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„Der Entertainer“

 

Regisseur Christoph Marthaler schuf ein Sozialdrama als tragikomische Nummernrevue, deren Mittelpunkt die Entertainer-Familie Rice ist.

Die Zeit ist über die ehemaligen Music-Hall-Stars hinweggegangen, außer Trinken und Schwadronieren bleibt der Familie Rice nichts mehr. Ihr von neurotischem Selbstbehauptungsdrang getriebenes Leben wechselt zwischen Geisterbahn und schmissiger Musik-Revue, in der allerdings ein Rohrkrepierer den nächsten jagt. Ein dysfunktionaler Betrieb, dargebracht in perfekt getimter, urkomischer Tragik. Darsteller Michael Wittenborn gibt darin den Oberloser und Music-Hall-Charmeur Archie Rice zwischen lakonischem Grandeur und zynischem Stand-up in der Erscheinung eines abgehalfterten Chris Norman. Doch den eigentlichen Kniff des Abends liefert Bühnenbildner Duri Bischoff. Er zeigt den heruntergekommenen Zuschauersaal des ehemaligen Theaters der Familie Rice. Dessen Bühne spiegelt wiederum in einem kleineren Nachbau jenen Zuschauersaal: ein theatraler Desillusionierungsmechanismus wie ein übergroßes Escher-Bild. Dort tummelt sich eine bizarre Truppe von Rice-Zerrbildern im Hartz IV-Look, die das Geschehen in der vorderen Ebene böse kommentieren. Alle zusammen liefern sie ein mitreißendes, vielschichtiges Varieté à la Malaise aus Vaudeville, Zaubershow, Schlagermief und Musical. Regisseur Christoph Marthaler nutzt die Resignation und den Nihilismus der Familie Rice zu einem Blick auf die kontinentaleuropäische Gegenwart. Am Ende des Stücks Der Entertainer lässt er alle Darsteller gemeinsam im besagten Escher-Bild singend die Treppen auf- und absteigen und löst die Grenze zwischen den Ebenen endgültig auf. Es wird klar: Dieser ganze Theatersaal ist ein umnebeltes Hirn, das Nacht für Nacht die abendländische Wirklichkeit als grelle Groteske albträumt. Grausig gut.

Text: Reimar Biedermann