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Wie nah war V-Mann „2100/ Hagel“ dem NSU-Trio?

 

Die ausgebrannte Wohnung der NSU-Terroristen in Zwickau | Foto: André Karwath
Die ausgebrannte Wohnung der NSU-Terroristen in Zwickau | Foto: André Karwath

Zwei zentrale Zeugen aus dem neonazistischen V-Leute System rings um das NSU-Kerntrio sollen am kommenden Mittwoch vor dem Oberlandesgericht München gehört werden: Neonazi Marcel D., langjähriger Blood & Honour Führungskader aus Thüringen und V-Mann für den Thüringer Verfassungsschutz und sein zeitweiliger V-Mann Führer, Norbert Wießner.

Von Hilde Sanft

In seiner ersten Zeugenaussage vor Richter Manfred Götzl Anfang März hatte Marcel D. sowohl geleugnet, das NSU-Kerntrio zu kennen als auch der V-Mann mit dem Decknamen „2100/Hagel“ gewesen zu sein, den Norbert Wiesner in den 1990ern Jahren angeworben hatte und für die untergetauchten Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe rund 1.000 Euro Spendengelder gesammelt hatte. Bislang profitierten Marcel D., aber auch seine V-Mann Führer davon, dass seine V-Mann-Akten im Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz auf ungeklärte Art und Weise verschwanden – und bis auf drei Meldungen – bis heute nicht wieder aufgetaucht sind. Das Ausmaß der Vertuschung ist damit vergleichbar mit der „Operation Konfetti“, mit der beim Bundesamt für Verfassungsschutz unmittelbar nach der Selbstenttarnung des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) im November 2011 die Akten von sieben weiteren neonazistischen V-Leuten aus Thüringen im Schredder vernichtet wurden. Auch im Fall von Marcel D. hat das Bundesamt für Verfassungsschutz eine Aufklärung bislang erfolgreich blockiert: Anfang April räumte Ole Schröder, Staatssekretär im Bundesinnenministerium, ein, dass im Bundesamt für Verfassungsschutz knapp 70 Deckblattmeldungen von VM Hagel sowie eine nicht bezifferte Anzahl weiterer Akten vorhanden seien, die der Geheimdienst dem Bundestagsuntersuchungsausschuss zum NSU vorenthalten hatte.

Er sei niemals V-Mann des thüringischen Landesamtes für Verfassungsschutz gewesen, beteuerte der heute 40-jährige Marcel D. als Zeuge vor dem OLG München Anfang März zur Überraschung und Verärgerung von Richter Manfred Götzl. Doch trotz Vorhalt der Aussagegenehmigung, die der Thüringische Verfassungsschutz für seinen langjährigen V-Mann „2100/Hagel“ dem Gericht eigens übersandt hatte, blieb der „selbstständige Unternehmer in der Kommunikationsbranche“ dabei, kein Neonazi-Spitzel gewesen zu sein und das Trio nicht unterstützt zu haben. Auch in seiner Vernehmung beim Bundeskriminalamt hatte D. seine V-Mann-Tätigkeit geleugnet. Die Einschätzung der Beamten zum Wahrheitsgehalt dieser Aussage fällt eindeutig aus: D. erwecke „nicht den Eindruck, an der Wahrheitsfindung im hiesigen Ermittlungsverfahren aktiv mitwirken zu wollen, insbesondere wenn es konkret wurde,“ stellen die BKA-Beamten fest. Vor dem Hintergrund seiner „Tätigkeit als Quelle beim Thüringer Verfassungsschutz,“ in der er nachweislich in „Maßnahmen zur Aufenthaltsfeststellung des Trios eingebunden“ gewesen sei, erscheine „nicht schlüssig, dass er sowohl zu jeglichen relevanten Kontaktpersonen des Trios, als auch zu Themen wie Waffenbeschaffung in der rechten Szene keine Auskünfte geben könne.“

