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Die fehlenden Konsequenzen aus dem NSU-Komplex

 

Die ausgebrannte Wohnung der NSU-Terroristen in Zwickau © Jan Woitas/dpa
Die ausgebrannte Wohnung der NSU-Terroristen in Zwickau © Jan Woitas/dpa

Vor drei Jahren flog die Terrorgruppe NSU auf. Die Linke veranstaltete aus diesem Anlass ein öffentliches Fachgespräch über die Konsequenzen aus dem Geschehen. Und kommt zu einem deprimierenden Befund.

Von Tagesspiegel-Redakteur Frank Jansen

Es ist mehr als zehn Jahre her, dass in Köln in der Keupstraße eine Bombe hochging, gespickt mit Nägeln. Der Sprengsatz detonierte am 9. Juni 2004 vor einem türkischen Friseursalon, 22 Menschen erlitten zum Teil schwere Verletzungen. „Das war ein Schock“, sagt Mitat Özdemir, „dann kam der zweite Schock“. Jahrelang habe die Polizei auf die mehrheitlich türkischen Bewohner der Keupstraße Druck ausgeübt, „wir sollten jemanden beschuldigen, einen Namen nennen“. Özdemir ist Vorsitzender der Interessengemeinschaft Keupstraße. Er spricht ohne große Betonung, doch seine Empörung ist unüberhörbar. Vor 2004 „hatten wir grenzenloses Vertrauen in die deutschen Behörden“, Özdemir hält kurz inne, „danach nicht mehr“.

Der Geschäftsmann ist einer der Referenten bei einem „Öffentlichen Fachgespräch“, das die Linksfraktion am Montag in Berlin im Reichstagsgebäude veranstaltet. Thema sind die „bisherigen Konsequenzen aus dem NSU-Komplex“, die Fraktion hat mehrere Experten geladen. Was Özdemir berichtet, geht den etwa 100 Teilnehmern unter die Haut. Als im November 2011 nach dem Ende der Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ klar wurde, dass sie die Bombe in der Keupstraße gezündet hatte, „haben wir aufgeatmet“. Der Verdacht der Polizei, für den Anschlag seien türkische oder kurdische Extremisten oder Gangster aus dem Spektrum der organisierten Kriminalität verantwortlich, hatte sich endlich erledigt. „Unter uns hatten wir schon angefangen, uns zu verdächtigen“, sagt Özdemir, „wir wussten gar nicht mehr, wie wir uns verhalten sollen“.

Die furchtbare Bilanz: Zehn Morde, drei Sprengstoffanschäge, 15 Raubüberfälle

Die Traumata, die der NSU hinterlassen hat, werden jetzt wieder verstärkt ein öffentliches Thema. Am 4. November ist der dritte Jahrestag des Showdowns der Terrorzelle, der die Republik schockte – und ihr schlagartig bewusst machte, welche kaum vorstellbaren Versäumnisse von Staat und Gesellschaft die Verbrechen begünstigt hatten. Zehn Morde, mindestens drei Sprengstoffanschläge, 15 Raubüberfälle.

Am Montag listet Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) auf, „wer alles beim NSU-Desaster versagt hat“. Als erstes nennt Pau den Rechtsstaat, der „seine Bürgerinnen und Bürger vor Straftaten, allemal vor Mord, zu schützen“ habe. Dass es misslang, lastet Pau vor allem den Sicherheitsbehörden an. Bei den neun Morden an Migranten habe ein rassistischer Hintergrund nahegelegen, „ermittelt wurde aber im Umfeld der Opfer“.

Pau hält den Nachrichtendiensten vor, sie hätten zahlreiche Informationen besessen, „die zu dem Nazi-Trio hätten führen können“. Aber die Erkenntnisse seien nicht angemessen analysiert und der Kriminalpolizei vorenthalten worden. Auch die Medien hätten versagt, „sie waren fast durchweg zu staatsnah und zu opferfern“. Die Bundestagsvizepräsidentin schont auch nicht sich selbst und ihre Fraktion. Nach dem neunten Mord des NSU, dem Anschlag auf den Internetbetreiber Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel, habe die Linke eine kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt und deren nichtssagende Antwort hingenommen. Pau spricht vom „Wegducken der Politik“.

