„Ich habe noch kein Fahrrad – kann mir jemand eins leihen?“ In wenigen Minuten startet das Rennen, und nun wirft Christian Krämer alias Phaty diese Frage in die Runde. Doch schon kurz danach sitzt er auf dem orangefarbenen Fatbike eines Freundes und fährt vom Sportplatz. Schlaflos im Sattel (SIS) läuft, das Mountainbike-Rennen im Erdbeertal in Weidenthal (Pfalz). Phaty hat die Mountainbiker vor wenigen Augenblicken auf die Piste geschickt, selbst Helm und Licht festgezurrt und ist ohne ein weiteres Wort aufs Rad gestiegen und losgefahren.
Wer ihn sieht, zückt schnell die Smartphone-Kamera, um diesen Moment festzuhalten. „Er fährt ja wirklich“, murmelt noch einer verwundert. Da ist Phaty schon hinter der Kurve verschwunden. Er hat sich das Rennen ausgedacht und organisiert es seit zehn Jahren. In diesem Jahr wollte er zum ersten Mal mitfahren. Sein Handicap: Er geht sonst nur zu Fuß und ist viel zu schwer. Deshalb musste der 46-Jährige in den zurückliegenden Monaten abnehmen und bis zum Sommer Mountainbiker werden. Eigentlich wollte Christian Krämer fitter sein, vielleicht sogar schlanker. Geklappt hat das nicht. Gestartet ist er trotzdem.
Hier bei SIS fing vor einem Jahr alles an. Damals saß er nachts mit Freunden am Rand des Erdbeertals am Lagerfeuer und hörte die Reifen der Mountainbiker sirren, während sie vom Downhill aus dem Wald jagten. Die Nacht war lau, die Stimmung gut. Plötzlich wollte Phaty mitfahren.
Da er sich in der Regel zügig seine Träume erfüllt, brauchte er eine Strategie. Einfach aufs Rad steigen und losfahren, wie ihm viele rieten, konnte er nicht. Was er alles ausprobiert hat, habe ich hier im Blog in einer kleinen Serie festgehalten (Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5).
Schwer, die Gewohnheiten zu ändern
Legt man gängige Maßstäbe an, war Krämer vielleicht nicht sonderlich erfolgreich. Aber was ist normal, wenn jemand übergewichtig ist, nie in seinem Leben Sport getrieben hat und wenn ihm zudem das Leben, das er führt, ziemlich gut gefällt? Die Regale der Buchhandlungen sind voll von Erfolgsgeschichten von Menschen, die sich mit eiserner Disziplin vom dicken Nichtsportler zum Marathoni gekämpft haben. Phaty ist eher der Gegenentwurf. Er leidet nicht gern und vermeidet Schmerzen, wo er kann.
Man muss seine Gewohnheiten ändern, geben die Wissenschaftler jedem Sportanfänger mit auf den Weg. Das machte er. Für Außenstehende eher zögerlich, denn sein Radtraining klappte nicht wie geplant. Stattdessen ging er viel mehr zu Fuß als je zuvor. Aber reicht das für die SIS-Runde, und welche Ansprüche haben die Freunde?
Anfang des Sommers war Phaty mit SIS-Freunden auf Sardinien. Rad fahren, erholen und ein paar Yoga-Einheiten standen auf dem Programm. Antje Künstle, eine befreundete Yogalehrerin, hatte ihm jeden Morgen eine Einheit vor dem Frühstück versprochen. „Mit Esoterikkram kann ich aber nichts anfangen“, hatte Phaty noch betont.
Aber wie viele, die erstmals mit Yoga in Kontakt kommen, merkte er schnell: Yoga ist mehr als sich merkwürdig zu verrenken und „Om“ zu chanten. Besonders die Atemübungen, das bewusste Atmen in den Bauch taten ihn gut – entspannten seinen Kopf und die Organe. Nach dem Frühstück machten sich die Männer regelmäßig auf zu einer großen Radrunde, Phaty fuhr mit den Frauen eine kürzere Tour. Etwa sechs Kilometer auf welligem Terrain reichten ihm. Was die anderen brauchten, um warm zu werden, war für Krämer schon das Tagespensum.
