Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Der Nazi-V-Mann und der NSU

 

Die ausgebrannte Wohnung der NSU-Terroristen in Zwickau | Foto: André Karwath
Die ausgebrannte Wohnung der NSU-Terroristen in Zwickau | Foto: André Karwath

Lotste ein Neonazi-V-Mann den Verfassungsschützer Andreas Temme 2006 an den NSU-Tatort in Kassel ? Es gibt neue Hinweise, die diese These untermauern, zudem spielte der Geheimdienstler die Rolle seines Informanten herunter.

Andreas Temme galt im hessischen Landesamt für Verfassungsschutz als ehrgeizig. Vom Postboten hatte er sich zum Quellenführer hochgearbeitet mit besten Verbindungen nach Wiesbaden. Und dennoch will der Geheimdienstler von 2003 bis 2006 nur eine rechte Quelle, die „Gewährsperson 389“ geführt haben, deren Informationen nicht „sonderlich ergiebig“ waren. Seinen Informanten, den rechtsmotivierten Straftäter Benjamin G. aus Kassel traf er zwar ein bis zweimal im Monat, aber Berichte von den Meetings verfasste der Geheimdienstler kaum, weil „nichts von Bedeutung“ mitgeteilt worden sei. Überhaupt sei G., so Temme, nur als Informant für die inzwischen völlig bedeutungslose „Deutsche Partei“ geführt worden. Eine Aussage, die aufhorchen lässt. Warum sollte das LfV Hessen einen jungen Neonazi, der über enge Kontakte zum militanten Kasseler „Sturm 18“, zu „Blood & Honour“-Nordhessen und einem Dortmunder „Combat 18“ -Ableger verfügte, ausgerechnet zu einer Altherren-Partei bezahlen, die seit spätestens 2005 in Hessen defacto keine Rolle mehr spielte ?

Der Mord an Halitz Yozgat 2006 war der neunte und letzte in der Ceska-Mordserie mit rassistischem Hintergrund, die sechs Jahre zuvor begonnen hatte. Jetzt allerdings gerät die Behauptung von Temme, er sei zufällig am Tatort gewesen, ins Wanken. Die „Welt am Sonntag“ zitiert aus Beweisanträgen der Hamburger Anwälte der Yozgats und mutmaßt, der Verfassungsschützer habe vorher konkrete Kenntnisse von der geplanten Tat, der Tatzeit, dem Opfer und den Tätern erhalten. Anlass dafür war ein Telefonat zwischen Temme und seiner Behörde nach dem Mord, welches von der Polizei abgehört wurde. Aus den Mitschnitten geht hervor, dass der Geheimschutzbeauftragte des Verfassungsschutzes in Hessen den Kollegen Temme auf die Vernehmung mit der Polizei vorbereitete und äußerte: „Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, dann nicht vorbeifahren.“ In den Polizeiabschriften soll laut Medienberichten der zentrale Satz allerdings gefehlt haben.,

Am Tag des NSU-Mordanschlags auf den 21-jährigen Halit Yozgat führten Quellenführer und rechte Quelle tatsächlich zwei Telefongespräche. Zunächst rief Benjamin G. Temme gegen 13 Uhr kurz an. Dann um 16.10 Uhr am 4. April meldete der sich zurück, diesmal sprachen sie länger. Kurz darauf verließ der Verfassungsschützer sein Büro und fuhr zum Internetcafé der Familie Yozgat in der Holländischen Straße in Kassel. Wenig später, gegen 17 Uhr, sollen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt den Laden betreten und den 21-jährigen Halit Yozgat erschossen haben. Kurz danach muss auch Temme hinausgegangen sein.

Die Kasseler Tat war ein ungewöhnlich unvorsichtiger Mord. Er geschah zur Feierabendzeit, und vom Tatort fanden sich 2011 im Brandschutt sogar Skizzen, allerdings waren die nicht völlig korrekt. Ermittler fragten sich, ob die Zeichnung vorher oder nachher angefertigt worden sei und von wem ? Zum Zeitpunkt des Mordes befanden sich zudem mehrere Zeugen im Café. Sie hörten Geräusche, einer hatte den Verfassungsschützer zuvor mit einer Tüte hereinkommen sehen. Der Beamte jedoch verschwieg zunächst seine Anwesenheit. Die Fahnder kamen ihm auf die Spur. Etwa drei Wochen nach der Tat wurde er verhaftet. Der ausgewiesene Waffennarr will weder die Schüsse in dem engen Raum gehört, noch beim Verlassen des Internetcafés das verblutende Opfer hinter dem Thresen bemerkt haben. Eine Tüte habe er auch nicht dabei gehabt, so Temme.

