Lesezeichen
 

Grüner Kanzler nicht auszuschliessen

Zum Monatsanfang werden bundesweit für Die Grünen in Umfragen gerade einmal 10% gemessen. Dies sind Momentaufnahmen. Stimmungen sind keine Stimmen, und so ist es wahrscheinlich, dass sich die Umweltpartei bis Ende September in der Wählergunst noch deutlich verbessern wird. Im Januar 2009 gaben laut DeutschlandTrend der ARD immerhin 39% der Wahlberechtigten an, Die Grünen könnten für sie in Frage kommen. Mit dem Spitzenduo Künast/Trittin treten zudem Spitzenkandidaten an, die von ihrem politischen und persönlichen Eigenschaftsprofil her in der Lage sein werden, viele ungebundene Wähler für grüne Themen zu sensibilisieren und letztlich auch zu mobilisieren. Deshalb wäre es auch voreilig, den Wahlkampf auf den Wettstreit zwischen Merkel und Steinmeier zu reduzieren.

Wie erfolgreich politische Spitzenteams sein können, zeigt der Blick zurück auf die Bundestagswahlen 2002 und 2005: Hier gelangen den Tandems Schröder/Fischer sowie Schröder/Müntefering für nahezu unmöglich gehaltene Aufholjagden. Beim Duo Künast/Trittin kommt die strategisch kluge Aufteilung des geschlechtsspezifischen micro-targeting als Alleinstellungsmerkmal hinzu. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann und sollte man daher einen grünen Kanzler oder eine grüne Kanzlerin keinesfalls ausschliessen.

 

Die Opelrettung – Chance für Frank-Walter Steinmeier?

Themen, die die Gesellschaft direkt betreffen und emotionalisieren, sind ein Pfund, mit dem man in Wahlkämpfen wuchern kann. Betrachtet man sich die Bundestagswahl 2002, so ist kaum abzustreiten, dass die Flutkatastrophe ihren Teil dazu beitrug, dass Gerhard Schröder die Wahl knapp für sich entscheiden konnte. Schröders Engagement und sein entschlossenes Handeln blieben den Menschen positiv in Erinnerung und haben den ein oder anderen Wähler sicherlich dazu bewegt, am Wahltag für den damaligen Amtsinhaber zu stimmen. Schröders Nähe zu den Betroffenen und die prompt zugesagte staatliche Unterstützung ließen die Flut zu einem Wahlkampfthema mit großer Durchschlagskraft werden. Die Medienaufmerksamkeit war von vorneherein garantiert, Schröder hatte somit eine gemachte Bühne für seine Selbstdarstellung als perfekter Krisenmanager. Zusammen mit einem der Kernthemen der SPD, der „Solidarität“, war die Flutkatastrophe ein schlagkräftiges Team, um Stammwähler zu mobilisieren und Wechselwähler in Ostdeutschland zu gewinnen.

Heute, im Superwahljahr 2009 haben wir es mit sehr ähnlichen Vorzeichen zu tun: Ein sozialdemokratischer Kanzlerkandidat und ein Ereignis, das viel Raum auf der Medienagenda einnimmt und sich mühelos in Einklang mit einem der Kernthemen der SPD bringen lässt. Da mag es eher von marginaler Bedeutung sein, dass dem von Steinmeier vorgeschlagenen staatlichen Rettungskonzept für Opel mangelnde Substanz vorgeworfen wird. Das, was strahlt, ist die Solidarität des Kanzlerkandidaten mit den Betroffenen, ohne Wenn und Aber und mit Unterstützung des Staates. Angela Merkels Haltung im Fall Opel spielt dem SPD-Kandidaten zusätzlich in die Hände, zumal diese staatliche Unterstützung lediglich bei der Suche nach einem Privatinvestor und in Form von Bürgschaften zugesagt hat. Also nur „eingeschränkte“ Solidarität mit Opel, die sich negativ auf die Beliebtheit der Kanzlerin auswirken und im Gegenzug einen positiven Einfluss auf Steinmeiers Popularität haben könnte. Die Opelrettung ist ein Thema, das die Wähler greifen können. Die Medien präsentieren Einzelschicksale, man solidarisiert sich mit den Betroffenen und stellt eine emotionale Bindung her. Gleichzeitig ist die Zahl der damit verbundenen Arbeitsplätze keine abstrakte Größe. Die Chancen stehen also gut, dass das Thema Opel dem sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten eine bessere Ausgangsposition für den weiteren Wahlkampf sichert.

