Am 19. Dezember 2018 berichtete der Spiegel, dass der Reporter Claas Relotius mehrere seiner Spiegel-Artikel mit erfundenen Passagen und Protagonisten gefälscht hat. Claas Relotius hat zwischen 2010 und 2012 als freier Autor mehrere Texte für ZEIT ONLINE und einen für ZEIT WISSEN geschrieben. Wir überprüfen diese Beiträge auf ihren Wahrheitsgehalt und lassen sie bis zu einem Ergebnis auch aus Transparenzgründen unverändert hier stehen. Unsere aktuelle Berichterstattung finden Sie hier.
Schon bevor sein Debütalbum erschien, galt der 22-jährige James Blake als nächstes großes Ding. Nun ist die Platte da und beeindruckt mit fortschrittlichem Eklekto-Pop.
Obstbauer müsste man sein, sagte James Blake vor kurzem in einem Interview. Wie sonst, so fragte er, solle er all die Vorschusslorbeeren ernten, die ihm als aufstrebendem Künstler zuteil werden. Im vergangenen Januar hätte der 22-jährige Pianist, Produzent und Songwriter damit freilich alle Hände voll zu tun gehabt.
Bis dahin hatte er lediglich drei EPs und ein paar Remixe veröffentlicht. Und doch flatterte ihm in der englischen Heimat schon manch Superlativ um die Ohren, lange bevor sein Debütalbum erscheinen sollte. Musikfans im Netz wurden nervös, wenn sein Name fiel.
So groß war der Trubel, dass seine eigenen Eltern die Platte bei ihm vorbestellten. Kritiker sprachen von einer neuen Sphäre des Pop oder einem Meilenstein des Dubstep. In einer Umfrage der BBC erklärten sie James Blake zu einem der wichtigsten Alben des kommenden Jahres – ohne die Hälfte der darauf enthaltenen Stücke überhaupt gehört zu haben.
Ein klassischer Hype, möchte man meinen. Doch wenn sich Kritiker und Publikum derart einig sind, steckt oft mehr dahinter. Im Falle Blakes ist es das Talent, entlang der Einflüsse etablierter Interpreten neue Klangkonstrukte zu entwerfen, die einerseits vertraut genug klingen, um die Masse zu begeistern, und andererseits doch eigenwillig genug, um als fortschrittlich zu gelten.
Seine digitalisierte Version des Feist-Songs Limit To Your Love – im Netz millionenfach abgerufen und als Elektro-Sample längst in den Clubs zuhause – bot hierauf bereits einen Vorgeschmack. Wie Blake verschiedenste Genres miteinander assoziiert, wird aber noch deutlicher in Stücken wie Why Don’t You Call Me oder I Never Learnt To Share. Da deutet er etwa mit zerbrechlicher Stimme Klavierballaden an, die auch Antony And The Johnsons gut stünden, baut aus dem Nichts monumentale Basswände auf, die an seinen Kollegen Burial erinnern, und lässt sie schließlich in den überdrehten Handclap-Arrangements im Stile Thom Yorkes münden.
Post-Dubstep nennt sich das, was sich irgendwo im Spannungsfeld zwischen Soul, R’n’B und minimalistischen Elektro-Beats bewegt. James Blake fügt dem Songwriter mit Hang zum Schwermut bisweilen sogar eine Prise Folk hinzu und macht seine Musik damit zu einer Art Kulminationspunkt aktueller Popentwicklungen.
Man kann dies unerhört finden oder als bloße Flickschusterei abtun. Das eigentliche Phänomen dieses Albums bleibt in jedem Fall Blakes Mut zur Lücke: Immer wieder legen sich gespenstische Pausen über Beat und Gesang. Fast will man aufstehen und nachsehen, ob die Stereoanlage kaputt ist – bevor eine zerhäckselte Vocoder-Stimme und Synthesizer den Song dann doch noch vorantreiben.
James Blake zelebriert Zurückhaltung und Stille, während seine Hörer nach der nächsten Musiksensation jiepern. Diese künstlerische Souveränität muss man erstmal haben.
„James Blake“ von James Blake ist erschienen bei Polydor/Universal.