Hallo, liebe Patrioten (…) Wir haben es geschafft! Wir haben gezeigt, dass sich Widerstand lohnt!« Ende Juni 2016 mobilisieren Neonazis mit dieser Botschaft zur »Ein-Jahr-Feier« ins sächsische Freital. Der Ort mit seinen rund 40 000 Einwohnern hatte ein Jahr zuvor als »Sachsens Keimzelle für Fremdenhass« (Tagesspiegel) für fragwürdige Furore gesorgt. Eine Koalition aus Anwohnern und organisierten Rechtsextremen wollte durch massive Proteste verhindern, dass Flüchtlinge im ehemaligen Leonardo Hotel in der Stadt untergebracht werden. Als Stadt voller Wut, mit einer »Lust auf Lynchen«, beschrieben Reporter die Stimmung im Sommer 2015.
Ein Vorabdruck aus dem „Jahrbuch rechte Gewalt“ von Andrea Röpke
In unmittelbarer Nähe zur Landeshauptstadt Dresden wurde der nationale Aufstand geprobt, SPD-Chef Sigmar Gabriel fand für dessen Anhänger kein besseres Wort als »Pack«. Gegenüber dem Fernsehsender N24 führte Gabriel aus: »Im Grunde hat jeder Flüchtling, der hierherkommt, mehr mit diesem Land zu tun als diese Leute, die das Land missbrauchen, Menschen aufhetzen, zu Gewalt und Mord und Totschlag auffordern.« Freital reihte sich ein in die lange Liste von Gemeinden und Städten – darunter viele aus Sachsen –, in denen ebenfalls über Monate hinweg rassistischer Widerstand gegen Flüchtlinge organisiert wurde, teilweise schlug dieser sogar in offene Gewalt um.
»Stellungskrieg vorm Flüchtlingsheim« schrieb das Nachrichtenmagazin Der Spiegel im Juni 2015, als Hunderte tagelang die Straße vor dem Hotel belagerten und das Land in Atem hielten. Mittendrin im rassistischen »Happening«: Pegida-Leitfigur Lutz Bachmann aus Dresden. Bachmann habe ein Interesse daran, die Stimmung am Kochen zu halten, urteilte der Spiegel, »wenn Pegida im Dresdner Zentrum lahmt, dann kommt der Stellvertreterkrieg in der Nachbarstadt gerade recht«.
Im Internet eskalierten die Beiträge der Facebook-Gruppe »Freital wehrt sich«, als ein Mitglied zum Beispiel empfahl, die Flüchtlinge zusammen mit dem Gebäude zu verbrennen. Darauf wandte ein anderer User ein: »Die kannst du nur erschlagen.« Von den Gewaltexzessen auf der Straße distanzierten sich Bachmann und Pegida öffentlichkeitswirksam.
Drohungen und Aggression blieben erfolglos, bis Mai 2016 diente das Hotel im Freitaler Ortsteil Döhlen als Zuflucht für 330 Menschen aus vielen Ländern. Danach wurde es geräumt und die Flüchtlinge auf andere Orte verteilt. Diese Entscheidung nimmt die rechte Szene zum Anlass, den Jahrestag ihres Protestes mit einem erneuten »Spaziergang« durch die Stadt zu feiern. »Festung Europa – macht die Grenzen dicht!«, skandieren im Juni Freitaler mit Unterstützung von regionalen und zugereisten Neonazis. Die Anhänger feiern sich als nationale Märtyrer, die »nichts vergessen«, so einer der Redner. »All das wird Auge um Auge, Zahn um Zahn am Tag X zurückgezahlt«, droht der Schweizer Rechtsextremist Ignaz Bearth, ein beliebter Reisekader. Applaus erntet er für seine Ankündigung: »Angela Merkel wird vor Gericht stehen, wenn Europa sich wandelt.«
Trotz markiger Sprüche schließen sich 2016 weniger Einheimische als erwartet an. Der Massenprotest in Freital ist verebbt. Einiges ist in der Zwischenzeit geschehen. Eine mutmaßlich terroristische Neonazi-Truppe flog Ende 2015 auf. Den acht Beschuldigten der sogenannten Gruppe Freital wird unter anderem vorgeworfen, an einem Sprengmittel- und Buttersäureanschlag auf ein alternatives Wohnprojekt in Dresden und ein Asylbewerberheim in Freital beteiligt gewesen zu sein. Im April 2016 übernahm die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe die Ermittlungen wegen des Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung.