 

Die hessische SPD bestraft sich selbst

Die Selbstzerstörung geht weiter: Die hessische SPD hat die Krise des letzten Jahres noch nicht überwunden, die Partei ist nach wie vor gespalten. An der Personalie Walter zeichnet sich dieser Tage die Konfliktlinie ab: Die überzeugten Anhänger eines Linksbündnisses, die im Jahr 2008 die Partei „auf Linie“ wähnten, stehen den Verfechtern des freien Mandats gegenüber.

Wir alle erinnern uns an den Auftritt der vier SPD-Abtrünnigen: Durch ihr spätes Nein zum Linksbündnis in Hessen haben sie Andrea Ypsilantis Versuch ausgehebelt, mit Duldung der Linkspartei eine rot-grüne Minderheitsregierung anzustreben. Hier galt es, Parteiräson bzw. innerparteiliche Disziplin gegen das freie Mandat abzuwägen. Ein schwieriger Spagat, keine Frage. Schließlich werden in Hessen ebenso wie auf Bundesebene in erster Linie Parteien gewählt und die Wähler orientieren sich an deren Programmen. Die Abgeordneten sollten sich also auch ihrer Partei verpflichtet fühlen – zumal Jürgen Walter selbst bei der Wahl 2008 kein Direktmandat erringen konnte.

Das freie Mandat ist jedoch ein hohes Gut, das nicht angetastet werden darf. Es kann einfach nicht Ziel einer Partei sein, ihre Mitglieder mundtot zu machen. Zu welchem Zeitpunkt man als Abgeordneter diese Karte zückt, muss jedem selbst überlassen bleiben. Der Einblick in die hessische SPD, der uns seinerzeit geboten wurde, war düster. Aber auch heute gibt sie kaum ein bessere Bild ab: Dem Urteil der Schiedskommission des SPD-Unterbezirks Wetterau folgte postwendend die Ankündigung einer Berufung. Vieles deutet also darauf hin, dass sich dieser Prozess noch eine Weile hinziehen wird – inklusive der schlechten Presse und der innerparteilichen Störungen. Dies kann nicht im Interesse der hessischen SPD sein. Das parteischädigende Verhalten, dass sie Walter vorwirft, betreibt sie damit selbst.

 

Staatliche Arbeitsplätze – warum nicht? Die Deutschen haben nichts dagegen.

Ob Opel oder HRE – staatliche Interventionen erregen derzeit die Gemüter in Berlin. Auch die der Bürger? Werfen wir einen Blick in einschlägige Umfragen: 1984, 1994 und 2004 wurde den Bundesbürgern im Rahmen der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) das folgende Statement mit der Bitte um Zustimmung oder Ablehnung vorgelegt: „Der Staat muss dafür sorgen, dass jeder Arbeit hat und die Preise stabil bleiben, auch wenn deswegen die Freiheiten der Unternehmer eingeschränkt werden müssen.“ Wie die folgende Grafik zeigt …

stößt dies auf breite Zustimmung in Deutschland. Zwar ist die Zustimmung im Zeitverlauf rückläufig und liegt im Osten etwas höher als im Westen – doch zu allen Zeitpunkten stimmt die Mehrheit der Deutschen der Aussage zu.

Ein Einzelfall? Keineswegs. Im International Social Survey Programme (ISSP) findet sich 1990, 1991, 1996 und 2006 die Frage: „Bitte geben Sie nun an, inwieweit die folgenden Dinge in der Verantwortlichkeit des Staates liegen sollten: Einen Arbeitsplatz für jeden bereitstellen, der arbeiten will.“. Wie die folgende Grafik zeigt …

gilt hier Ähnliches. Seit 1990 wird auch hier – bei gleicher Entwicklung und Unterschieden zwischen Ost und West – mehrheitlich der Staat in der Verantwortung gesehen.

Letztlich also, so könnte man sagen, spiegeln die Rettungsbemühungen etwa bei Opel nur das wider, was die Deutschen immer schon mehrheitlich unterstützt haben. Was ja durchaus demokratisch ist.

