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Kussecht am Mikrofon

 

Eine halbe Ewigkeit hat Anna Calvi im Keller an einem Monsteralbum gearbeitet. In England gilt sie als eine der aufregendsten Debütantinnen des kommenden Jahres.

© Domino

Sie ist die nächste Adele. Die nächste Duffy. Das nächste heiße, pardon, Ding von der britischen Insel. Zumindest stand Anna Calvi auf der BBC-Liste der 15 wichtigsten Popneulinge dieses Jahres – bevor sie überhaupt ein Album draußen hatte.

Sie ist Jezebel, so heißt ihre erste Single. Verdammt keck: Das Küken covert einen Song, den vor ihr Edith Piaf, Charles Aznavour und Herman’s Hermits von sich gegeben haben. Aber selbst der extrovertierte Frankie Laine, der 1951 damit einen seiner ersten Hits landete, wirkt blass neben Calvis Version: Mit Kraft in Stimme und Gitarre verkörpert sie die alttestamentarische Obersünderin.

Debütantinnen-Zurückhaltung? Pah! Calvi drückt knallrote Lippen kussdicht ans Mikro („Und da Jehu gen Jesreel kam und Isebel das erfuhr, schminkte sie ihr Angesicht und schmückte ihr Haupt“, 2. Könige 9, 30). Brian Eno vergleicht ihre Intensität mit der von Patti Smith. Calvi tourte mit den Postpunks von Interpol und mit Grinderman, den Düsterrockern um Nick Cave. Es hat sich herumgesprochen, dass da ein Stern aufgeht.

Wie ein Erstling wirkt das in bester popkultureller Tradition Anna Calvi benannte Debütalbum so gar nicht, es strotzt vor Selbstvertrauen und Virtuosität. Calvi hat drei Jahre lang mit PJ Harveys Produzent Rob Ellis an den zehn Songs – oder eher punkifizierten Chansons vom Dachboden eines Tom-Waits-Nachbarn – gefeilt (Jezebel ist gar nicht dabei).

Im Zentrum steht das Zusammenspiel der zwischen Vamp und Walküre wandelnden Stimme mit den Akkorden einer abgeschrabbelten Telecaster-E-Gitarre, die von bluesseligen Soli (Highlight: I’ll Be Your Man) über Texicana-Twang und Surf-Sound bis zu fingerfertiger Virtuosität reichen. Dazu kommt eine reduzierte Band mit Rumpeldrums (Daniel Maiden-Wood) und indischem Harmonium sowie manchmal Zweitgitarre und Percussion (alle Mally Harpaz).

Calvi nennt einen Friedhof voller Einflüsse, Messiaen und Debussy, Elvis und Roy Orbison, Nina Simone und Maria Callas, Django Reinhardt und Jimi Hendrix, Robert Johnson und Booker „Bukka“ White, Antony And The Johnsons und Wild Beasts, Wong Kar Wai und Gus Van Sant. Sie raunt wildromantisch von Leidenschaft und Einsamkeit, Liebe und Tod, von Besessen- und Verrücktheit bei der Arbeit im Kellerstudio am Album, „diesem Monster, das mehr als drei Jahre meines Lebens fraß“. Und einer Biografie zum Heulen: Nach der Geburt in London rang Anna mit dem Tod, drei Jahre blieb sie im Krankenhaus.

Oft sind die Songs verstörend roh und elementar, auf mustergemixtes Saitengewebe Gewebe tupft die Stimme hier flüsternd zarte Farbe, kleckst dort wortlos wilde Brüller, deklamiert höllenrot „the devil will come„. Ob das den Massenmarkt überzeugt? Als Sound of 2011 wäre Calvi nicht die schlechteste Variante; ein paar Vokalisen weniger, ein bisschen mehr textorientiertes Songwriting könnten helfen. Den BBC-Wettbewerb gewonnen hat allerdings Jessie J, die in die Fußstapfen von Rihanna und Lady Gaga trampelt. Dagegen ist Calvi ein Goldklumpen, der verheißungsvoll durch eine beängstigende Dunkelheit funkelt.

„Anna Calvi“ von Anna Calvi erscheint bei Domino Records.

Ihre nächsten Konzerte: 11.2., Hamburg, 12.2. Berlin, 3.4. Köln, 4.4. Frankfurt, 6.4. München, 7.4. Wien, 13.4. Zürich, 15.4. Bern