Große Mobilisierungskampagnen hatten das Geschehen in Freital, Heidenau oder auch Schneeberg erst ermöglicht, denn das Massenengagement gegen Flüchtlinge in zahlreichen deutschen Städten wurde von systematischen Vorbereitungen im Internet begleitet. Die neue nationalistische Bewegung findet ihre Basis im Netz. Hier wird zum Hass aufgestachelt, hier werden Anhänger mobilisiert und Aktionen organisiert. Ein perfekt abgestimmtes Zusammenspiel trägt die Wut dann auf die Straße. Anti-Islam-Portale wie »PI-News« (Politically Incorrect) oder soziale Netzwerke wie Facebook sind nicht direkt für Gewalttaten ver- antwortlich, begünstigen sie aber.
Den rassistischen Ausschreitungen der neunziger Jahre fielen wie in Mölln, Lübeck oder Solingen viele Menschen zum Opfer. Gewalttaten und Brandstiftungen fanden, anders als heute, erst statt, als die Zielgruppen des Hasses anwesend waren. Seit 2014 werden aber auch Gebäude angezündet, in denen Flüchtlinge erst untergebracht werden sollen. Der Mob setzt sozusagen auf »präventive Gewalt«.
Anders als zum Beispiel bei den tagelangen Krawallen in Rostock-Lichtenhagen bemühen sich heute wütende Bürger oft gar nicht erst auf die Straße. Sie beschränken sich darauf, bequem von zu Hause per WhatsApp oder Facebook mitzumachen. Organisiert sind diese User zumeist in speziellen Gruppen innerhalb der sozialen Netzwerke. Tag für Tag eskaliert die Stimmung. Schlagworte werden zu Brandsätzen. Eine klare Unterscheidung zwischen Neonazis und »besorgten Bürgern« ist unter anderem in den virtuellen Anti-Asyl-Gruppen kaum noch möglich. Die gesellschaftliche Isolierung von Rechtsextremisten hebt sich auf. Unmerklich können sich Strategen von Neonazi-Parteien als Meinungsmacher und Wortführer an die Spitze des Protestes setzen. Oft geben sich diese geschulten Protagonisten moderater als die, die vorher den Kontakt zu ihnen noch scheuten. Statt mit offensichtlichen Parolen agieren Neonazis als virtuelle Kümmerer, denen vorgeblich das Bürgeranliegen am Herz liegt. Diese versteckte Form der Propaganda kostet nichts und ist schnell in Umlauf gebracht.
Schneeberg, Anfang November 2013: Fast 2000 Menschen versammeln sich, um am »2. Lichtellauf« unter dem Motto »Schneeberg wehrt sich gegen Asylmissbrauch« teilzunehmen. Angelehnt an die erzgebirgische Tradition des »Lichtelfestes« im Winter, wurde der Fackelmarsch von Rechtsextremen ins Leben gerufen. Anders als das Fest zum Advent, das jährlich Tausende Besucher in die Bergstadt lockt, hatte diese Veranstaltung nichts Heimeliges oder Märchenhaftes. Die aufgebrachte Masse zog mit ihren Fackeln so nah wie möglich heran an die ehemalige Jägerkaserne, die als Erstaufnahmeeinrichtung diente. »Die NPD zog unverkennbar die Strippen oder wirkte im Hintergrund bei den ersten großen Demonstrationen gegen Asyl in Sachsen«, betont Kerstin Köditz, Landtagsabgeordnete der Linken in Sachsen und Expertin zum Thema Rechtsextremismus.
Tatsächlich hatte der NPD-Vorsitzende des Landkreises Erzgebirge Stefan Hartung die Organisation in den Händen. Bei Facebook gab Hartung früh den besorgten Lokalpolitiker an der Spitze einer Internetgruppe, die sich 24 Stunden am Tag über ein einziges Thema austauschte. Gegenstimmen gab es kaum und wenn, wurden User schnell gelöscht oder gingen von selbst. Man wollte keine »Kanacken« und »Zigeuner« in der Region, so schien das Credo zu lauten. Dabei lag der Anteil von Ausländern an der Gesamtbevölkerung in Sachsen zu diesem Zeitpunkt bei nicht einmal 3 Prozent, in Schneeberg waren es nur 0,7 Prozent.
