zu Beratungsstellen und ergänzenden Informationsseiten zum Thema Reichsideolog/innen.

In der Broschüre sollen einige Gruppen vorgestellt werden, die unter Beobachter/innen der Szene eine gewisse Berühmtheit erlangt haben. Informationen zu anderen Gruppierungen und Einzelpersonen können auf den spezialisierten Webseiten am Ende der Broschüre gefunden werden.

Der Artikel wurde in leicht geänderter Form zuerst auf Netz gegen Nazis veröffentlicht. Die komplette Broschüre kann hier heruntergeladen werden.