 

Europa: Lost in translation?

Es ist Wahlkampf in Europa und bereits heute darf vermutet werden, dass der entscheidende Faktor für den Ausgang und die Auswirkungen der Wahl einmal mehr die Wahlbeteiligung sein könnte. Seit der ersten Direktwahl im Jahr 1979, wo 63 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgaben, ist sie konstant rückläufig und lag im Jahr 2004 noch bei knapp 46 Prozent. Nun hat das Europäische Parlament die Kampagne gestartet, mit der dieser Trend gestoppt werden soll. Das Motto lautet „Deine Entscheidung“ und Mechthild Rothe, Vize-Präsidentin des Parlaments, betont insbesondere die Diversität der EU: „Der Schlüsselfaktor ist es, die Sprache zu sprechen, die von den Menschen gesprochen wird, gerade auch in Bezug auf Gefühle sowie politische und kulturelle Unterschiede der einzelnen Mitgliedstaaten.“

Der Hinweis auf die angemessene Sprache ist durchaus wörtlich zu nehmen. Die Bürgerferne der EU und die nur schwach ausgeprägte europäische Identität werden nicht zuletzt an sprachlichen Barrieren festgemacht. So wirkt die am Dienstag verabschiedete Resolution des Europäischen Parlaments wie ein Weckruf an das europäische Bewusstsein der Bürger: Die Parlamentarier bekennen sich zur Sprachenvielfalt in der EU und fordern einen höheren Stellenwert des Sprachunterrichts an Schulen, jeder Schüler solle zwei Fremdsprachen erlernen.

Es klingt dabei wie ein Treppenwitz, dass am Tag nach der Verabschiedung dieser Resolution ein „Übersetzungsfehler“ (so die offizielle Darstellung) zu einem Eklat im Europäischen Parlament geführt hat. Der geschäftsführende tschechische Ministerpräsident Mirek Topolanek sprach in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament über den Wertpapierhandel der USA mit Bonds (tschechisch: „bondy“), in den Dolmetscherkabinen wurde daraus der Handel mit Waffen (tschechisch: „bomby“). Noch bevor dieses Missverständnis aufgeklärt werden konnte, wurde die auch ansonsten fragwürdige Rede scharf kritisiert. Es zeigt sich, dass Anspruch und Realität in der EU bezüglich der Mehrsprachigkeit noch weit auseinander liegen.

Die Förderung der Mehrsprachigkeit genießt einen hohen Stellenwert in der EU, seit 2007 gibt es einen eigenen EU-Kommissar für dieses Ressort. Der rücksichtsvolle Umgang, gerade mit Minderheiten, gebietet dabei, dass das Thema mit einem großen Maß an kultureller Sensibilität behandelt wird und nicht für Wahlkampfzwecke instrumentalisiert wird. Die jüngste Resolution jedoch war ein solches Politikum: Der Text wurde bei vielen Gegenstimmen letztendlich von einer linken Mehrheit der Parlamentarier angenommen, ein ähnlicher Entwurf aus dem konservativen Lager war kurz zuvor gescheitert. Diese Uneinigkeit über ein an sich unumstrittenes Ziel könnte den Europaskeptikern in die Hände spielen. Für sie ist der Erhalt der nationalen Sprachen eine Kernforderung, der EU stehen sie kritisch gegenüber. Wenn nun gerade diese Gruppierung von den jüngsten Unstimmigkeiten profitieren würde, wäre dies ein Rückschlag für das europäische Projekt.

 

Köhler fordert mehr Rechte für die Wähler – warum eigentlich?

Bundespräsident Horst Köhler hat heute in einer Rede im Rahmen des Festakts „Frankfurt – Weimar – Bonn – Berlin, Deutschlands Weg zur Demokratie“ aus Anlass des 160. Jahrestages der ersten deutschen Verfassung eine Änderung des deutschen Wahlrechts ins Spiel gebracht. In seinem Redemanuskript heißt es:

„Wir sollten auch Änderungen des Wahlrechts diskutieren, die den Wählerinnen und Wählern mehr Einfluss darauf geben, welche Kandidaten auf den Wahllisten der Parteien ein Mandat bekommen – es müssen ja nicht immer nur die sein, die oben stehen.“

Natürlich sind Vorschläge, den Wählern mehr Einfluss zu geben und ihre politischen Einstellungen präziser und detaillierter zu erfassen, grundsätzlich zu begrüßen. Wahlsysteme, die den Wähler die Möglichkeit der „Präferenzstimmgebung“ einräumen,  gehören dazu. Wähler dürfen über die Parteipräferenz hinaus noch bestimmte Kandidaten auswählen.