Nur zwei Tage zuvor, am 2. April 2006, hatten die beiden NSU-Täter in Dortmund Mehmet Kubasik erschossen. Der Tatort befand sich ganz in der Nähe von Szenekneipen und Wohnorten radikaler Neonazis. Temmes damaliger Kasseler Informant verfügte über spannende Kontakte ins Dortmunder Neonazi-Milieu.

Hatte Temme womöglich kurzfristig einen Tip aus der rechten Szene erhalten und sich vergewissern wollen was dran war ? Insider-Wissen kann in den radikalen Neonazi-Netzwerken nicht ausgeschlossen werden. Ein Kasseler Zeuge aus dem direkten politischen Umfeld dess hessischen Spitzel Benjamin G. gab später zu Protokoll Mundlos und Böhnhardt gekannt zu haben. Auch verfügte der Chemnitzer Blood & Honour-Anführer Thomas Starke, der vor allem Mundlos protegierte, über gute Kontakte nach Dortmund. Ein weiterer Zeuge will den NSU-Mörder kurz vor dem Mord dort sogar im Taxi gesehen haben. Könnte es Seilschaften zwischen dem NSU, militanten Neonazis aus Dortmund und Kassel gegeben haben ?

Einiges spricht dafür. Nur wenige Wochen vor den beiden letzten NSU-Morden fand am 18. März 2006 ein Rechtsrock-Konzert ausgerechnet mit der Dortmunder Band Oidoxie in Hessen statt. Der Veranstaltungsort soll das Clubhaus des MC Bandidos gewesen sein, nur etwas über einem Kilometer vom Internetcafé der Yozgats entfernt. Oidoxie solidarisiert sich heute mit dem NSU-Angeklagten Ralf Wohlleben, es bestehen auch Kontakte zur Chemnitzer Szene. Bis 2006 bekannten sich Bandmitglieder offen zum bewaffneten Blood & Honour-Ableger „Combat 18“, versuchten sogar eine eigene miltitante Zelle mit nur sieben Mitgliedern aufzubauen, wie der ehemalige V-Mann Sebastian Seemann berichtete. Einer der Musiker von Oidoxie, Marco E., stammt aus Hessen, sein Draht nach Kassel hält bis heute.

In Kassel entstand etwa 2005 ein Arm der „Streetfigthing Crew“ von Oidoxie, der für die Sicherheit bei Konzerten sorgen sollte. Diese Crew stand allen Anschein nach mit der Dortmunder Combat 18-Zelle in Verbindung. An die Mitglieder des Geheimbundes wurden die Turner-Tagebücher als Anleitung für den Zellenaufbau verteilt. Anschlagspläne sollen diskutiert worden sein, es gab Schießübungen. Zum C 18-Kreis gehörte auch Robin Schmiemann, ein Dortmunder Neonazi, der 2007 bei einem Überfall einen Migranten anschoss. Ausgerechnet zu ihm hielt die NSU-Angeklagte Beate Zschäpe engen Briefkontakt. Briefe mit einer Länge von 26 Seiten wechselten bis 2013 zwischen den Gefängnissen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich die beiden bereits vorher kannten. Tatsächlich suchen sich mutmaßliche NSU-Terroristen anscheinend auch nach 2011 noch Kontakt zu anderen Terrorzellen. So verkehrt Zschäpes Mitangeklagter Andre Eminger mit verurteilten Rechtsterroristen der 2003 aufgeflogenen Münchener Zelle um Martin Wiese.