Das „Who is Who“ der militanten Neonaziszene

Zwei Adressbücher und zahlreiche Notizen, die bei Marcel D. schon im März 2000 beschlagnahmt wurden und den Prozessbeteiligten am OLG München bislang aber nicht vorliegen, zeigen deutlich die engen Verbindungen zwischen dem selbstständigen Bauunternehmer und dem NSU-UnterstützerInnen-Netzwerk. Die Staatsanwaltschaft Gera hatte damals u.a. gegen Marcel D. wegen eines Propagandadelikts nach § 86a StGB ermittelt. Am 30. März 2000 durchsuchten Beamte seine Wohnung und wurden schnell fündig. Sie beschlagnahmten einen Computer, Notizzettel und eine Adresssammlung. Alphabetisch geordnet spiegelten die Adressbücher das „Who is Who“ der Führungskader aus den Netzwerken von Blood&Honour und der Hammerskins im In- und Ausland wieder. Legt man die bei Marcel D. beschlagnahmte Adresssammlung neben das so genannte Adressbuch von Uwe Mundlos – einen Zettel mit knapp fünfundzwanzig Neonazinamen und Telefonnummern, den die Polizei 1998 in einer von Beate Zschäpe angemieteten Garage fand und erst im November 2011 nach der Selbstenttarnung des NSU auswertete, fällt das hohe Maß an Übereinstimmung auf. Der nun wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung in München angeklagte Holger G. findet sich ebenso wie die anderen Angeklagten Ralf Wohlleben André E. in den jeweiligen Adressverzeichnissen und wie Sven R., der mit Böhnhardt Anfang der 1990er Jahre in einer Zelle im Jugendknast gesessen hatte und 1999 mit weiteren Neonazis bei einem bewaffneten Überfall auf einen Geldtransporter in Thüringen knapp 70.000 Mark erbeutete. Auch Andreas S., über dessen Neonazi-Laden „Madley“ in Jena die Mordwaffe in der rassistischen Mordserie an das untergetauchte Trio geliefert worden sein soll, ist in beiden Verzeichnissen mit Telefonnummern vermerkt.

Die bei Marcel D. beschlagnahmten Adresssammlungen bestätigen die Einschätzung seiner BKA-Vernehmungsbeamten, der ehemalige B&H Führungskader wolle nicht zur Wahrheitsfindung beitragen. So hatte D. bei seiner BKA-Vernehmung im September 2012 vehement geleugnet, den in München ebenfalls angeklagten André E. zu kennen. In seinem Adressverzeichnis findet sich André E. sogar mit dem Zusatz „Johanngeorgenstadt“ und einer Mobiltelefonnummer. Auch zu seinen Kontakten mit den sächsischen Unterstützern und Unterstützerinnen des ab Januar 1998 zunächst in Chemnitz durch Blood&Honour Aktivisten wie Thomas Starke untergebrachte Trio gab sich Marcel D. vor Richter Manfred Götzl und beim BKA extrem zugeknöpft. Dabei belegt die Adresssammlungen nicht nur, dass es kaum ein Mitglied der B&H Gruppe in Chemnitz gab, dessen Mobiltelefonnummer Marcel D. nicht verzeichnet hatte. Die Zielfahndung des LKA Thüringen hatte in Telefonüberwachungsmaßnahmen bei der Suche nach Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe schon im August 1998 mehrere längere Telefonate zwischen Marcel D. und Hendrik L. aus Chemnitz festgestellt. Hendrik L. hatte im Prozess gegen Beate Zschäpe am OLG München seine Freundschaft mit Uwe Mundlos und Besuche in einer konspirativen Wohnung des Trios eingeräumt. Auch Telefonate zwischen Marcel D. und dem damaligen Neonaziladen-Betreiber Michael P. aus Limbach-Oberfrohna ermittelten die Thüringer Zielfahnder. Gegen dessen damalige Ehefrau Antje P. ermittelt die Bundesanwaltschaft, weil sie vermutet, dass sie Beate Zschäpe u.a. ihren Reisepass zur Verfügung stellen wollte. Und mit Max-Florian B. aus Chemnitz, der dem Trio ebenfalls Unterschlupf gewährt hatte und seine Ausweispapiere zum Anmieten von Wohnungen und einem Konto zur Verfügung gestellt hatte, war Marcel D. bei einer Blood & Honour Bus-Tour zu einem Aufmarsch zu Ehren der ungarischen Mitglieder der Waffen-SS in Budapest im Februar 1998 angereist.