Solche Systeme gibt es auch in der politischen Praxis schon – sowohl international als auch in Deutschland. Das Wahlsystem, das bei bayrischen Landtagswahlen zum Einsatz kommt, funktioniert in genau dieser Logik: Mit der Erststimme wählen die Bayern einen Direktkandidaten aus ihrem Wahlkreis, mit der Zweitstimme wählen sie einen einzelnen Kandidaten aus den von Parteien angebotenen Listen.

Und wie nutzen die bayrischen Wähler dieses System (das die Bayern übrigens ganz bescheiden als „verbesserte Verhältniswahl“ bezeichnen)? Sie machen von dieser Möglichkeit der Präferenzstimmgebung wenig Gebrauch. Die größten Nutznießer dieses Wahlsystems sind die Kandidaten, die auf Platz 1 der Liste stehen. Faktisch machen die Wähler aus dem kandidatenzentrierten Wahlsystem ein parteizentriertes Wahlsystem, indem die überwiegende Mehrheit von ihnen schlicht den erstbesten Kandidaten auswählt. Weitere Nutznießer sind „Prominente“ auf den Listen.

Warum machen die Wähler das? Sie gehen in effizienter Art und Weise mit dem Wahlsystem um. Viele Kandidaten werden sie nicht kennen (empirische Studien belegen das eindeutig), also nutzen sie einfache Entscheidungsregeln. Dafür ist ihnen überhaupt kein Vorwurf zu machen – nur ob diese Entscheidungsregeln „besser“ sind als die internen Entscheidungsregeln von Parteien, ist zumindest eine diskussionswürdige Frage.

 

Neueste Umfrageergebnisse! Oft nur ein „Rauschen im Wald“?

In einem Bundestagswahljahr haben Umfrageinstitute Hochkonjunktur. Und je näher die Bundestagswahl rückt, desto kürzer werden die Intervalle zwischen den Umfrageveröffentlichungen. Folglich werden im Laufe dieses Jahres immer mehr „Zahlen“ auf dem Markt sein. Seit 1990 haben sich von einer Bundestagswahl zur nächsten die Veröffentlichungen zu und mit Umfrageergebnissen kontinuierlich erhöht. Wie der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider zeigen konnte, leidet mit der steigenden Anzahl solcher Veröffentlichungen allerdings deren formale Qualität. So erfahren wir zwar in fast allen Fällen, welches Institut die Daten erhoben hat, in gerade einmal der Hälfte der Fälle dann noch die Zahl der Befragten und den Erhebungszeitpunkt und viel seltener etwas über die Teilnahmebereitschaft an der Umfrage oder den genauen Fragewortlaut. Auch darüber, wie die „Rohdaten“ zur Veröffentlichung „aufbereitet“ werden, schweigen sich die Umfrageinstitute aus. Und bislang stehen interessierten Wahlforschern – zeitversetzt – nur die Daten des ZDF-Politbarometers (seit 1977), des Forsa-Bus‘ (seit 1993) und in Kürze auch der ARD Deutschland-Trend (zunächst nur für 2008) zur Verfügung.

Wenn es aufgrund von Informationsdefiziten selbst für Wissenschaftler schwierig ist, die Qualität veröffentlichter Umfrageergebnisse einzuschätzen, dann wird eine verantwortungsvolle Interpretation der Daten noch schwieriger. Um es anhand einer qualitativ hochwertigen Umfrage transparent zu machen: Im heutigen Politbarometer verändern sich die Prozentanteile der Parteien in der „politischen Stimmung“ um jeweils einen bis zwei Prozentpunkte. Was steckt dahinter? Es sind Antworten auf die sogenannte Wahlabsichtsfrage: „Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, würden Sie dann zur Wahl gehen? Und welche Partei würden Sie dann wählen?“ Diese wurde jeweils im Rahmen der Politbarometer-Befragungen an drei Tagen, vom 3.-5. und vom 24.-26. März gestellt. Nach den Angaben der Forschungsgruppe Wahlen wurden einmal 1319 und einmal 1245 zufällig ausgewählte Wahlberechtigte telefonisch befragt. Die Veränderungen der Prozentanteile der Parteien ergeben sich durch die unterschiedlichen Anteile der Befragten, die Anfang bzw. Ende März gesagt haben, sie würden diese Partei wählen.