Als es um die Konsequenzen aus dem NSU-Desaster geht, ist schnell eine Standardforderung der Linkspartei zu hören. „Die Ämter für Verfassungsschutz sind als Geheimdienste aufzulösen“, sagt Pau und bekommt Zuspruch aus dem Publikum. Und von einem der Wortführer der Nebenklage-Anwälte im Münchner NSU-Prozess. „Der Verfassungsschutz in seiner jetzigen Form gehört abgeschafft“, sagt der Berliner Anwalt Sebastian Scharmer. Er und Kollegen vertreten in dem Verfahren am Oberlandesgericht München die Familie von Mehmet Kubasik, den die NSU-Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt am 4. April 2006 in Dortmund erschossen.

Der Verfassungsschutz habe rechtsextreme Strukturen „gestärkt anstatt sie zu beschränken“, kritisiert Scharmer. Nach seinen Recherchen tummelten sich 42 V-Leute aus Nachrichtendiensten und auch der Polizei im Umfeld des NSU. Scharmer glaubt nicht, dass die Rolle der Spitzel im Prozess zu klären ist. Die Bundesanwaltschaft sei bemüht, die V-Leute und den Verfassungsschutz insgesamt „aus dem Prozess herauszuhalten“.

Der Anwalt appelliert an den Bundestag, einen weiteren Untersuchungsausschuss zum NSU-Komplex einzusetzen. Anders sei die Rolle des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Militärischen Abschirmdienstes und gegebenenfalls des Bundesnachrichtendienstes „nicht aufzuklären“. Auch mit der Bundesanwaltschaft müsse sich der Untersuchungsausschuss befassen. Und Scharmer äußert den Verdacht, die Ankläger wollten das Münchner Verfahren möglichst schnell hinter sich bringen. „Die Bundesanwaltschaft macht einen Musterprozess und den Rest tot“, sagt Scharmer. Der „Rest“, das sind die noch anhängigen Verfahren gegen neun weitere Beschuldigte im NSU-Komplex sowie ein Strukturverfahren gegen Unbekannt. Dass da irgendwo noch eine Anklage kommen könnte, sieht Scharmer nicht.

Ist der Verfassungsschutz noch reformierbar? Viele haben da wenig Hoffnung

Angesichts der vielen Dresche für den Verfassungsschutz bei dem Fachgespräch ist es nicht ganz leicht, eine etwas andere Meinung zu vertreten. „Es gibt durchaus Spezialisten, die eine gute Arbeit geleistet haben“, sagt Hartmut Aden, Professor für Öffentliches Recht und Europarecht bei der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht. Aden beeilt sich anzufügen, „das ist eher die Ausnahme als die Regel“. Doch er ist „relativ optimistisch, dass die Behörden anfangen, auf mehr Diversität bei den Mitarbeitern zu achten“, also auf einen Zuwachs an wissenschaftlicher Kompetenz. Nur mit anderem Personal als in der Vergangenheit könne der Verfassungsschutz seinen einzigen Zweck erfüllen, die Frühwarnfunktion wahrzunehmen bei Phänomen wie Salafismus und Neonazis.

Viel Beifall bekommt Aden nicht. Die sächsische Landtagsabgeordnete Kerstin Köditz (Linke) betont, „ich halte die Geheimdienste nicht für reformierbar“. Der Berliner Jurist hingegen gibt dem Verfassungsschutz eine Chance. Aden wirbt für gesetzliche Regelungen, wie sie Nordrhein-Westfalen und Bremen eingeführt haben und Niedersachsen gerade plant. Dort kämen Personen, die schon durch schwere einschlägige Straftaten aufgefallen seien, nicht mehr als V-Leute in Frage. Und Aden plädiert für mehr Kontrolle, vor allem durch die Parlamente. Listig formuliert er die Konsequenz. Die Abgeordneten seien dann in der Pflicht, sich „regelmäßiger“ mit Verfassungsschutzfragen zu beschäftigen. Sollte etwas schief laufen, würden auch dann eher auch die Parlamentarier gefragt, „ob sie sich das genau angeschaut haben“.