Die Internet-Nutzer gegen Asyl schimpften auf den Schneeberger CDU-Bürgermeister und den »elenden Dreckspfaffen«, weil sie sich für Flüchtlinge einsetzten. Für viele Demonstranten der »Lichtelläufe« war Hartung schließlich »der Stefan«, den sie in der Facebook-Gruppe kennengelernt hatten und dem sie folgten. »Das ist einer von uns«, berichtete eine ältere Frau vor Ort. »Ich weiß genau, was ich tue«, verteidigte sich eine Jüngere, die beim »Lichtellauf« mitging, »ich bin Streetworkerin hier in Schneeberg.«
Die Organisatoren gingen nach einem bundesweit angewandten Muster vor. So traten die Redner der Schneeberger De- monstration nur mit Vornamen angesprochen auf. Nachnamen, wie die von NPD-Landtagsabgeordneten, spielten hier keine Rolle. Routinierte Ordnungskräfte, erst auf den zweiten Blick als Neonazis oder rechte Türsteher aus Chemnitz erkennbar, sorgten für einen reibungslosen Ablauf. Überall positionierten sich NPD-Strategen, in den geeigneten Momenten riefen sie die richtigen Parolen wie »Lügenpresse« oder »Wir sind das Volk«.
Nie war die NPD ihrer über Jahre hinweg praktizierten Strategie der Akzeptanzgewinnung so nahe wie bei den Protesten in Schneeberg und anderswo. Nie fielen die Hemmschwellen vieler Bürger so schnell gegenüber Neonazis wie seit Ende 2013 in Sachsen. Der »Lichtellauf« von Schneeberg gilt als erster größerer Erfolg einer gezielt angelegten Kampagne der NPD: Bereits im Herbst 2012 war die rechtsextreme Partei mit einer »Anti-Islam-Tour« durch Sachsen gezogen. Im Sommer 2013 organisierte die NPD dann in mehreren Bundesländern »Asyltouren«: Kundgebungen vor Unterkünften, die sich explizit an deren Anwohner richteten. In einem NPD-Video tauchte im selben Jahr bereits das Logo »Asylantenheim? Nein Danke« auf, das später zahlreiche Facebook-Seiten von »Bürgerinitiativen« schmücken sollte. Der Hass im Netz und auf der Straße verstärkte sich gegenseitig, verschmolz zu einem dynamischen Prozess.
Nach Schneeberg intensivierten die Rechtsextremen das Vorgehen gegen geflüchtete Menschen massiv. Die sächsische NPD veranstaltete im März 2014 eine Aktionswoche unter dem Motto »Heimat schützen – Asylmissbrauch bekämpfen«. Dafür hatte sie in rund einem Dutzend sächsischen Städten und Gemeinden an zentralen Plätzen und vor Wohnheimen von Geflüchteten Kundgebungen angemeldet.
Im sächsischen Heidenau setzten Rechtsextreme ebenfalls auf eine Tarnorganisation, die Facebook-Gruppe »Heidenau hört zu!«. Im Anschluss an eine Demonstration gegen geflüchtete Menschen, die in Heidenau untergebracht werden sollten, eskalierte im August 2015 die Situation: Rechtsextreme lieferten sich eine Straßenschlacht mit der Polizei. Augenzeugen berichteten von einem Ereignis mit »Volksfestcharakter«.
Vorgeblich unabhängige Bürgerinitiativen haben sich zum neuen Erfolgsmodell entwickelt, um über das Feindbild Flüchtlinge eine Art rechte Zivilgesellschaft aufzubauen. Rechtsextreme finden so Anschluss ans bürgerliche Lager. Zu diesem Schluss kam auch die Untersuchung »Sachsen rechts unten 2016«. Damit gehe eine Radikalisierung einher, heißt es in der Studie des sächsischen Landesbüros der Friedrich-Ebert-Stiftung und des Kulturbüros Sachsen. Um diesen gefährlichen Anschluss herzustellen, zogen Rechte von der Ostsee bis zum Bodensee über 100 Facebook-Seiten auf, die sich inhaltlich und von der Aufmachung stark ähneln: »Parchim sagt Nein zum Asylheim!«, »Nein zum Heim – Marzahn-Hellersdorf!«, »Schneeberg wehrt sich!«, »Nein zum Heim – Erzgebirge«. Wichtig für eine solche Gruppe ist stets der lokale Bezug.
Hinter dieser Art der Mobilisierung rassistischen Protestes steckt System, besonders viele solcher Initiativen agieren dort, wo sich rechtsextreme Strukturen verankern konnten. Facebook ist dabei zu einer Hauptzentrale des Hasses mutiert – und die Hetze bleibt längst nicht mehr beschränkt auf organisierte Rechtsextreme. Dies dokumentieren auch die Mitgliedszahlen von rassistischen Facebook-Gruppen.