Der hessische V-Mann Benjamin G., den Verfassungsschützer Temme drei Jahre lang, angeblich nur wegen der „Deutschen Partei“ führte, war wegen Körperverletzungs- und Sachbeschädigungsdelikten, Volksverhetzung sowie dem Zeigen verfassungsfeindlicher Kennzeichen polizeibekannt. Sein in der Szene einflussreicher Stiefbruder Christian W. hatte bereits 2000 die Kameradschaft Kassel gegründet, war dann ins Umfeld von Sturm 18 und Blood & Honour in Kassel gewechselt. 2001 wurde G. zudem bei einer Neonazi-Aktion im thüringischen Eisenach polizeilich festgestellt. Gemeinsam mit anderen zogen die Brüder marodierend durch die nordhessischen Straßen. Der heute 35-Jährige ehemalige Spitzel lernte damals viele Aktivisten mit weitreichenden Verbindungen kennen, darunter auch Mitglieder der konspirativen Oidoxie-„Streetfighting Crew“. Kontakte gab es auch zur damals noch geheimen „Arischen Bruderschaft“ von Thorsten Heise, die im Dreländereck zwischen Niedersachsen, Hessen und Thüringen agiert. Deren Logo zeigt zwei gekreutzte Handgranaten.

Warum der Quellenführer und die angeblich unbedeutende Quelle so kurz vor dem Mord in Kassel zwei mal telefonierten, könnte zur Schlüsselfrage werden. Beide können sich daran angeblich nicht mehr erinnern. Temmes „restriktives“ Aussageverhalten gegenüber der Polizei ist inzwischen medial bekannt. Tatsächlich kamen die Telefonate erst sieben Jahre später bei den NSU-Ermittlungen zu Massenspeicherungen zu Tage.

2012 hatte Benjamin G. in einer Vernehmung gegenüber dem BKA bereits über das besagte Oidoxie-Konzert von 2006 in Kassel gesprochen und angeboten, eine DVD des Konzertmitschnitts zu suchen. Die Aufnahmen könnten spannend sein. Warum wurde der Spur anscheinend nicht intensiver gefolgt ?

G. will diese DVD vom Kasseler Kameraden Michel F. erhalten haben. Der gehörte zur „Streetfigthing Crew“, die für die Sicherheit zuständig war. Michel F. selbst räumte in seiner Vernehmung ein, mit Böhnhardt vor 2006 in Thüringen zusammen „gesoffen“ zu haben, später habe er dann auch Mundlos irgendwann bei einem Konzert getroffen, das sei vor 2007 gewesen. Anscheinend fragte keiner der Ermittler genauer nach. Einen Antrag der Nebenklage Michel F. als Zeugen vor dem Oberlandesgericht München zu vernehmen, wurde kürzlich abgelehnt.

Untergegangen scheint ein weiterer Kasseler Kontakt ins NSU-Unterstützerumfeld: 2005 stellten Kasseler Mitglieder der Combat 18-nahen „Streetfigthing Crew“ die Security bei einem Konzert im Schützenhaus im thüringischen Pößneck. Dort waren vor allem Ralf Wohlleben und Andre Kapke die Ansprechpartner. Organisiert worden war das Konzert von Thorsten Heise. Ausgerechnet den mutmaßlichen Waffenhändler und zwiellichtigen Neonazi Jug P. katapulitierte die Kasseler Truppe in Pößneck damals vor die Tür. Weswegen es zum Streit kam ist unklar. Aber viele Protagonisten im NSU-Verfahren verkehrten vor 2006 miteinander.

Auch vor diesem Hintergrund bleibt es unerklärlich, warum weitere Aussagen von Verfassungsschützer Andreas Temme in seiner Vernehmung vom 20. März 2012 durch die Generalbundesanwaltschaft anscheinend nicht kritischer hinterfragt wurden. Der behördliche Rechtsextremismus-Experte mit dem Beinamen „Kleiner Adolf“ wollte den Ermittlern demnach weis machen, dass ihm die Kasseler Bezeichnung „Sturm 18“ nichts sage, er zur „Arischen Bruderschaft“ nichts wisse und den „Thüringer Heimatschutz“ nur aus der Presse kenne. Im Hinblick auf die langjährigen Verbindungen zu seinem Schützling Benjamin G. können solche Angaben nur die Unglaubwürdigkeit des Beamten untermauern.

Dessen Verständnis von Rechtsstaatlichkeit soll übrigens schon einmal hinterfragt worden sein, als 2004 bei einer Hausdurchsuchung in Offenbach eine mit dem Verweis „VS NfD“ gekennzeichnete Polizei-Broschüre über Organisierte Kriminalität bei einem führenden Hells Angels-Rocker gefunden wurde. Damals geriet anscheinend auch Temme in Verdacht. Er kannte den betroffenen Präsidenten des MC Hells Angels privat.