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Demokratie war gestern II, oder: Brüssels Doktor Bibbers

 

Würde die Europäische Union einen Antrag auf Aufnahme in die EU stellen, er dürfte von Brüssel empört abgelehnt werden. Ein System, in dem die Exekutive den Großteil der Gesetze erlässt (siehe den vorausgegangenen Eintrag), widerspricht schließlich den Grundprinzipien der parlamentarischen Demokratie. In einem liberalen Verfassungsstaat haben Gesetze nicht per Ministerabsprache hinter den Kulissen zustande zu kommen, sondern auf der offenen Bühne der Volksvertretung.

Europa indes scheint zu komplex und zu wichtig zu sein, um eben jene Grundsätze im Inneren anzuwenden, die es bannerhaft nach außen trägt.

In dieses Muster passt es, was der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen heute zum Fortgang des Ratifizierungsprozess des Lissabonner Vertrages (ehemals: „Europäische Verfassung“) sagte:

„Eine Kaskade von nationalen Referenden ist die völlig falsche Methode zur Annahme eines Europavertrages. Manchen Befürwortern von nationalen Referenden geht es in Wirklichkeit nicht um Bürgerbeteiligung, sondern um Zerstörung dieser neuen Etappe für die europäische Integration.“

Oder, in den Worten von Aníbal Cavaco Silva, des Staatschefs von Portugal, das sich gestern entschied, das Volk nicht per Referendum über den Lissabonner Vertrag abstimmen zu lassen, weil er etwas gänzlich anderes sei als die Ursprungs-„Verfassung“: „Die Chance des Vertrages von Lissabon zu verschwenden, würde der EU einen extrem hohen Preis abverlangen.“

Eine Bürgerbeteiligung, die sich für weniger europäische Integration (vulgo: weniger Macht für Brüssel) aussprechen würde, wäre also von vornherein keine Bürgerbeteiligung? Das ist ein seltsames Verständnis von Demokratie, trotz aller Gründe aus denen man Volksabstimmungen im Allgemeinen skeptisch gegenüber stehen darf. Doch es steht allzu symptomatisch für die Brüsseler Angst, dass kleinkarierte Bürger ein großartiges Projekt zerstören könnten.
Und ist daran nicht auch etwas Wahres?

Böse Frage:

Funktioniert die Rechtssetzung und die Politik der EU, diese „Geschäftsführerdemokratie“, wie wir sie nennen wollen, vielleicht nicht trotz all ihrer Legimitätsdefizite erstaunlich gut, sondern genau wegen dieser? Eben weil die EU ein Experten- und Elitenprojekt ist und sein muss, das sich vor populären Meinungsströmen hüten sollte?

Immerhin ist doch zu fragen, woran es liegt, dass sich gegen die ach so entkoppelten und wirklichkeitsblinden Brüsseler Expertokraten bis heute noch kein Volksaufstand erhoben hat, sondern allenfalls habituelles Murren.

Zum einen womöglich an einem Umstand, den ich das „Doktor-Bibber-Phänomen“ nennen möchte. Die in den siebziger Jahren geborenen Leser müssten sich an dieses Spiel noch erinnern. Doktor Bibber bestand aus einem auf einer Metallfolie aufgemalten Patienten, dem vermittels einer verdrahteten Pinzette allerlei morsche Knochen oder faule Organe aus kleinen Öffnungen operiert werden mussten. Berührte die Pinzette die Kanten der Öffnungen, trötete der Patient erschreckt, ließ seine rote Knollnase leuchten, und der jeweilige Doktor Bibber war wegen tödlicher Kunstfehler sein Honorar los.

Die Mehrheit der Politiker und Entscheidungsträger in Brüssel sind Doktor Bibbers, sprich: vorsichtige Operateure im besten Sinne. Ihre Generation besteht im Großen und Ganzen aus überzeugten Demokraten. Sie wissen, dass sie im eigenen Interesse alles vermeiden sollten, das ihren Wählern zu sehr wehtut. Denn springt erst mal der Schmerzalarm an (BILD! Glotze! ZEIT-Blogs!) dann wäre ihre Reputation als Lebensverschönerer ganz schnell dahin. Allen bisweilen kurzsichtigen parteipolitischen Interessen, Profilierungssüchten und populistischen Anfälligkeiten zum Trotz läuft bei der großen Mehrheit der Politiker immer auch eine feine Selbstkontrolle mit, die ihre Eingriffe auf Unverträglich- oder Unzumutbarkeiten prüft. Europas Regierende sind auf good governance programmiert. Das ist vielleicht die größte kulturelle Errungenschaft dieses Kontinents. Die demokratische Konsolidiertheit seiner Menschen und Systeme.

Es gibt – gerade in Demokratien – schwach bis gar nicht demokratisch legitimierte Institutionen, denen die Bürger regelmäßig mehr Vertrauen entgegenbringen, als ihren gewählten Vertretern. In Deutschland wären das Bundesverfassungsgericht oder die Bundesbank Beispiele dafür, in anderen europäischen Ländern die Königshäuser, Greenpeace oder das Militär. Für die Akzeptanz von staatlicher Macht scheint es wichtiger zu sein, dass ihre Inhaber Charakterfestigkeit, Sachkenntnis und vernünftige Urteilsfähigkeit beweisen als die Tatsache, dass sie gewählt wurden.

Wie aber wissen Spezialisten-Politiker, wie weit sie gehen dürfen, bevor ihnen die Befähigung zum Amt abgesprochen wird? Woher wissen sie, welche ihrer Ideen und Entscheidungen massenverträglich sind? Volkes Stimmung ist wechselhaft und zu komplex, als dass die Sensoren eines einzelnen ausreichen würde, sich ein verlässliches Lagebild zu verschafften.

Hier kommt ein zweiter Faktor ins Spiel, der die Geschäftsführerdemokratie der EU in interessante Nähe zum modernem Management bugsiert: die Kundenbefragung.

Mehr dazu aber in der nächsten Folge.