Im Februar 2016 waren mehr als 75 000 Nutzer in Facebook-Gruppen mit Namen wie »Nein zum Heim in XY« organisiert; mehr als 130 000 in Gruppen, die nach dem Muster »XY wehrt sich« benannt wurden. Bemerkenswert ist, dass es sich hierbei ausschließlich um öffentlich zugängliche Facebook-Präsenzen handelt, die eine Art Propaganda der Szene darstellen. Hinzu kommen weitere geschlossene und auch geheime Gruppen, deren Umfang sich gar nicht abschätzen lässt. Dort im Hintergrund laufen die Fäden von Organisation und Mobilisierung zusammen.
»Ein so effektives Medium wie Facebook hatten die Rechten noch nie zur Verfügung«, betont Felix Korsch, Politikwissenschaftler aus Leipzig, das Bemerkenswerte sei »die extreme Reichweite der Pegida-Facebook-Seite«. Korschs Recherchen zufolge erhielten Beiträge auf dem PegidaProfil zwischen Ende Dezember 2014 bis Ende Juni 2016 3 793 820 »Likes«, also Zustimmungen. Über 570 000 Kommentare wurden allein dort verfasst. Am häufigsten wurde der äußerst islamfeindliche Blog »PI-News« zitiert.
Spätestens 2016 wurde erkennbar, dass nicht die NPD von der Entwicklung profitierte, die sie mit ins Rollen gebracht hatte, sondern vor allem die AfD. Neonazi-Parteien und Freie Kameradschaftsnetzwerke verstanden es nicht, sich dauerhaft an die Spitze der Proteste zu stellen. Diese Position übernahmen Newcomer der jungen AfD, die zum Teil schon Erfahrungen aus anderen rechtspopulistischen Parteien und Gruppen mitbrachten. Erfolgreich machte sich die Partei unter Frauke Petry neonazis- tische Vorarbeit zu eigen – ohne sich mit Neonazis identifizieren zu müssen. Und das zahlt sich aus: Die AfD fährt zweistellige Wahlergebnisse in zahlreichen Bundesländern ein, ist im Herbst 2016 bereits in zehn Landesparlamenten vertreten.
Bereits im August 2014 zog die ein Jahr zuvor gegründete Partei mit 9,7 Prozent in den Sächsischen Landtag ein, während die NPD mit 4,9 Prozent nach zwei Legislaturperioden rausflog. Rund 13 000 NPDWähler waren bei dieser Wahl zur AfD gewechselt. Die AfD toppt auch die User-Zahl diverser rassistischer Facebook-Gruppen von rund 230 000. Die Partei allein kommt im Februar 2016 nur durch die Facebook-Präsenz ihres Bundesverbands auf 255 000 »Gefällt mir«-Angaben. So viel erreichen alle im Bundestag vertretenen Parteien zusammen nicht. Die NPD erhielt 160 000 »Likes« – Mitglieder hat sie gerade einmal 5200. Zum Vergleich: CDU und SPD haben jeweils noch fast eine halbe Million Mitglieder. Bei Facebook dagegen ist die am meisten »gemochte« Partei die AfD, gefolgt von der NPD. Das sind Zahlen, die das politische Klima in den sozialen Netzwerken gut widerspiegeln.
Die Mobilisierung via Internet bietet gleich mehrere Vorteile: Propaganda ist billig, eigene Nachrichtennetzwerke entstehen. Gerüchte werden ungeprüft zu Meldungen, die sich rasant ver- breiten und in den Köpfen vieler Menschen hängen bleiben. Offengelegte Fälschungen und Fakes werden nur als Einzelfälle wahrgenommen. Der Wahrheitsgehalt scheint nebensächlich; geteilt wird, was das eigene Weltbild stützen kann. Gerne glaubt man sogar der »Lügenpresse«, wenn dort etwas berichtet wird, was ins eigene Konzept passt.
In sozialen Netzwerken sind Millionen Menschen unterwegs – und durch niedrigschwellige lokale Angebote lassen sich Bürger erreichen, die sonst beispielsweise ein Flugblatt der NPD eher ablehnen würden. »Facebook ist natürlich für uns ein Hauptgewinn«, erkannte bereits 2014 der langjährige sächsische Neonazi-Kader Maik Scheffler. Es gebe nun eine Schnittstelle zwischen Bürgern und Partei, sagte er gegenüber dem Deutschlandfunk.
