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Zerbrochen in Amerika

 
Die Bilder des vor 20 Jahren verstorbenen Graffitikünstlers Jean-Michel Basquiat beeindruckten den Bassisten Lisle Ellis so sehr, dass er ihm nun eine Totenmesse komponiert hat: „Sucker Punch Requiem“.

Lisle Ellis Sucker Punch Requiem - An Hommage to Jean Michel Basquiat

Es ist das Jahr 1977 in New York. Der 17-jährige Jean-Michel Basquiat besprüht nachts mit seinem Freund Al Diaz Hauswände in Manhattans East Village. Ihre Graffiti prangern die rassistische Praxis von Polizei und Justiz an, die beiden signieren sie mit „SAMO shit“ (Same Old Shit). Viele Menschen können sich mit den Botschaften identifizieren.

Vier Jahre später sprüht der Künstler Basquiat Jimmy Best on his back to the sucker punch of his childhood files auf eine Leinwand, Jimmy Best wurde von seinem Schwarzsein eingeholt und unfair zu Boden gebracht. Ein anderes seiner Bilder heißt Ornithology. Es bezieht sich auf den Jazzsaxofonisten Charlie „Bird“ Parker, auf seine künstlerische Kraft, seine Sensibilität und sein Zerbrechen an der von rassistischen Übergriffen geprägten Wirklichkeit in den USA.

Das Jimmy-Best-Graffito beeindruckt den kanadischen Bassisten Lisle Ellis. Er studiert Ende der Siebziger in New York und sieht es an einer Hauswand. Die meisten anderen Botschaften Basquiats gehen an Ellis unbemerkt vorbei, ebenso der Wirbel um den Künstler Mitte der Achtziger und sein Herointod im August 1988. Die Bedeutung Basquiats wird Ellis erst bewusst, als er selbst beginnt zu malen. Ende der Neunziger ist das, die Bilder Basquiats begleiten Ellis in dieser Zeit, das Dunkle, das comicartig Verzerrte, das Selbstzerstörerische und Verletzliche.

Ellis beschließt, ein Requiem für Basquiat zu komponieren. Sucker Punch Requiem nennt er es, in Anlehnung an seine erste Begegnung mit der Kunst Basquiats. Ellis engagiert sechs namhafte Musiker, darunter den Saxofonisten Oliver Lake und den experimentierenden Posaunisten George Lewis. Die Aufnahmen entstehen an zwei Tagen im September 2005 in Brooklyn. Das Septett folgt anhand von 16 Stücken dem Leben Basquiats. Die Titel erinnern an verschiedene Aspekte seines künstlerischen Werks, an die Graffiti an New Yorker Hauswänden Ende der Siebziger, an schwarz-weiße Röntgenbilder, an kalte Straßenschluchten und die harten Farb- und Formkontraste der achtziger Jahre. Diese Vertonung klingt wie ein verschlungener Tanz, wie eine Sinfonie des Verlorenseins. Ellis zeichnet Basquiat als Individuum, das sich durch eine Stadt im Stillstand bewegt. Als den Einzigen, der erkennt.

Beim zweiten Stück, Incantation And Ascent, bläst Oliver Lake ein einsames Solo, das an John Coltranes Ascencion erinnert. Auch bei den anderen Stücken ragen solche Momente reiner Schönheit zwischen den zerbrochenen Monumenten aus Beton und Mörtel hervor.

Ellis erforschte für die Kompositionen kirchliche Requien. Auf der Suche nach einer möglichst reduzierten musikalischen Struktur fand er eine traditionelle sechsteilige Totenmesse der römisch-katholischen Kirche. Er begann, für jeden der sechs Teile Themen zu schreiben und diese anschließend zu verändern, gleichsam zu übermalen. So entstanden Klangbilder und sich überlappende musikalische Formen. Ellis komponierte sie nicht aus, vieles blieb unfertig. Rau, kantig und seltsam schön muten sie an, wie die Bilder und das Leben Basquiats.

„Sucker Punch Requiem – An Homage to Jean Michel Basquiat“ von Lisle Ellis ist bei Henceforth Records erschienen.

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