Was sagen uns diese Veränderungen der Antworten auf die Wahlabsichtsfrage? Sie sagen uns wenig. Die gemessenen Veränderungen bewegen sich im Fehlerbereich, das heißt, wenn parallel zu den beiden Befragungen andere Befragungen durchgeführt worden wären, hätten genauso gut Veränderungen der Parteistärken in die jeweils entgegen gesetzte Richtung gemessen werden können (zumal die angegebenen Fehlerbereiche stets vollständige Teilnahme der in diesem Fall angerufenen Wahlberechtigten voraussetzen). Was wir aus den nahezu identischen Messungen der Parteistärken Anfang und Ende März ableiten können, ist das derzeitige Niveau der Stimmungslage für die Parteien. Würden wir mehr über andere Indikatoren der Parteinähe, wie zum Beispiel längerfristige Bindungen, erfahren, dann könnten wir zumindest Aussagen über Parteipotenziale und Mobilisierungsdefizite treffen. Wie die Wahl am 27. September ausgehen wird, lässt sich aber auch mit diesen zusätzlichen Indikatoren derzeit nicht sagen. Erst gegen Ende des Wahlkampfs wird sich zeigen, wie gut die einzelnen Parteien ihre Anhänger und ungebundene Wähler mobilisieren können. Dann werden auch die Umfragen ein realistischerer Indikator für die Parteistärken sein. Für die Zeit bis zur „heißen“ Wahlkampfphase bleibt uns einerseits der systematische Vergleich mit Parteistärken zu identischen Zeitpunkten vor vorangegangenen Wahlen. Andererseits lohnt der Blick auf wissenschaftliche Prognosemodelle, die in der Vergangenheit durch Rückgriff auf verschiedenen Datenquellen selbst Monate vor der Bundestagswahl ein sehr gutes Bild der Parteistärken für den Wahlzeitpunkt ergeben haben.

 

Die wahre Dimension der Arbeitslosigkeit und ihre Folgen

Der jüngste Arbeitsmarktbericht der Bundesagentur für Arbeit weist eine Zahl von rund 3,5 Millionen Arbeitslosen auf – eine Zahl, die einerseits noch immer erschreckend hoch ist, die aber andererseits im Vergleich zu den Höchstständen von über fünf Millionen, die in den ersten Monaten des Jahres 2005 zu verzeichnen waren, noch moderat erscheint.

Die Lage ist dennoch düster – düsterer noch, als diese Zahlen suggerieren:

1) Die Zahl der Menschen, die Kurzarbeitergeld beziehen, ist förmlich explodiert: von 50.000 auf über 400.000. Dies ist aus objektiven wie subjektiven Gründen von zentraler Bedeutung: Objektiv, weil es die Turbulenzen, in denen sich der Arbeitsmarkt aktuell befindet, widerspiegelt und davon auszugehen ist, dass – geschieht nicht ein neues Wirtschaftswunder – aus diesen Kurzarbeitern über kurz oder lang Arbeitslose werden. Subjektiv, weil die Betroffenen durch die Kurzarbeit ein eindeutiges Signal bekommen, dass ihr Arbeitsplatz in Gefahr ist.  Sorge um den Arbeitsplatz ist dabei eine im Vergleich zu tatsächlicher Arbeitslosigkeit nicht minder gewichtige Erfahrung von Arbeitslosigkeit. Aus der Stressforschung etwa ist bekannt, dass die Erwartung eines misslichen Ereignisses mindestens so viel Stress, Unzufriedenheit und Ohnmacht auslöst wie der Eintritt des Ereignisses selbst.

