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Denkmal eines großen Jazzkonzerts

 

Vier vom Jazzolymp in einem Club: Lee Konitz, Charlie Haden, Paul Motian und Brad Mehldau spielten 2009 „Live At Birdland“. Endlich gibt es eine Aufnahme.

Es ist mit Konzerten wie mit vielen anderen Dingen des Lebens: Irgendwann finden sie statt, unaufgeregt ziehen sie vorüber, hinterlassen Eindruck bei denen, die dabei gewesen sind, doch wenig Nachhall. Auch als das Quartett von Lee Konitz, Charlie Haden, Paul Motian und Brad Mehldau an mehreren Abenden im Dezember 2009 im ehrwürdigen Jazzclub Birdland in New York spielte, ging das im rasenden Stillstand der Ereignisse eher unter – eine begeisterte Rezension in der New York Times, eine Bemerkung hier oder dort, und das war es schon mit der Resonanz. Doch das Münchner Label ECM hatte ein Mikrofon auf- und ein Tonband angestellt – und nun setzt Live At Birdland, das Destillat aus Mitschnitten der letzten beiden dieser Konzertabende, dem Ereignis ein Denkmal.

Lee Konitz. Charlie Haden. Paul Motian. Das sind drei Musiker aus dem Jazzolymp, die in den vergangenen 60 Jahren an verschiedenen Stellen die Jazzgeschichte mit neuen Wendungen bereicherten, der eine mit seinem schlanken, kristallinen Ton auf dem Altsaxofon, der Zweite mit seinem beweglichen Schlagzeugspiel, das die Melodie in eine Sache von Becken und Besen verwandelt, und der Dritte als ein Bassist, der die große Freiheit der Improvisation in einen Born von sanglichen Wendungen verwandelte. Dazu Brad Mehldau, der Pianist: Der spielt hier wie kaum je zuvor, konzentriert und vielfältig, ökonomisch und stark. Traumwandlerisch wechselt er zwischen zurückhaltenden Tupfern und entschlossenen Farbklecksen, zwischen Pointillismus und Action Painting und jongliert mit den Schatten der Dissonanzen, die das Spiel des Ensembles unter Spannung halten.

Ungeprobt gingen die vier Musiker in den Club, abgesprochen war nur die Idee, gemeinsam durch das Reich der Standards zu schweifen und sich nur von der Intuition leiten zu lassen. Mehr brauchte es auch nicht: Die Standards gehören längst zum genetischen Code ihrer Musik, so selbstverständlich, dass sie sich nach Belieben von ihnen entfernen und sich auf den verschlungensten Wegen wieder annähern können. Das Resultat ist ein Idealbild von Jazz: vier Musiker, die ihre spielerischen Routinen eingemottet haben und nur dann spielen, wenn sie einen musikalischen Gedanken haben, die einander zuhören, aufeinander reagieren und im Prozess des Spiels immer wieder andere Perspektiven einnehmen, aus denen das vertraute Material plötzlich unvertraut und neu ist.

Jeder Ton klingt bedeutsam wie ein erstes Mal. Allein mit seinem Saxofon, mit seinem Ton, der die Schärfe eines Seziermessers annehmen kann, präpariert Konitz eine Melodie aus dem tonalen Material. Ganz mager und ungeschützt lässt er sie stehen, bevor Bass oder Klavier oder Schlagzeug ihr eine wärmende Decke umlegen, einen Puls, eine Gegenstimme, ein tonales Fundament. Dann wieder kommen für einen Moment alle zusammen ins Rollen, bis einer ausschert und dann der Nächste. Die Szenen wechseln im Flug: Alles vergeht und entsteht, in einem organischen Prozess, manchmal fast träge fließend und dann wieder quicklebendig sprudelnd, wechseln die Konstellationen. In einem Sturzbach der Ideen verändern sich die Stücke, als wären sie ein lebendiges Gebilde. Mit dieser Aufnahme wird aus dem vergänglichen Konzert ein nachhaltiges Ereignis.

„Live At Birdland“ von Konitz/Mehldau/Haden/Motian ist erschienen bei ECM/Universal.

Aus der ZEIT Nr. 28/2011