Spenden fürs Trio

Lediglich seine Freundschaft mit Thomas Starke räumte Marcel D. gegenüber den Vernehmern vom BKA ein. Circa alle zwei Wochen habe er Thomas Starke damals getroffen. Starke, der erste Quartiermacher des abgetauchten Trios in Chemnitz, war seit den frühen 1990er Jahren eng mit Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe befreundet und zeitweise mit Zschäpe liiert gewesen. Er hatte dem Trio auch den Sprengstoff für die 1998 in Jena gefundenen Rohrbomben besorgt. Im November 1999 bot Marcel D. laut einer Deckblatt-Meldung des Thüringischen Landesamtes für Verfassungsschutz am Rand eines von ihm organisierten Konzerts mit über 1.000 Neonazis in Schorba seinem Freund Thomas S. Geld für das abgetauchte Trio an. Wörtlich heißt es hier:

„Beim Treff am 20.11.1999 wurde auf Nachfrage zu Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos von VM 2100 mitgeteilt, dass Thomas Starke, aus Dresden, „B & H“-Mitglied in Sachsen, beim Skinheadkonzert am 13.11.1999 in Schorba von dem „B & H“ Sektionsführer „RIESE“ eine finanzielle Spende für die „Drei“ angeboten worden sei, worauf er spontan geantwortet habe, dass die „Drei“ kein Geld mehr brauchen würden, weil sie „jobben“ würden.

Weitere Angaben seien von Starke nicht gemacht worden und von „Riese“ keine weiteren Fragen zu den „Drei“ an Starke gestellt worden.“ Marcel D., der in der Szene unter dem Spitznamen „Riese“ bekannt war, hatte schon ein halbes Jahr vorher Geld für das Trio am Rand eines Konzerts gesammelt. In einem Telefon mit dem V-Mann Tino Brandt hatte Uwe Böhnhardt im März 1999 erklärt, dass eine Spende in Höhe von 1.000 D-Mark aus den Einnahmen eines Konzertes nicht bei ihnen nicht angekommen sei. Und aus einem weiteren Vermerk des LfV Thüringen vom 9. September 1998, die als Quelle den V-Mann 2100 mit Spitznamen „Riese“ benennt, geht hervor, dass im Frühsommer des Jahres 1998 bei einem Konzerten im Treffpunkt des „Thüringer Heimatschutzes“ (THS) Spenden für das Trio gesammelt worden seien. Der THS-Aktivist André Kapke, ein enger Wegbegleiter des Trios, hatte Marcel D. mitgeteilt, dass das Geld – 700 D-Mark – angekommen sei. Diese Zahlung erscheint in einer Sammlung von Geldzahlungen an andere Neonazis sogar unter dem Kürzel „3 ca. 700,-“ am Ende des bei Marcel D. beschlagnahmten Adressbuchs. Hier hatte Marcel D. als „Kassenwart“ und einer von drei zentralen Führungskadern von Blood & Honour vor dem Verbot offenbar eine Art von Buchführung für das militante Neonazinetzwerk schriftlich fixiert. Und dass Marcel D. ebenso wie das untergetauchte Trio und seine Unterstützer offensichtlich auf Telefonzellen auswich, um polizeilichen Überwachungsmaßnahmen zu entgehen, legt eine Liste von mehreren Telefonzellen und deren Nummern nahe, die feinsäuberlich durchnummeriert ebenfalls in dem Adressbuch vermerkt sind.

