Die Welt hat ein neues Großthema. Es heißt nukleare Totalabrüstung. Schon vor zwei Jahren hatten Henry Kissinger und andere amerikanische Elder Statesmen in einem flammenden Artikel für das Wall Street Journal die globale Null-Lösung für Atomwaffen gefordert. Jetzt hat die Debatte das Forum der Münchner Sicherheitskonferenz erreicht. Und damit Breitenaufmerksamkeit gewonnen.
„Unser Zeitalter hat den Göttern das Feuer gestohlen“, beendete ein altersmilder Kissinger seinen in Teilen polit-poetischen Vortrag am Freitagabend im Bayerischen Hof. „Können wir es auf friedliche Zwecke begrenzen, bevor es uns verzehrt?“
Wir müssen, antwortete sogleich der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier. „Ich teile die Vision einer Welt ohne Atomwaffen. Das muss unser Ziel bleiben.“
Sicher, wer wollte widersprechen, wenn Staatsmänner fordern, die tödlichsten aller Waffen abzuschaffen. Gleichwohl, Steinmeier setzte in seiner Rede einen Konsens über das Ziel „Global Zero“ voraus, dessen – formulieren wir es vorsichtig – Selbstverständlichkeit nicht jeder im Publikum teilte. Eine der schärfsten Gegenfragen lautete, ob es „intellektuell redlich“ sei, die nukleare Totalabrüstung zu fordern, und ob es nicht realistischer, vielleicht sogar klüger wäre, das Ziel einer weitgehenden Minimierung von Sprengköpfen anzusteuern.
Tatsächlich sind die Gedankenspiele um „Global Zero“ nicht neu, und ebenso wenig sind es die Einwände gegen dieses Ziel. Nehmen wir drei wichtige Einwände heraus, und nennen sie das Know-How-Problem, das Konventionelle-Kriegs-Problem und das Beweggrund-Problem.
Das Know-How-Problem besteht darin, dass sich – um in Kissingers Bild zu bleiben – das prometheussche Feuer nicht zurückgeben lässt. Nuklearwaffentechnik lässt sich nicht „wegerfinden“, sie ist in der Welt. Hinzu kommt, dass das Know How heute leichter zu bekommen ist als je zuvor. „Die Technik ist aus dem Hut“, merkte in München der Generalsekretär der UN-Atomenergie-Behörde, Mohammed El-Baradei, an. „Sie können heute eine CD-ROM mit einer Bauanleitung für eine Atomwaffe kaufen.“ Hinzu kommt, dass jedenfalls die heutigen Atomwaffenstaaten ihre Herstellungstechnik auch nach einer Totalabrüstung nutzen könnten, um innerhalb kürzester Zeit neue Bomben zu bauen. Der immer breitere Ausbau der zivilen Kernkraft verkürzt zudem in immer mehr Staaten den Abstand zwischen friedlicher und potentieller militärischer Nutzung von Atomtechnik.
Dem Know-How-Problem entgegnen Befürworter der Totalabrüstung, dass es die Menschheit in der Tat noch nie geschafft habe, technische Entwicklungen wieder rückgängig zu machen. Wohl aber sei es ihr möglich gewesen, bestimmte Techniken, welche die Zivilisation in ihrem tatsächlichen oder moralischen Bestand gefährden, zu ächten oder wirksam zu verbieten. „Großangelegte Gaskammern, wie sie Nazi-Deutschland benutzt hat, werden nicht mehr toleriert. Die Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKWs), die ein Loch in der Ozonschicht rissen, wurden mit großem Nutzen verboten und durch andere Stoffe ersetzt“, argumentiert George Perkovich, Vize-Präsident des Carnegie Endowment, und Vordenker von „Global Zero“.
Es sind dies allerdings keine starken Argumente, denn zum einen gab es auch nach dem Zweiten Weltkrieg Beispiele für breit angelegte und systematische „Vernichtungen“ ganzer Gesellschaftsschichten (die gesteuerte Hungerkatastrophe in der Sowjetunion, die Kulturrevolution in China, die Pogrome der Roten Khmer in Kambodscha, die Auslöschung der Tutsi in Ruanda), und zum anderen beeinträchtigte die Abschaffung der FCKW keinerlei nationale Sicherheitsinteressen.
Womit der zweite Einwand gegen eine globale Null-Lösung angesprochen wäre, das Konventionelle-Kriegs-Problem. Kritiker der Totalabrüstung sagen, in einer Welt ohne Atomwaffen sinke die Hemmschwelle zum Einsatz herkömmlicher Waffen. Schließlich werde ein Aggressor nicht mehr von der vollständigen Auslöschung seiner Infrastruktur und seines eigenen Lebens abgeschreckt, er könne Eskalationen vielmehr nach und nach kalkulieren.
Diesen Einwand lässt Henry Kissinger gegen sich gelten. Aber er entgegnet: „Das Risiko, das von der Verbreitung von Atomwaffen an viele verschiedene Staaten ausgeht, wird unkalkulierbar.“ Deshalb müsse die Proliferation schnellstens gestoppt werden. Dies funktioniere aber nur, wenn die klassischen Atommächte (Amerika, Russland, China, Großbritannien, Frankreich) mit Abrüstungsinitiativen vorangingen.
