Die nie eingelöste Humanität Europas: Das Thalia Theater zeigt Elfriede Jelineks Flüchtlingsdrama als „sprach- und bildmächtiges Oratorium“.
Man kann Elfriede Jelinek lieben oder hassen. Man kann sie sogar belanglos finden, aber man läuft dann Gefahr, sich aus reinem Unmut in einen gewaltigen Irrtum zu begeben. Denn man kommt nur sehr schwer an ihr vorbei, wenn man sieht, wie massiv sie polarisiert. Wie ihre Themen und ihre Sprache sogar das gediegene hanseatische Theaterpublikum regelmäßig aus der Fassung geraten lassen. Seit das Stück Die Schutzbefohlenen im September 2014 im Thalia Theater uraufgeführt wurde, hat es kein bisschen an Aktualität und Brisanz verloren. Eher im Gegenteil, schrieb es die österreichische Nobelpreisträgerin doch als unmittelbare Reaktion auf die Besetzung einer Wiener Kirche durch Asylsuchende und deren spätere Ausweisung sowie den Tod zahlreicher Flüchtlinge vor Lampedusa wenige Wochen danach. Regisseur Nicolas Stemann inszeniert das Stück – so das Thalia zwar in eigener Sache, aber doch sehr zutreffend – „als sprach- und bildmächtiges Oratorium, das uns in Form und Inhalt mit der Aporie der nie eingelösten Humanität Europas konfrontiert“.
Text: Nik Antoniadis