Wie nah stand der V-Mann dem Trio wirklich?

In seiner Vernehmung beim BKA äußert sich D. ungewöhnlich vorsichtig auf die Frage, ob er das Trio gekannt habe. Er könne nicht ausschließen, dass er den Dreien mal bei einem Konzert begegnet sei. Gegenüber Richter Götzl hingegen verneinte Marcel D. selbstsicher jegliches Kennverhältnis. Dass Uwe Böhnhardt und Marcel D. befreundet waren, wussten in Thüringen viele, sagt ein Aussteiger. D., der wie alle Blood & Honour Führungskader ein Selbstbild als militanter Neonazi und Gegner „des Systems“ pflegte, habe Uwe Böhnhardt zu seinem Rechtsanwalt Gerd Thaut in Gera mitgenommen, als Böhnhardt 1997 festgenommen wurde. Im Prozess um einen Puppentorso, den Böhnhardt mitsamt einer Bombenattrappe und einem gelben Stern an einer Autobahnbrücke bei Jena befestigt hatte, vertrat Anwalt Thaut Uwe Böhnhardt dann auch durchaus erfolgreich. Thaut blieb auch weiterhin anwaltlich für D. und Böhnhardt tätig: Die Familie Böhnhardt beauftragte ihn für die letztendlich erfolglosen Verhandlungen mit der Staatsanwaltschaft Gera, in denen sondiert wurde, ob sich das Trio nach seiner Flucht stellen würde. Und für Marcel D. klagte Thaut – erfolglos – gegen das B&H Verbot. Diese Klage habe letztendlich zur Abschaltung von VM 2100/Hagel geführt, hatten vor dem Thüringer Untersuchungsausschuss zum NSU mehrere hochrangige Verfassungsschutzmitarbeiter ausgesagt. Schließlich stand auch der Verdacht im Raum, dass einer der Beamten seinen V-Mann vor der Razzia im September 2000 gewarnt hatte. Denn genervte Polizeibeamte vermerkten danach: „Vor Ort stand ein PC-Monitor, ein PC-Keyboard und ein eingeschalteter Drucker sowie ein Funkscanner, aber kein Computer“. Mehr als 150 Mal habe er sich in den Jahren 1997 bis 2001 mit V-Mann 2100/Hagel getroffen, musste sein ehemaliger V-Mann Führer Jürgen Zweigert vor dem Thüringer Untersuchungsausschuss einräumen. Sein Vorgesetzter erklärte den Abgeordneten, der V-Mann habe Informationen geliefert, über die die anderen Landesämter für Verfassungsschutz „nur gestaunt“ hätten. Nachprüfen konnten die Abgeordneten diese Behauptungen genauso wenig wie die Frage klären, wie nah VM 2100 dem Trio wirklich stand: denn seine Akten seien im Thüringer Landesamt bis auf die drei zitierten Meldungen entweder „verschwunden oder vernichtet“, teilte die Thüringische Landesregierung den Abgeordneten mit.

Umso spannender wird es daher an kommenden Mittwoch, wenn Norbert Wießner als einer der ehemaligen V-Mann Führer von VM 2100/Hagel am OLG München erneut als Zeuge gehört werden soll. Vielleicht kann er erklären, ob die Spenden, die über VM Hagel für das abgetauchte Trio gesammelt wurden, im Auftrag des Thüringischen Verfassungsschutzes übergeben werden sollten. Nebenklagevertreter im NSU-Prozess wie der Kieler Rechtsanwalt Alexander Hoffmann, kritisieren, dass „Geheimdienste und Strafverfolgungsbehörden im Fall des Zeugen Marcel D. erneut Beweismaterialien vorenthalten haben“, so Hoffmann. Denn den Prozessbeteiligten beim OLG München lägen die Adressbücher und Notizen von Marcel D. ebenso wenig vor wie dessen beim Bundesamt für Verfassungsschutz gelagerten Deckblattmeldungen.