2) Die Zahl von aktuell 3,5 Millionen Arbeitslosen besagt, dass 3,5 Millionen Personenmonate an Arbeitskraft, die im Monat Februar verfügbar gewesen wären, von der deutschen Volkswirtschaft nicht genutzt wurden. In ähnlicher Logik sind auch die Jahresmittel, die die BA vermeldet, zu deuten. Diese Zahlen sagen aber überhaupt nichts darüber aus, wie viele Menschen tatsächlich im Laufe eines Monats oder eines Jahres tatsächlich selbst für einen mehr oder minder langen Zeitraum arbeitslos waren. Arbeitslosigkeit ist ein dynamisches Phänomen. Joseph Schumpeter hat in einem anderen Zusammenhang das Bild eines Bus‘ benutzt, Schumpeter (1985: 170) in anderem Zusammenhang das Bild eines Omnibusses, „der zwar immer besetzt ist, aber von immer anderen Leuten“.  Im Einzelfall sehen die Verweildauern höchst unterschiedlich aus: Manche Leute steigen – um im Schumpeter’schen Bild zu bleiben – früher aus dem Arbeitslosenbus wieder aus als andere, einige steigen häufiger zu, andere nie. Arbeitslosigkeit ist für manche Betroffene nur eine kurze, transitorische Phase, während sie sich für andere zu einem Dauerzustand entwickelt. In der Konsequenz aber bedeutet dies in jedem Fall, dass innerhalb eines Jahres weitaus mehr Menschen Arbeitslosigkeit am eigenen Leib erfahren, als es die in der öffentlichen Diskussion dominierenden Zahlen der amtlichen Statistik nahelegen.

3) Dabei bleibt immer noch unberücksichtigt, dass Menschen auch indirekte Erfahrungen von Arbeitslosigkeit machen können – über den Haushalt oder Freunde und Bekannte. Auf einen Arbeitslosen kommen immer weitere Haushaltsangehörige, die dadurch – wie es Thomas Kieselbach formuliert hat – zu „Opfern-durch-Nähe“ werden. Daten aus den ZDF-Politbarometer-Erhebungen zeigen zudem, dass in Ostdeutschland nahezu jeder im Kreise seiner „Nahestehenden“ Menschen kennt, die arbeitslos sind. Auch in Westdeutschland ist es nahezu jeder Zweite.

Differenzierter betrachtet ist Arbeitslosigkeit bereits heute ein allgegenwärtiges Massenphänomen. Und es ist zu befürchten, dass sich die Situation noch weiter verschlechtern wird. Dass Arbeitslosigkeit in diesem Umfeld das Thema wird, dass – wieder einmal – die bevorstehende Wahl dominieren wird, ist keine kühne Prognose. Die finanziellen Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise mögen bislang an vielen Menschen noch vorbeigegangen sein, Folgen auf dem Arbeitsmarkt spürt nahezu jeder. An ihren Ideen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Abfederung ihrer Folgen werden sich Parteien und Politiker messen lassen müssen.

 

Der Europawahlkampf der FDP: Alter Wein in neuen Schläuchen

Bei der diesjährigen Europawahl setzt die FDP wieder auf Altbewährtes: ihre Spitzenkandidatin Silvana Koch-Merin, mit der es der Partei schon bei der letzten Europawahl im Jahre 2004 gelungen war bei den Wählern zu punkten. Wie heißt es so schön: „never change a winning team“, und so setzt die FDP auch dieses Mal auf das attraktive Konterfei ihrer Kandidatin. Fast alle Wahlplakate ziert ein Foto Koch-Merins, die Europawahlkampfstrategie der Partei ist offensichtlich: Personalisierung. Diese Strategie ist gerade für Europawahlkämpfe fruchtbar, da der Wähler für dieses komplexe und abstrakte politische System in besonderem Maße eine Orientierungshilfe braucht. Wer als Partei Köpfe mit Themen verbindet ermöglicht den Bürgern einen sogenannten „information-shortcut“, d.h. eine Art „Gedächtnisstütze“, da politische Botschaften nachweislich besser wahrgenommen und verarbeitet werden, wenn sie in Verbindung mit Personen vermittelt werden. Dabei sind die europapolitischen Wahlkampfbotschaften der FDP, genau wie die Kandidatin, nicht neu. Wie im letzten Europawahlkampf steht die FDP für Bürokratieabbau und Bürgerrechte, lediglich das Thema „soziale Marktwirtschaft“ hat sich im Schatten der Finanzkrise seinen Platz auf der Wahlkampfagenda erkämpfen können.