Auf Meinungsportalen, in Chats und Foren testen rechte Strategen Themen, sie leisten die Vorarbeit für das, was später auf der Straße und in den Parlamenten folgen soll. Der Hass im Netz offenbart nicht nur die Hilflosigkeit von politisch Verantwortlichen, Sicherheitskräften und Nachrichtendiensten, sondern wirft auch ein unschönes Bild auf eine scheinbar verrohende Gesellschaft.
In den sozialen Netzwerken konnten sich Parallelwelten bilden, die sich nur zum Teil in der realen Welt widerspiegeln. Politische Gegner und geflüchtete Menschen werden im Netz dämonisiert und entmenschlicht, hier läuft eine dynamische Radikalisierung in Echtzeit ab. Durch gegenseitiges »Liken« vernetzen sich Facebook-Gruppen, rechtsradikale Parteien und Seiten gegen Flüchtlingsunterkünfte untereinander. Besonders angesagte Redner, begabte Einpeitscher, werden herumgereicht. Eine Initiative »besorgter Bürger« ist oft nur um ein »Gefällt mir« von handfesten Gewaltaufrufen entfernt.
Statt mehr Meinungspluralität und Dialog flüchten viele Menschen in »Filterblasen«, in denen sie sich nur noch mit Gleichgesinnten umgeben, wo alle nur eine Meinung vertreten, wo kein Widerspruch geduldet wird. Das Entstehen solcher Parallelwelten im Netz – mit einer eigenen Sprache, eigenen Werten und eigenen Codes – hat unabsehbare Folgen: beispielsweise, weil Begriffe wie »Überfremdung«, »Umvolkung« oder eben »Lügenpresse« durch tausendfachen Gebrauch und ständige Wiederholung dort längst normal geworden sind – und weil viele Menschen gar nicht mehr verstehen, was daran problematisch sein sollte – und warum demokratische Politiker, Medien und engagierte Bürger diese Kampfbegriffe so deutlich zurückweisen. Begriffe, die vorher die Neonazi-Szene kennzeichneten, greifen also nicht mehr.
Das Internet ist nicht die Ursache für Ressentiments. Aber es macht sie sichtbarer und kann offenkundig eine Radikalisierung ohne Grenzen in Gang setzen. Die neuen Wutbürger behaupten, sie folgten keiner Ideologie, man sei lediglich besorgt über Veränderungen. Demokratie bedeutet ihrem Verständnis nach, immer den Willen der »normalen« Mehrheit (also den eigenen) durchzusetzen – Minderheitenrechte und Kompromisse stören da nur. Die neue nationalistische Bewegung will sich nicht mit der komplizierten Welt und einer ausdifferenzierten Gesellschaft beschäftigen, trotzig und lautstark erklärt man sich selbst zum Volk, um Konflikte, Gegensätze und Widersprüche einfach auszublenden.
»Wenn dieses Protestspektrum vom ›Volk‹ redet, geht es nicht um die gesamte Gesellschaft in Deutschland, sondern um eine möglichst exklusive Gemeinschaft«, erklärt der Leipziger Politologe Felix Korsch die Ideologie hinter der rassistischen Straßenbewegung. »Diese besondere deutsche Gemeinschaft soll homogen sein, nach außen abgeschottet und ›ausländerfrei‹.« Korsch zufolge beruft man sich auf Ideen und geistige Vorbilder der »Neuen Rechten«. Gleiche Grundrechte und eine liberale Gesellschaft finden Ablehnung. Mit der Markierung von Politikern, Journalisten oder Pegida-Kritikern als »Volksverräter« werden diese als gegen das gesamte deutsche Volk arbeitend gebrandmarkt, so Korsch. Rechtsextremismus-Forscher Johannes Kiess ordnete Pegida gegenüber dem Deutschlandfunk als »eindeutig rassistisch und antidemokratisch« ein. Wobei vor allem Parlament und Parteien abgelehnt werden. Auch bedienten sich deren Protagonisten »völkischen Vokabulars«, so Kiess.
Rechte Strategen versuchen das Internet auch zur Finanzierung neuer Ideen und Projekte zu nutzen. Der Verein »Ein Prozent für unser Land« hat seinen Sitz offiziell im sächsischen Oybin nahe der Grenze zu Tschechien und Polen. Er agiert als rechte Nichtregierungsorganisation (NGO) und will durch Sammelspenden im Internet (Crowdfounding) eigene politische Projekte finanzieren und Gruppen vernetzen. Mit der Unterstützung durch nur 1 Prozent der Bevölkerung sollen »Flüchtlingsinvasion« und »aufgezwungene Willkommenskultur« gestoppt werden. Hinter diesem Projekt stehen Vordenker der Neuen Rechten wie Götz Kubitschek, nationalistische Publizisten wie Jürgen Elsässer, Anhänger der AfD, Mitglieder rechter Burschenschaften und vor allem die »Identitäre Bewegung« (IB).