„Ich muss niemandem etwas beweisen“
Als er am letzten Tag rund 35 Kilometer auf dem Rad saß, war Phaty zufrieden – die Freunde waren besorgt. Und erstaunt, wie unfit er noch war. Hier prallten Realitäten aufeinander. Sportler können sich nicht vorstellen, wie schwer manchen Menschen Bewegung fällt. Noch im Winter hatte Phaty gesagt: „Wenn ich 50 Meter stramm gehe, wird mir schlecht.“ Und schon im April ging er in den USA beim Bridge Run zehn Kilometer stramm. Was für ein Erfolg.
Dennoch machten die Freunde sich Sorgen. Schließlich ist die SIS-Runde nicht ohne. Sie befürchteten, dass er sich überfordere, sich zu sehr unter Druck setze, um sein Ziel zu erreichen oder anderen etwas zu beweisen. Phaty war gerührt, als er das hörte, und gab Entwarnung. „Ich muss niemandem etwas beweisen“, sagte er. Was er macht, macht er für sich. Und hier war das Ziel klar: in der SIS-Nacht draußen sein, fahrend, schiebend oder auf dem Tandem.
Tatsächlich schiebt er, als er uns Samstagnacht auf dem Weg zum ersten Streckenposten entgegen kommt. In der Ebene ist er noch gefahren, doch am Beginn der legendären Weidenthaler Wand, einem langen steilen Anstieg, ist er abgestiegen. Er schnauft, aber das tun die anderen auch. Es ist dunkel, die Luft nach dem warmen Regen schwül und schwer.
Es ist erstaunlich, dass Phaty das schafft. Die vergangenen Wochen hat er sich kaum noch bewegt. Nach der Rückkehr von Sardinien musste er beruflich nach Indien. Er wurde krank und musste ins Krankenhaus.
Jetzt steht er mitten in der Nacht am letzten Streckenposten vor dem Downhill. Er hat abgekürzt, Singletrail und Downhill lässt er aus. Stattdessen steht er wie ein Zeremonienmeister mit ausgebreiteten Armen im Schein von gefühlt 100 Kopflampen, die alle in seine Richtung strahlen. „Hopp, hopp, hopp“, weist er die Fahrer in die Abfahrt ein. Kurz zuvor hatte es einen Unfall gegeben, ein Fahrer hatte sich am Arm verletzt. Die nachfolgenden Fahrer wurden sofort angehalten und umgeleitet. Bis der Verletzte versorgt war, ruhte das Rennen. Die Wartenden nutzten die Zeit zum Klönen.
Das ist das besondere an SIS. Wer hier startet, ist entspannt. „Das ist ein Rockfestival“, hatte am Nachmittag ein Teilnehmer gesagt, der zum ersten Mal dabei war. Am Freitagabend hatte die Rockband Schlammbein gespielt, bis morgens um fünf hat der SIS-Neuling gefeiert.
Ein bisschen Rockfestival, ein bisschen Familienfest
Aber das ist nur ein Teil von SIS. Es ist ein bisschen Woodstock, aber es ist auch ein riesengroßes Familienfest, zu dem sich die mountainbikende Wahlfamilie einmal im Jahr versammelt. Unter den Hardcore-Mountainbikern und Singlespeedern, den unzähligen Familien mit ihren Babys und Kleinkindern sind in diesem Jahr auch Phatys Mutter, seine Tante und eine Cousine. Anders als bei vielen Familienfesten wächst die Zeit des Zusammenseins stetig an. Bereits am Donnerstagabend waren 350 Besucher beim traditionellen Abendessen dabei.
Die meisten zelten auf dem Sportplatz und ruhen sich zwischendurch in der Weinlounge aus. Die betreut Maria Bergold von der Weidenthaler Touristeninformation. Sie hat junge Weinstöcke im Zelt verteilt, auf dem Tresen stehen eine Holzkiste mit Mirabellen und den ersten Pflaumen zum Naschen.
Die Mischung wirkt für Außenstehende bizarr, aber das ist SIS. Und das ist Phaty: etwas wild, leicht verrückt, mit einem großen Herz. Jeder freut sich, dass er aufs Rad gestiegen ist. Über den Chicken Trail – eine seichte Abfahrt zum Sportplatz, die parallel zum Downhill verläuft – rollt Phaty in der Nacht zurück zum Weinzelt, zufrieden draußen gewesen zu sein.
„Für mich geht es jetzt erst richtig los“, sagt er. Er will weiter aufs Rad und irgendwann den Trail komplett fahren. 2029 ist das letzte SIS. Dann ist er 62 Jahre alt. Bis dahin hat er noch etwas Zeit.