Doch nicht alles ist beim alten geblieben. Die FDP setzt wie noch nie auf das Internet als Organisations- und Mobilisierungstool für den Europawahlkampf. Zum Auftakt der Kampagne zur Europawahl hat die FDP ihre Internetplattform „MitMach Arena“ gestartet, in der alle Beteiligungsangebote der Liberalen konzentriert angeboten und mit den communitys im web 2.0 vernetzt werden. Durch diese multimediale Internetplattform erhalten Parteimitglieder und freiwillige Wahlkampfhelfer Informationen zum Wahlkampf, vor allem jedoch wird hier der Wahlkampf von unten, das sogenannte „grassroots-campaigning“ gesteuert. So setzt die FDP explizit auf die Multiplikatoren der internet communitys wie youtube, facebook, xing oder studiVZ. Als angemeldeter Wahlkampfhelfer der Partei kann man sich sogar eine eigene Europawahlkampfhomepage einrichten, wählen kann man zwischen dem Europawahl Paket FDP Homepage Baukasten Classic für 119 € und dem Modell für Fortgeschrittene, dem Europawahl Paket FDP Homepage Baukasten Professionell für 179€. Parteimitglieder und Freiwillige werden aktiv in den Wahlkampf eingebunden, direkte Kommunikation über neue Informations-und Kommunikationstechnologien ist eine der Säulen des FDP Europawahlkampfes. Bundesgeschäftsführer Hans-Jürgen Beerfeltz fasst diese Strategie als „direkten, dezentralen und selbstständigen Wahlkampf“ zusammen und betont die Wichtigkeit des direkten Dialogs mit den Wählern. Aus Sicht der Wahlkampfkommunikationsforschung ist diese Strategie vielversprechend. Fraglich ist nur, ob den Wählern der alte Wein aus diesen neuen Schläuchen auch schmeckt…

 

Mythos Leihstimme?

Evelyn BytzekMit Umfragewerten von mindestens 15% in den letzten beiden Monaten ist es unwahrscheinlich, dass die FDP im kommenden Wahlkampf auf eine Leihstimmenkampagne setzt. Anders als zur Bundestagswahl 1983 wird sie die Wähler wohl nicht mit einem Rechenbeispielen à la

CDU/CSU 47% + FDP 4% = 47% und keine CDU/CSU-Regierung!
CDU/CSU 46% + FDP 5% = 51% und eine CDU/CSU-FDP-Koalition!

beglücken. Auch wenn die FDP bei vergangenen Bundestagswahlen anscheinend erfolgreich mit ihrer Leihstimmenkampagne war (denn warum sonst haben die großen Parteien die Zweitstimme zur Kanzlerstimme erklären lassen?), ist es wissenschaftlich umstritten, ob das Phänomen Leihstimme tatsächlich existiert.

Denn neben dem Wunsch einer schwarz-gelben Regierungskoalition muss ein CDU- oder CSU-Wähler auch den Eindruck gewinnen, dass die FDP ohne seine Hilfe, seiner Zweitstimme, den Einzug in den Bundestag verpasst. Denkt er dagegen, dass die FDP es sicher schafft, schwächt er mit einer Leihstimme für die FDP seine eigentlich präferierte Partei, die CDU/CSU. Und besteht der Eindruck, dass die FDP keine Chance auf den Einzug hat, verschwendet er seine Stimme. Doch dass der Eindruck, der Einzug der FDP stehe auf der Kippe, für die Vergabe einer Leihstimme entscheidend ist, konnte bislang nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden.

Dies kratzt am Bild des strategischen Wählers, der genau weiß, was er will, wie die Chancen dafür stehen und wie er zu seinem Ziel gelangt, auch wenn dafür Umwege, also Leihstimmen, notwendig sind. Die Suche nach diesem Typ Wähler ist oft mühselig und die bevorstehende Bundestagswahl scheint zumindest in Hinblick auf den Mythos „Leihstimmen für die FDP“ kein gutes Terrain abzugeben. Interessant ist dagegen, mit welchen Strategien die FDP versuchen wird, ihr derzeitiges Popularitätshoch zu nutzen, um glaubwürdig einen dritten Kanzlerkandidaten zu inszenieren.