Berlin, August 2016: Am späten Samstagnachmittag klettern etwa 15 junge Männer mithilfe von Leitern vor den Augen zahl- reicher Berlin-Touristen auf das Dach des Brandenburger Tores. Sie hissen die gelb-schwarze Fahne der »Identitären Bewegung« und entrollen unterhalb der Quadriga ein Banner mit dem Spruch: »Sichere Grenzen – sichere Zukunft«. Das Bild dieser Aktion flimmert tags darauf über die Bildschirme. Doch vor allem geistert es durch die sozialen Netzwerke.
Mit der Besetzung eines Wahrzeichens der Deutschen erhalten die »Identitären« riesige Aufmerksamkeit. Diese Gruppe junger Nationalisten, »Patrioten«, wie sie sich nennen, repräsentiert die ganze Bandbreite virtuell inszenierter Proteste gegen Flüchtlinge. Aktionen der »Identitären Bewegung« werden mit eigenen Selfies, Videoclips bei Twitter und Facebook auf und nachbereitet. Ihre Mitglieder rekrutiert die »Identitäre Bewegung« nur zum Teil aus dem klassischen Neonazi-Spektrum, hinzu kommen Burschenschaftskreise oder junge AfD-Sympathisanten. Ihren Ursprung hat die Gruppierung in Frankreich. Modern aufgepeppte Inszenierungen und Provokationen tarnen reaktionäre, völkische Gesellschaftskonzepte. »Identitäre« sprechen nicht von einem drohenden »Volkstod« wie die NPD, sondern von dem bevorstehenden »großen Austausch« des deutschen Volkes. Gemeint ist dasselbe: Migranten könnten die Deutschen ersetzen.
Ihre Fremdenfeindlichkeit verbergen sie hinter Monologen über Kulturidentität. Mit dem Begriff Ethnopluralismus verfolgen sie den Versuch, eine Umschreibung für eine völkisch-nationale Ideologie zu verbreiten, die nicht mit dem Nationalsozialismus verbunden wird und in der das Wort »Rasse« nicht vorkommt. Es bedeutet aber nichts anderes als das, was die Neonazis propagieren: Wir lieben das Fremde – in der Fremde.
Die Agitprop-Aktionen der »Identitären Bewegung« sind immer nach ähnlichem Muster choreografiert, ob nun die SPD Zentrale besetzt wird, ein Protestcamp vor dem Schloss Bellevue in Berlin entsteht oder wenn Mitarbeiter der Amadeu Antonio Stiftung belästigt werden. Eine Kamera ist immer dabei. Nur wenige Personen tauchen auf, hissen Fahne und Banner und verschwinden eilig wieder. Über das Internet findet dann die PR statt. Dank sozialer Netzwerke und virtueller Nachrichtenmaschinerie erscheint die »Identitäre Bewegung« größer, als sie bisher ist. Realen Aktionen der sächsischen Ortsgruppen Dresden und Radebeul zum Beispiel schließen sich nur wenige junge Frauen und Männer an. Im Internet aber findet auch noch die kleinste Handlung Anklang.
Die »Identitären« zählen zur Generation der Digital Natives, zu jenen, die bereits mit der digitalen Welt aufgewachsen sind. Mit pathetischen Sätzen wie »Die Jugend ohne Migrationshintergrund – vergessen, aber nicht wehrlos« machen sie auf sich aufmerksam. Sie wollen frech sein und anders als andere Nationalisten. Doch so harmlos, wie sie erscheinen möchte, ist die »Identitäre Bewegung« mitnichten. Bei einer Demonstration in Wien kam es 2016 zu Gewaltausbrüchen der »Identitären Bewegung« Österreich. Seit 2016 wird diese Gruppe auch in Sachsen vom Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet, in Bremen und Berlin geschieht dies bereits seit zwei Jahren.
Mitarbeit: Patrick Gensing
Andrea Röpke – 2017 Jahrbuch rechte Gewalt.
Klappenbroschur, Knaur TB, 304 Seiten
ISBN: 978-3-426-78904-9