Doch würde nukleare Abrüstung nicht zwangsläugig zu konventioneller Aufrüstung führen? Schließlich würden sich, zöge man Atomwaffen als „große Gleichmacher“ aus der globalen Machtbalance heraus, die Gewichte zugunsten der konventionell übermächtig bewaffneten USA verschieben. China und Russland sähen sich in einer nuklearwaffenfreien Welt vermutlich erst einmal gezwungen, konventionell erheblich aufzurüsten, um wenigstens annähernd mit Amerika gleichziehen zu können.
Der Abrüstungsexperte Perkovich sagt deshalb, eine nuklearen Totalabrüstung müsse mit einem Wandel der globalen Sicherheitsarchitektur einhergehen: „Eine eventuelle Abschaffung von Nuklearwaffen kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie von Veränderungen in den breiten militärischen Beziehungen begleitet wird, welche solche Staaten, die sich jetzt auf nukleare Abschreckung verlassen, davon überzeugen, dass Atomwaffen nicht notwendig sind, um großangelegte Militärinvasionen zu verhindern.“
So breitet Amerika heute einerseits einen nuklearen Schutzschirm über die 23 nicht-atomaren Nato-Staaten, die dann ohne nukleare Abschreckungsoption auskommen müssten. Anderseits bietet Washington anderen Staaten, wie Ägypten, Jordanien und den Golfstaaten lediglich konventionelle militärische Garantien – was aber auch für ein gewisses Maß an Stabilität sorgt.
Dies allerdings führt zum Einwand Nr. 3, dem Beweggrund-Problem. Ließen sich, fragen Skeptiker, aufstrebende Atommächte wie Iran moralisch wohl davon beeindrucken, wenn die alten Weltkriegs-Siegermächte ihre Nukleararsenale vernichteten? Beweggründe für Aufrüstung seien schließlich nicht global, sondern regional zu suchen. Deshalb müsse auch Abrüstung regional ins Werk gesetzt werden. So stapeln Indien und Pakistan Atomrakete auf Atomrakete, weil sie den unberechenbaren Nachbar fürchten. So könnten sich, sobald Amerika abrüstet, Japan und Südkorea gezwungen sehen, ihren eigenen Nuklearschirm gegen befürchtete Angriffe aus China zu spannen.
Und, das für Europa drängendste Problem, versucht der Iran, aus altem Ehrgeiz zu einer Großmacht im Nahen Osten zu werden. Das Regime in Teheran erkennt nicht nur nicht Israels Existenzrecht an, es droht ihm auch offen mit der Auslöschung.
Saudi-Arabien dürfte außerdem nicht tatenlos zusehen, wie der schiitische Iran zum atomaren Hegemon in der Region aufsteigt. „Saudia-Arabiens lange Verbundenheit mit Pakistan legen nahe, dass Riyadh auf einen nuklearen Iran recht kurzfristig reagieren könnte, und zwar eher durch den Ankauf von Atomraketen als durch die Entwicklung eigener Systeme“, glaubt der Global-Zero-Gegner Michael Rühle vom politischen Planungsreferat der Nato in Brüssel. „Jedenfalls wäre Europa, sollte sich der Mittlere Osten nuklearisieren, mit einer Nachbarregion konfrontiert, in der jeder konventionelle Konflikt das Risiko nuklearer Eskalation in sich bürge.“
Den Einwand der regional motivierten Aufrüstung nimmt der Global-Zero-Befürworter Perkovich ernst. Er räumt ein: „Die acht Atomwaffenstaaten werden ein kollektives Verbot von Kernwaffen nicht ins Auge fassen können, solange nicht die Konflikte um Taiwan, Kaschmir, Palästina und (vielleicht) die russische Peripherie gelöst oder zumindest dauerhaft stabilisiert sind.“
Zu dieser Liste sollte man vielleicht noch Nord-Korea hinzunehmen, das seit seinem Kernwaffentest im Oktober 2006 immer lauter mit dem Säbel rasselt. Erst kürzlich drohte das Regime den USA einen „Krieg“ an, sollte Washington nord-koreanische Raketen abfangen. Angesichts solcher Spannungen ist es schwer vorstellbar, dass Japan und Süd-Korea bei ihrer Kernwaffen-Abstinenz bleiben, sollten die USA ihre Raketen verschrotten.
Womit wir dann allerdings wieder bei der Berechtigung von Kissingers Kassandra-Rufen landen; wenn es keinen globalen Druck auf Abrüstung gibt, drohen die Arsenale multipler Player ins Chaotische zu wachsen. Oder, wie es der Polit-Poet Kissinger in München formulierte: „Der Berggipfel mag in Wolken hängen, aber er wird nie in Sicht kommen, wenn wir nicht den ersten Schritt tun.“
Wie könnte der aber aussehen? Perkovich hat einen Vorschlag: „Die internationale Gemeinschaft könnte ihren guten Willen demonstrieren, indem sie die Proliferation von Nuklearwaffen zu einem internationalen Verbrechen macht. Sklaverei, Piraterie und Entführung sind heute schon internationale Verbrechen, die Proliferation ist es nicht.“